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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Weihnachtsgeschenk des preußischen Gberkirchenrats

sind, so tragen dieselben viel zur Hebung der sozialen Not usw. bei."
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klassisch nach Inhalt und Form: "Gelingt es den Geistlichen!" Es gelingt
ihnen eben nicht! Denn erstens ist die Einzelseelsorge, da wo die Not am
größten ist, unmöglich, zweitens ist die Bewahrung der Jugend unmöglich,
denn die Geistlichkeit hat die Jugend nicht in der Hand, drittens kann die
Gemeindepflege nicht alle Hilfsbedürftigen umfassen (sonst wäre ja die Lösung
der sozialen Frage höchst einfach), viertens glauben vielleicht manche Reichen
daran, daß ihr Reichtum anvertrautes Gut ist, aber darnach zu Handel" über¬
steigt das Mittelmaß menschlicher Kräfte, fünftens fällt es dem Armen viel
schwerer als den Herren des Oberkirchenrath, an Gottes Weltregierung zu
glaube", Sechstens stammt die soziale Unzufriedenheit durchaus nicht in erster
Linie aus Neid und "Gelüste" nach des Nächsten Gut, sondern sie hat ihre
höchst berechtigten Ursachen. Man giebt also für die Lösung schwieriger Auf¬
gaben unzulängliche, ja unbrauchbare Mittel an die Hand, setzt das Gelingen
dieser Lösung mit diesen Mitteln voraus, macht aus alledem einen langen Satz
und -- hat eiuen wichtigen Veitrag zur Lösung der sozialen Frage geliefert.
Nein, diese Aufgaben müssen mit ganz andern Mitteln gelöst werden, und unsre
sozialen Geistlichen sind auf dem richtigen Wege, wenn sie, selbstverständlich
ohne ihre geistliche Fürsorge außer Acht zu lassen, die sozialen Nöte des kleinen
Mannes erst verstehen lernen und dann auch den guten Willen zeigen, sich an
der Heilung des Schadens durch soziale Hilfe zu beteiligen. So erwerben sie
sich Vertrauen, und säen sie dann Gottes Wort, so werden sie auch reiche Frucht
ernten. Darum kann die Bahn der sozialen Arbeit gar nicht früh genug be¬
treten werden, und die Thätigkeit des Oberkirchenrath muß um so mehr ver¬
urteilt werde", wenn sie sich, wie der Erlaß ebenfalls andeutet, gar noch
darauf richtet, das soziale Streben der Studenten und Kandidaten der Theologie
zu unterbinden. Ob es gelingt? Ich glaube, es werden mit mir viele der
Meinung sein, daß die evangelischen Geistlichen sozial sein müssen, oder -- sie
werden nicht sein, und unsre Kirche stürzt in den Abgrund der Bedeutungs¬
losigkeit und verfehlt ihre weltgeschichtliche Aufgabe.

Was will es dem gegenüber besagen, wenn wirklich einzelne Geistliche zu
viel Zeit auf Reisen zu "Versammlungen, Kongressen, Kursen" verwenden?
Es soll auch unter den "besonnenen" Geistlichen manche geben, die viel reisen
und ihre sonntäglichen Amtsgeschäfte durch Amtsbruder oder Küster besorgen
lassen. Und dann habe ich gefunden, daß Geistliche auf dem Lande viel zu
leicht verbauern und versäuern, denen schadet das Reisen gewiß nichts. Was
übrigens die "Kurse" betrifft, so hat meines Wissens bisher immer der Grundsatz
gegolten, daß der Mensch nie zu viel lernen kann, auch der Geistliche nicht,
im Gegenteil. Es wird auch behauptet, die soziale Thätigkeit hindre die innere
Sammlung. Was heißt das? Ich gestehe, daß ich im Laufe der Zeit betreffs


Das Weihnachtsgeschenk des preußischen Gberkirchenrats

sind, so tragen dieselben viel zur Hebung der sozialen Not usw. bei."
I)M<zilö «se 8atirg,in von sorivsrs. Eine geradezu klassische Voraussetzung,
klassisch nach Inhalt und Form: „Gelingt es den Geistlichen!" Es gelingt
ihnen eben nicht! Denn erstens ist die Einzelseelsorge, da wo die Not am
größten ist, unmöglich, zweitens ist die Bewahrung der Jugend unmöglich,
denn die Geistlichkeit hat die Jugend nicht in der Hand, drittens kann die
Gemeindepflege nicht alle Hilfsbedürftigen umfassen (sonst wäre ja die Lösung
der sozialen Frage höchst einfach), viertens glauben vielleicht manche Reichen
daran, daß ihr Reichtum anvertrautes Gut ist, aber darnach zu Handel» über¬
steigt das Mittelmaß menschlicher Kräfte, fünftens fällt es dem Armen viel
schwerer als den Herren des Oberkirchenrath, an Gottes Weltregierung zu
glaube», Sechstens stammt die soziale Unzufriedenheit durchaus nicht in erster
Linie aus Neid und „Gelüste" nach des Nächsten Gut, sondern sie hat ihre
höchst berechtigten Ursachen. Man giebt also für die Lösung schwieriger Auf¬
gaben unzulängliche, ja unbrauchbare Mittel an die Hand, setzt das Gelingen
dieser Lösung mit diesen Mitteln voraus, macht aus alledem einen langen Satz
und — hat eiuen wichtigen Veitrag zur Lösung der sozialen Frage geliefert.
Nein, diese Aufgaben müssen mit ganz andern Mitteln gelöst werden, und unsre
sozialen Geistlichen sind auf dem richtigen Wege, wenn sie, selbstverständlich
ohne ihre geistliche Fürsorge außer Acht zu lassen, die sozialen Nöte des kleinen
Mannes erst verstehen lernen und dann auch den guten Willen zeigen, sich an
der Heilung des Schadens durch soziale Hilfe zu beteiligen. So erwerben sie
sich Vertrauen, und säen sie dann Gottes Wort, so werden sie auch reiche Frucht
ernten. Darum kann die Bahn der sozialen Arbeit gar nicht früh genug be¬
treten werden, und die Thätigkeit des Oberkirchenrath muß um so mehr ver¬
urteilt werde«, wenn sie sich, wie der Erlaß ebenfalls andeutet, gar noch
darauf richtet, das soziale Streben der Studenten und Kandidaten der Theologie
zu unterbinden. Ob es gelingt? Ich glaube, es werden mit mir viele der
Meinung sein, daß die evangelischen Geistlichen sozial sein müssen, oder — sie
werden nicht sein, und unsre Kirche stürzt in den Abgrund der Bedeutungs¬
losigkeit und verfehlt ihre weltgeschichtliche Aufgabe.

Was will es dem gegenüber besagen, wenn wirklich einzelne Geistliche zu
viel Zeit auf Reisen zu „Versammlungen, Kongressen, Kursen" verwenden?
Es soll auch unter den „besonnenen" Geistlichen manche geben, die viel reisen
und ihre sonntäglichen Amtsgeschäfte durch Amtsbruder oder Küster besorgen
lassen. Und dann habe ich gefunden, daß Geistliche auf dem Lande viel zu
leicht verbauern und versäuern, denen schadet das Reisen gewiß nichts. Was
übrigens die „Kurse" betrifft, so hat meines Wissens bisher immer der Grundsatz
gegolten, daß der Mensch nie zu viel lernen kann, auch der Geistliche nicht,
im Gegenteil. Es wird auch behauptet, die soziale Thätigkeit hindre die innere
Sammlung. Was heißt das? Ich gestehe, daß ich im Laufe der Zeit betreffs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/71>, abgerufen am 01.09.2024.