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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

noch zahlreiche kleine Aufstände mit förmlichen Schlachten zwischen Soldaten
und Bauern erlebt hat, von denen wir in Europa nichts erfahren haben.
Solche Aufstände, deren ja das Militär stets Herr wird, hätten nun für eine
despotische Negierung weiter nichts zu bedeuten gehabt, wenn sie nicht zugleich
Anzeichen eines Zustandes gewesen wären, bei dem der Dynastie die Mittel
zur Aufrechterhaltung ihrer Großmachtstellung auszugehen drohten, und gleich¬
zeitig wurde doch auch den europäisch gebildeten Russen der Anblick des bar¬
barischen Zustandes ihres Landes immer unleidlicher. Die Regierung sah sich
gezwungen, Bildungsanstalten zu gründen, zunächst zur Heranbildung eines
den europäischen Verhältnissen einigermaßen entsprechenden Offizierkorps, mit
der Bildung drang die Philosophie ein, Hegel beherrschte die Geister der
dünnen obersten Gesellschaftsschicht, und der ungeheure Widerspruch zwischen
seinem Satze, daß das jeweilen Bestehende vernünftig sei, und der so ganz
unvernünftigen russischen Wirklichkeit drängte für sich allein schon in eine
Richtung hinein, die später, durch den philosophischen Pessimismus verstärkt,
zum Nihilismus führen mußte. Träger der oppositionellen Bewegung wurden
die Nasnotschinzi (Einzahl: Rasnotschinez), die Deklassirten, d. h. die zu keinem
der fünf Stände: Adel, Geistlichkeit, Kaufmannschaft, Bauern und Kleinhand¬
werker gehörten. Sie rekrutireu sich aus den Söhnen der Geistlichen und der
Kaufleute. Während nämlich der Sohn des Adlichen ein Adlicher, der des
Bauern ein Bauer bleibt und von seinem Stande getragen wird, sodnß ihm
die Existenz, wenn anch oft eine recht elende, gesichert ist, hängt es beim Sohn
des Geistlichen von der Berufswahl und beim Kciufmanussohn von der Be¬
zahlung des Gildenscheins ab, ob er im Stande des Vaters bleibt. Fällt er
aus diesem heraus, so ist er auf seiue eignen Füße gestellt und muß nach einem
Staatsamt streben oder sich als Rechtsanwalt, Arzt, Litterat usw. sein Brot
zu verdienen suchen. Nur die Nasnotschinzi sind daher zu jener Regsamkeit
und zur Entwicklung einer solchen Energie gezwungen, wie sie in Westeuropa
schon längst allgemein ist, und die Beaumarchais, den Plechanow sehr passend
(aber sehr ungenau) zitirt, seinen Figaro mit den Worten charakterisiren läßt:
psräu äg.n8 ig, louis odsours, it in'g, lÄlv. äsxlo^ör xlus as sLisnos se as
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vsrnvr tsulss iss L8p^nos. In diesen unruhigen Köpfen entsprangen ebenso
wohl die reformatorischen Ideen wie die Verschwörungen; es wimmelte von
geheimen Gesellschaften, im Dekabristenaufstaude (Dezember 1825), der gegen
die Thronbesteigung des reaktionären Nikolaus (statt des liberale" Konstantin)
gerichtet war, brach die allgemeine Unzufriedenheit gewaltsam hervor, und was
die russische Zensur offen zu sagen nicht gestattete, suchte man verblümt in
Romanen zu sagen; der revolutionäre Puschkin eröffnete die Reihe der großen
russischen Novellisten. In den vierziger Jahren schieden sich die Geister, indem
die Slawophilen in der Erhaltung und Erneuerung des altrussischen Geistes


Der russische Sozialismus

noch zahlreiche kleine Aufstände mit förmlichen Schlachten zwischen Soldaten
und Bauern erlebt hat, von denen wir in Europa nichts erfahren haben.
Solche Aufstände, deren ja das Militär stets Herr wird, hätten nun für eine
despotische Negierung weiter nichts zu bedeuten gehabt, wenn sie nicht zugleich
Anzeichen eines Zustandes gewesen wären, bei dem der Dynastie die Mittel
zur Aufrechterhaltung ihrer Großmachtstellung auszugehen drohten, und gleich¬
zeitig wurde doch auch den europäisch gebildeten Russen der Anblick des bar¬
barischen Zustandes ihres Landes immer unleidlicher. Die Regierung sah sich
gezwungen, Bildungsanstalten zu gründen, zunächst zur Heranbildung eines
den europäischen Verhältnissen einigermaßen entsprechenden Offizierkorps, mit
der Bildung drang die Philosophie ein, Hegel beherrschte die Geister der
dünnen obersten Gesellschaftsschicht, und der ungeheure Widerspruch zwischen
seinem Satze, daß das jeweilen Bestehende vernünftig sei, und der so ganz
unvernünftigen russischen Wirklichkeit drängte für sich allein schon in eine
Richtung hinein, die später, durch den philosophischen Pessimismus verstärkt,
zum Nihilismus führen mußte. Träger der oppositionellen Bewegung wurden
die Nasnotschinzi (Einzahl: Rasnotschinez), die Deklassirten, d. h. die zu keinem
der fünf Stände: Adel, Geistlichkeit, Kaufmannschaft, Bauern und Kleinhand¬
werker gehörten. Sie rekrutireu sich aus den Söhnen der Geistlichen und der
Kaufleute. Während nämlich der Sohn des Adlichen ein Adlicher, der des
Bauern ein Bauer bleibt und von seinem Stande getragen wird, sodnß ihm
die Existenz, wenn anch oft eine recht elende, gesichert ist, hängt es beim Sohn
des Geistlichen von der Berufswahl und beim Kciufmanussohn von der Be¬
zahlung des Gildenscheins ab, ob er im Stande des Vaters bleibt. Fällt er
aus diesem heraus, so ist er auf seiue eignen Füße gestellt und muß nach einem
Staatsamt streben oder sich als Rechtsanwalt, Arzt, Litterat usw. sein Brot
zu verdienen suchen. Nur die Nasnotschinzi sind daher zu jener Regsamkeit
und zur Entwicklung einer solchen Energie gezwungen, wie sie in Westeuropa
schon längst allgemein ist, und die Beaumarchais, den Plechanow sehr passend
(aber sehr ungenau) zitirt, seinen Figaro mit den Worten charakterisiren läßt:
psräu äg.n8 ig, louis odsours, it in'g, lÄlv. äsxlo^ör xlus as sLisnos se as
oslonls xour subsistsr Lsnlsinonl, an'ein n'su g. rils äsxuis höret g.n.8 ü, Mu-
vsrnvr tsulss iss L8p^nos. In diesen unruhigen Köpfen entsprangen ebenso
wohl die reformatorischen Ideen wie die Verschwörungen; es wimmelte von
geheimen Gesellschaften, im Dekabristenaufstaude (Dezember 1825), der gegen
die Thronbesteigung des reaktionären Nikolaus (statt des liberale» Konstantin)
gerichtet war, brach die allgemeine Unzufriedenheit gewaltsam hervor, und was
die russische Zensur offen zu sagen nicht gestattete, suchte man verblümt in
Romanen zu sagen; der revolutionäre Puschkin eröffnete die Reihe der großen
russischen Novellisten. In den vierziger Jahren schieden sich die Geister, indem
die Slawophilen in der Erhaltung und Erneuerung des altrussischen Geistes


