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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats

die evangelisch getauft sind, vollständig entkirchlicht und von dein stärksten
Mißtrauen gegen die Geistlichkeit erfüllt ist, und zu dieser großen Masse ge¬
hören nicht bloß Sozialdemokraten! Diese Stimmung ist auch psychologisch
ganz begründet. Die Bevölkerung ist heute in zwei Teile gespalten, der Riß
ist tief, und die Geistlichen stehen für den größten Teil ihrer Gemeinden
jenseits des Risses, auf der Seite der sozial besser Gestellten, vielleicht nicht
mit ihren Sympathien, aber doch thatsächlich, und die Thatsache ist eine Macht.
Nun kommt ein Geistlicher zu einem Armen. Womit? Mit Reden und noch
dazu frommen, d. h. Reden, die ihrer Natur nach stark nach Ermahnungen
schmecken. Bloßes Reden aber, nichts als Reden, erweckt Mißtrauen, frommes
Reden erst recht, und nun vollends, wenn es den Anschein hat, im Dienste
der andern Partei zu stehen! Und wie selten hat der Geistliche Gelegenheit,
in der Arbeit am Einzelnen dieses Mißtrauen zu überwinden! Der Ober¬
kirchenrat weist auf die Seelsorge hin. Ja, das ist ja gerade der Punkt, um
den sich der Streit dreht. Wie kommst du denn an die Seele des kleinen
Mannes heran, der dir mit Mißtrauen begegnet, oder vielmehr, wie kommst
du Einzelner an die vielen tausend mißtrauischen Seelen? Ich bezweifle, daß
dies schon einem der Herren des Oberkirchenrath gelungen ist. Durch Predigen
kommt man nicht an die Masse, sondern dadurch, daß man sich lebendig ihrer
berechtigten Interessen annimmt, durch soziale Thätigkeit, sei es im großen
oder im kleinen. Wer da nicht einsetzt, bringt weder als Pastor noch als
Prediger Früchte, er ist überflüssig, ein Parasit, nicht schlechter, aber auch
nicht besser als die andern Parasiten. Selbstverständlich richten sich die Mittel
nach der Art der sozialen Not. Wer Unter schneiden will, nimmt ein Messer
zur Hand und keine Axt; aber ein Thor ist der, der den Baum mit dem
Taschenmesser fällen will. Unter einfachen Verhältnissen in kleinen Gemeinden
mögen die Mittel ausreichen, die bisher ausgereicht haben. Aber man denke
an unsre Riesengemeinden, an die Verhältnisse in Industriestädten, und dann
lese man, was der Oberkirchenrat schreibt: "Gelingt es den Geistlichen, durch
treue, den Einzelnen nachgebende Seelsorge, durch liebevolle Bewahrung der
Jugend, sonderlich der konsirmirten Jngend, durch Ausgestaltung einer alle
Hilfsbedürftigen umfassenden Gemeindepflege, unter Umständen auch durch
Pflege einer die verschiednen Kreise der Gemeinde verbindenden edeln Gesellig¬
keit bei den begüterten Klassen den Gewissen einzuprägen, daß Reichtum, Bil¬
dung und Ansehen nur anvertraute Güter sind, die sie zum Besten ihrer Mit¬
menschen zu verwalten haben seie Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube!^, die unter dem Druck des Lebens stehenden Klaffen aber zu über¬
zeugen, daß Wohlfahrt und Zufriedenheit auf gläubiger Einfügung in Gottes
Weltregierung, auf tüchtiger, ehrlicher Arbeit und Sparsamkeit, sowie auf ge¬
wissenhafter Fürsorge für das heranwachsende Geschlecht beruhen, daß dagegen
Neid und das Gelüste nach des Nächsten Gut dem göttlichen Gebot zuwider


Das Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats

die evangelisch getauft sind, vollständig entkirchlicht und von dein stärksten
Mißtrauen gegen die Geistlichkeit erfüllt ist, und zu dieser großen Masse ge¬
hören nicht bloß Sozialdemokraten! Diese Stimmung ist auch psychologisch
ganz begründet. Die Bevölkerung ist heute in zwei Teile gespalten, der Riß
ist tief, und die Geistlichen stehen für den größten Teil ihrer Gemeinden
jenseits des Risses, auf der Seite der sozial besser Gestellten, vielleicht nicht
mit ihren Sympathien, aber doch thatsächlich, und die Thatsache ist eine Macht.
Nun kommt ein Geistlicher zu einem Armen. Womit? Mit Reden und noch
dazu frommen, d. h. Reden, die ihrer Natur nach stark nach Ermahnungen
schmecken. Bloßes Reden aber, nichts als Reden, erweckt Mißtrauen, frommes
Reden erst recht, und nun vollends, wenn es den Anschein hat, im Dienste
der andern Partei zu stehen! Und wie selten hat der Geistliche Gelegenheit,
in der Arbeit am Einzelnen dieses Mißtrauen zu überwinden! Der Ober¬
kirchenrat weist auf die Seelsorge hin. Ja, das ist ja gerade der Punkt, um
den sich der Streit dreht. Wie kommst du denn an die Seele des kleinen
Mannes heran, der dir mit Mißtrauen begegnet, oder vielmehr, wie kommst
du Einzelner an die vielen tausend mißtrauischen Seelen? Ich bezweifle, daß
dies schon einem der Herren des Oberkirchenrath gelungen ist. Durch Predigen
kommt man nicht an die Masse, sondern dadurch, daß man sich lebendig ihrer
berechtigten Interessen annimmt, durch soziale Thätigkeit, sei es im großen
oder im kleinen. Wer da nicht einsetzt, bringt weder als Pastor noch als
Prediger Früchte, er ist überflüssig, ein Parasit, nicht schlechter, aber auch
nicht besser als die andern Parasiten. Selbstverständlich richten sich die Mittel
nach der Art der sozialen Not. Wer Unter schneiden will, nimmt ein Messer
zur Hand und keine Axt; aber ein Thor ist der, der den Baum mit dem
Taschenmesser fällen will. Unter einfachen Verhältnissen in kleinen Gemeinden
mögen die Mittel ausreichen, die bisher ausgereicht haben. Aber man denke
an unsre Riesengemeinden, an die Verhältnisse in Industriestädten, und dann
lese man, was der Oberkirchenrat schreibt: „Gelingt es den Geistlichen, durch
treue, den Einzelnen nachgebende Seelsorge, durch liebevolle Bewahrung der
Jugend, sonderlich der konsirmirten Jngend, durch Ausgestaltung einer alle
Hilfsbedürftigen umfassenden Gemeindepflege, unter Umständen auch durch
Pflege einer die verschiednen Kreise der Gemeinde verbindenden edeln Gesellig¬
keit bei den begüterten Klassen den Gewissen einzuprägen, daß Reichtum, Bil¬
dung und Ansehen nur anvertraute Güter sind, die sie zum Besten ihrer Mit¬
menschen zu verwalten haben seie Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube!^, die unter dem Druck des Lebens stehenden Klaffen aber zu über¬
zeugen, daß Wohlfahrt und Zufriedenheit auf gläubiger Einfügung in Gottes
Weltregierung, auf tüchtiger, ehrlicher Arbeit und Sparsamkeit, sowie auf ge¬
wissenhafter Fürsorge für das heranwachsende Geschlecht beruhen, daß dagegen
Neid und das Gelüste nach des Nächsten Gut dem göttlichen Gebot zuwider


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/70>, abgerufen am 01.09.2024.