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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

Dompriesters zu Sciratow ^geboren. Nach Vollendung seiner Studien ward
er als Lehrer am Kadettenkorps in Petersburg angestellt, versah eine Zeit
lang eine Lehrerstelle am Gymnasium seiner Heimat, kehrte jedoch bald nach
Petersburg zurück, wo er anfangs noch in der Kadettenanstalt Stunden gab,
allmählich aber zur Publizistik überging. Er setzt sich nun den Lebenszweck,
seinem Volke zu dienen nach dem Vorbilde Bjelinslys, den Plechanow den
russischen Lessing nennt. Nicht nach dem Beispiele der großen Gelehrten, eines
Leibniz, Newton oder Faraday, die der Wissenschaft im allgemeinen dienten,
will er wirken, sondern sich auf das beschränken, was das Wohl seines Vater¬
landes zu fordern scheint. Auch in der Form nimmt er sich Bjelinsky zum
Vorbild, insofern dieser die stärksten Dinge so fein zu sagen verstanden hatte,
daß ihn die Zensur nicht fassen konnte. Er wurde zuerst Mitarbeiter des
Sowremennik (Zeitgenossen), dann seit 1859 Leiter des politischen Teils dieses
Blattes, den er großenteils allein schrieb, weil sonst die übrigen, sehr un¬
fähigen Mitarbeiter nur dummes Zeug geschrieben hätten. Trotz seines guten
Vorsatzes wurde er doch, wie das die Polemik so mit sich bringt -- und er
handhabte sie als Meister der Ironie mit Lust --, mit der Zeit so radikal,
daß sich fast alle seine guten Freunde von ihm lossagten, unter andern auch
Turgenjew und Herzen. Ihn selbst konnte Turgenjew allenfalls noch leiden,
aber seinen noch schärfern Gehilfen Dobrvljubow gar nicht; Sie, sagte er ihm
öfter, sind eine gewöhnliche Schlange, Dobrvljubow aber ist eine Brillen¬
schlange. In der Philosophie war Tschernischewsky ein Schüler und Anhänger
Feuerbachs, Feind des Dualismus, davon überzeugt, daß der Mensch und seine
Handlungen Erzeugnisse des "Milieu" seien, aber trotzdem mehr Rationalist
als Materialist, indem er der absichtlichen Berechnung einen ungebührlich hohen
Einfluß beimaß und sogar auch den Zufall nicht ausschloß. Als Ästhetiker
gab er eine Definition des Schönen, die einen sehr entwicklungsfähigen Keim
enthält: das Schöne ist das Leben. Seine volkswirtschaftlichen Kenntnisse
schöpfte er vorzugsweise aus John Stuart Mill und Proudhon. Für seine
politischen Ansichten ist besonders folgende Äußerung charakteristisch: "Beiden
Liberalen und den Demokraten find die Wünsche und die leitenden Beweg¬
gründe wesentlich verschieden. Die Demokraten beabsichtigen das Übergewicht
der höhern Klassen über die niedern im Staatsmechanismus möglichst auf¬
zuheben; sie wollen einerseits die Macht und den Reichtum der höhern Klassen
vermindern, andrerseits den niedern Klassen mehr Einfluß und Wohlhabenheit
verschaffen. Auf welchem Wege aber die Gesetze in diesem Sinne zu ändern
sind und die neue Gesellschaftsordnung zu stützen ist, das bleibt ihnen beinahe
ganz gleich. Die Liberalen dagegen werden nie zugeben, daß die niedern Klaffen



Die Rücksicht auf die Zensur nötigte ihn, Demokraten zu schreiben, wo er Sozialisten
meinte.
Der russische Sozialismus

Dompriesters zu Sciratow ^geboren. Nach Vollendung seiner Studien ward
er als Lehrer am Kadettenkorps in Petersburg angestellt, versah eine Zeit
lang eine Lehrerstelle am Gymnasium seiner Heimat, kehrte jedoch bald nach
Petersburg zurück, wo er anfangs noch in der Kadettenanstalt Stunden gab,
allmählich aber zur Publizistik überging. Er setzt sich nun den Lebenszweck,
seinem Volke zu dienen nach dem Vorbilde Bjelinslys, den Plechanow den
russischen Lessing nennt. Nicht nach dem Beispiele der großen Gelehrten, eines
Leibniz, Newton oder Faraday, die der Wissenschaft im allgemeinen dienten,
will er wirken, sondern sich auf das beschränken, was das Wohl seines Vater¬
landes zu fordern scheint. Auch in der Form nimmt er sich Bjelinsky zum
Vorbild, insofern dieser die stärksten Dinge so fein zu sagen verstanden hatte,
daß ihn die Zensur nicht fassen konnte. Er wurde zuerst Mitarbeiter des
Sowremennik (Zeitgenossen), dann seit 1859 Leiter des politischen Teils dieses
Blattes, den er großenteils allein schrieb, weil sonst die übrigen, sehr un¬
fähigen Mitarbeiter nur dummes Zeug geschrieben hätten. Trotz seines guten
Vorsatzes wurde er doch, wie das die Polemik so mit sich bringt — und er
handhabte sie als Meister der Ironie mit Lust —, mit der Zeit so radikal,
daß sich fast alle seine guten Freunde von ihm lossagten, unter andern auch
Turgenjew und Herzen. Ihn selbst konnte Turgenjew allenfalls noch leiden,
aber seinen noch schärfern Gehilfen Dobrvljubow gar nicht; Sie, sagte er ihm
öfter, sind eine gewöhnliche Schlange, Dobrvljubow aber ist eine Brillen¬
schlange. In der Philosophie war Tschernischewsky ein Schüler und Anhänger
Feuerbachs, Feind des Dualismus, davon überzeugt, daß der Mensch und seine
Handlungen Erzeugnisse des „Milieu" seien, aber trotzdem mehr Rationalist
als Materialist, indem er der absichtlichen Berechnung einen ungebührlich hohen
Einfluß beimaß und sogar auch den Zufall nicht ausschloß. Als Ästhetiker
gab er eine Definition des Schönen, die einen sehr entwicklungsfähigen Keim
enthält: das Schöne ist das Leben. Seine volkswirtschaftlichen Kenntnisse
schöpfte er vorzugsweise aus John Stuart Mill und Proudhon. Für seine
politischen Ansichten ist besonders folgende Äußerung charakteristisch: „Beiden
Liberalen und den Demokraten find die Wünsche und die leitenden Beweg¬
gründe wesentlich verschieden. Die Demokraten beabsichtigen das Übergewicht
der höhern Klassen über die niedern im Staatsmechanismus möglichst auf¬
zuheben; sie wollen einerseits die Macht und den Reichtum der höhern Klassen
vermindern, andrerseits den niedern Klassen mehr Einfluß und Wohlhabenheit
verschaffen. Auf welchem Wege aber die Gesetze in diesem Sinne zu ändern
sind und die neue Gesellschaftsordnung zu stützen ist, das bleibt ihnen beinahe
ganz gleich. Die Liberalen dagegen werden nie zugeben, daß die niedern Klaffen



Die Rücksicht auf die Zensur nötigte ihn, Demokraten zu schreiben, wo er Sozialisten
meinte.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/156>, abgerufen am 02.10.2024.