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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Beilins

sängerromanzen ein; so wurde aus dem Quell des Volksliedes eine deutsche
Kunst geboren.

Wie in drängenden Frühlingssturm haben die dichtenden Genies die Auf¬
klärung im deutscheu Kunstleben überwunden, gleichzeitig wurde sie auf philo¬
sophischem Gebiet in den Schatten gestellt durch die stille, gewaltige That Kants.
Lessing und Herder, Goethe, Schiller und Jean Paul sind alle in ihrer Weise
durch die Aufklärung hindurchgegangen; von Kant kann man sagen, daß er
von ihr ausgegangen sei. Er knüpft an ihren Wahlspruch an "Habe den
Mut, dich deiner eignen Vernunft zu bedienen" und erfüllt zu dessen Be¬
währung die nächste Aufgabe, indem er die reine Vernunft kritisch untersucht
und ihr dann die sittlichen Gebote der praktischen Vernunft zur Seite stellt.
Vergebens kämpfte der alte Nicolai unter der Fahne des gesunden Menschen¬
verstandes gegen den Kritizismus; gerade in Berlin fand Kant rasch Auf¬
nahme und bereitete so den großen Berliner spekulativen Genies den Boden:
dem deutschen Riesen Fichte, dem starken Vollender des Subjektivismus, und
den beiden Romantikern Schelling und Hegel.

Die Genieperiode hat man wohl einen Vorläufer der Romantik genannt.
In Wahrheit ist aber die Genieperiode die Hauptbewegung, und die Romantik
kann man nur als eine halbwahre Nachzüglerin dazu betrachten. Dieselben
Ideale, die in der Genieperiode mit der ganzen Kraft des Individuums erfaßt
worden waren und darum natürlich und gesund gewirkt haben, wurden später
von gebildeten bürgerlichen Kreisen, namentlich auch Berlins, denen wohl Geist,
aber keine rechte Gesamtkraft des Individuums zur Verfügung stand, mit einer
gewissen geistigen Überlegenheit und Spielerei nochmals aufgenommen und
haben so zu der künstlichen Romantik Tiecks und Wackenroders und der Brüder
Schlegel geführt.

In gesunden bürgerlichen Kreisen Berlins faßte dafür die Geniezeit mit
ihrem Kern Boden, mit dem deutschen Liede. Schon das ganze achtzehnte
Jahrhundert hindurch fand in Berlin unter der instrumentalen Hofmusik eine
bescheidne bürgerliche Musikgattung, das gesellige Lied, vielfach Pflege, nament¬
lich seit Johann Abraham Peter Schulz, der geradezu der Begründer einer
Berliner Liederschule zu heißen verdient. Diese Kunstrichtung entspricht ähn¬
lich wie der Zopfstil und Chodowieckis Bilder der Aufklärungszeit, die Kom¬
ponisten waren nicht um ein musikalisches Nachschaffen der Lieder, sondern nur
um eine schlichte Tonfolie für sie bemüht. In den neunziger Jahren traten
dazu als eine "Opposition gegen die Art, wie die verwelschte und geistig wie
sittlich herabgekommne Hofgesellschaft die Musik trieb und protegirte," unter
dem tüchtigen, derben Zelter die Berliner Singakademie und bald auch die
Liedertafel, der erste deutsche Männergesangverein seit den städtischen Meister¬
singern längst vergangner Tage, er wie einst sie ein Zeichen eines demokra¬
tischen Zeitalters. Das Bewußtsein des eignen Wertes, die Liebe zum Vater-


Grenzboteii I 1896 11
Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Beilins

sängerromanzen ein; so wurde aus dem Quell des Volksliedes eine deutsche
Kunst geboren.

Wie in drängenden Frühlingssturm haben die dichtenden Genies die Auf¬
klärung im deutscheu Kunstleben überwunden, gleichzeitig wurde sie auf philo¬
sophischem Gebiet in den Schatten gestellt durch die stille, gewaltige That Kants.
Lessing und Herder, Goethe, Schiller und Jean Paul sind alle in ihrer Weise
durch die Aufklärung hindurchgegangen; von Kant kann man sagen, daß er
von ihr ausgegangen sei. Er knüpft an ihren Wahlspruch an „Habe den
Mut, dich deiner eignen Vernunft zu bedienen" und erfüllt zu dessen Be¬
währung die nächste Aufgabe, indem er die reine Vernunft kritisch untersucht
und ihr dann die sittlichen Gebote der praktischen Vernunft zur Seite stellt.
Vergebens kämpfte der alte Nicolai unter der Fahne des gesunden Menschen¬
verstandes gegen den Kritizismus; gerade in Berlin fand Kant rasch Auf¬
nahme und bereitete so den großen Berliner spekulativen Genies den Boden:
dem deutschen Riesen Fichte, dem starken Vollender des Subjektivismus, und
den beiden Romantikern Schelling und Hegel.

Die Genieperiode hat man wohl einen Vorläufer der Romantik genannt.
In Wahrheit ist aber die Genieperiode die Hauptbewegung, und die Romantik
kann man nur als eine halbwahre Nachzüglerin dazu betrachten. Dieselben
Ideale, die in der Genieperiode mit der ganzen Kraft des Individuums erfaßt
worden waren und darum natürlich und gesund gewirkt haben, wurden später
von gebildeten bürgerlichen Kreisen, namentlich auch Berlins, denen wohl Geist,
aber keine rechte Gesamtkraft des Individuums zur Verfügung stand, mit einer
gewissen geistigen Überlegenheit und Spielerei nochmals aufgenommen und
haben so zu der künstlichen Romantik Tiecks und Wackenroders und der Brüder
Schlegel geführt.

In gesunden bürgerlichen Kreisen Berlins faßte dafür die Geniezeit mit
ihrem Kern Boden, mit dem deutschen Liede. Schon das ganze achtzehnte
Jahrhundert hindurch fand in Berlin unter der instrumentalen Hofmusik eine
bescheidne bürgerliche Musikgattung, das gesellige Lied, vielfach Pflege, nament¬
lich seit Johann Abraham Peter Schulz, der geradezu der Begründer einer
Berliner Liederschule zu heißen verdient. Diese Kunstrichtung entspricht ähn¬
lich wie der Zopfstil und Chodowieckis Bilder der Aufklärungszeit, die Kom¬
ponisten waren nicht um ein musikalisches Nachschaffen der Lieder, sondern nur
um eine schlichte Tonfolie für sie bemüht. In den neunziger Jahren traten
dazu als eine „Opposition gegen die Art, wie die verwelschte und geistig wie
sittlich herabgekommne Hofgesellschaft die Musik trieb und protegirte," unter
dem tüchtigen, derben Zelter die Berliner Singakademie und bald auch die
Liedertafel, der erste deutsche Männergesangverein seit den städtischen Meister¬
singern längst vergangner Tage, er wie einst sie ein Zeichen eines demokra¬
tischen Zeitalters. Das Bewußtsein des eignen Wertes, die Liebe zum Vater-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/89>, abgerufen am 01.09.2024.