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[0154] Der russische Sozialismus noch zahlreiche kleine Aufstände mit förmlichen Schlachten zwischen Soldaten und Bauern erlebt hat, von denen wir in Europa nichts erfahren haben. Solche Aufstände, deren ja das Militär stets Herr wird, hätten nun für eine despotische Negierung weiter nichts zu bedeuten gehabt, wenn sie nicht zugleich Anzeichen eines Zustandes gewesen wären, bei dem der Dynastie die Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Großmachtstellung auszugehen drohten, und gleich¬ zeitig wurde doch auch den europäisch gebildeten Russen der Anblick des bar¬ barischen Zustandes ihres Landes immer unleidlicher. Die Regierung sah sich gezwungen, Bildungsanstalten zu gründen, zunächst zur Heranbildung eines den europäischen Verhältnissen einigermaßen entsprechenden Offizierkorps, mit der Bildung drang die Philosophie ein, Hegel beherrschte die Geister der dünnen obersten Gesellschaftsschicht, und der ungeheure Widerspruch zwischen seinem Satze, daß das jeweilen Bestehende vernünftig sei, und der so ganz unvernünftigen russischen Wirklichkeit drängte für sich allein schon in eine Richtung hinein, die später, durch den philosophischen Pessimismus verstärkt, zum Nihilismus führen mußte. Träger der oppositionellen Bewegung wurden die Nasnotschinzi (Einzahl: Rasnotschinez), die Deklassirten, d. h. die zu keinem der fünf Stände: Adel, Geistlichkeit, Kaufmannschaft, Bauern und Kleinhand¬ werker gehörten. Sie rekrutireu sich aus den Söhnen der Geistlichen und der Kaufleute. Während nämlich der Sohn des Adlichen ein Adlicher, der des Bauern ein Bauer bleibt und von seinem Stande getragen wird, sodnß ihm die Existenz, wenn anch oft eine recht elende, gesichert ist, hängt es beim Sohn des Geistlichen von der Berufswahl und beim Kciufmanussohn von der Be¬ zahlung des Gildenscheins ab, ob er im Stande des Vaters bleibt. Fällt er aus diesem heraus, so ist er auf seiue eignen Füße gestellt und muß nach einem Staatsamt streben oder sich als Rechtsanwalt, Arzt, Litterat usw. sein Brot zu verdienen suchen. Nur die Nasnotschinzi sind daher zu jener Regsamkeit und zur Entwicklung einer solchen Energie gezwungen, wie sie in Westeuropa schon längst allgemein ist, und die Beaumarchais, den Plechanow sehr passend (aber sehr ungenau) zitirt, seinen Figaro mit den Worten charakterisiren läßt: psräu äg.n8 ig, louis odsours, it in'g, lÄlv. äsxlo^ör xlus as sLisnos se as oslonls xour subsistsr Lsnlsinonl, an'ein n'su g. rils äsxuis höret g.n.8 ü, Mu- vsrnvr tsulss iss L8p^nos. In diesen unruhigen Köpfen entsprangen ebenso wohl die reformatorischen Ideen wie die Verschwörungen; es wimmelte von geheimen Gesellschaften, im Dekabristenaufstaude (Dezember 1825), der gegen die Thronbesteigung des reaktionären Nikolaus (statt des liberale» Konstantin) gerichtet war, brach die allgemeine Unzufriedenheit gewaltsam hervor, und was die russische Zensur offen zu sagen nicht gestattete, suchte man verblümt in Romanen zu sagen; der revolutionäre Puschkin eröffnete die Reihe der großen russischen Novellisten. In den vierziger Jahren schieden sich die Geister, indem die Slawophilen in der Erhaltung und Erneuerung des altrussischen Geistes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/154>, abgerufen am 22.07.2024.