Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
pas Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats

Erlaß kein Hemmnis sein; es ist nur zu bedauern, daß die vom Staat und
den Herren des grünen Tisches gefesselte Kirche Gefahr läuft, bis an den
Rand des Abgrunds geschleift zu werden, und daß wir an der Kette der
Verfassung mitgezogen werden. Doch genug davou!

"Wir haben zu unsrer Befriedigung die Überzeugung gewonnen, daß in
der Haltung der weitaus überwiegenden Mehrzahl unsrer Geistlichen diejenige
Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geist¬
lichen Standes erheischt, und welche für eine gedeihliche Ausübung des Pfarr¬
amts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist." So ist zu lesen im
Eingange des Erlasses. Wir haben dagegen leider die Überzeugung gewonnen,
daß diese Besonnenheit unsrer Geistlichkeit nur allzuhäufig die Gestalt der
Bequemlichkeit, des äolos tar mismo, angenommen hat, bei der wohl eine ge¬
wisse äußerliche Würdigkeit, aber nicht die innere Würde gewahrt wird, daß
ferner diese "Besonnenheit" -- ich meine diese zu große Besonnenheit, die sich
nur bei Kasualien und Predigten amtlich kund giebt -- alles andre eher als eine
fruchtbare Ausübung des Pfarramts gewährleistet, und daß endlich der Friede,
der unter dem Regiments solcher Besonnenheit gedeiht, ein fauler Friede ist.

"Einstimmig ist jedoch zugleich bezeugt worden, daß auch die Kreise
der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Inter¬
esse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung >also doch Reform¬
bewegung !^ auf wirtschaftlichem Gebiete, und daß die an einzelnen Stellen
vorgekommenen Ausschreitungen ^wo?^ einen gewissermaßen symptomatischen
Charakter haben." Gott sei Dank, daß diese "Ausschreitungen" einen sympto¬
matischen Charakter haben, und nicht bloß "gewissermaßen," sondern wirklich
und wahrhaftig! Gott sei Dank, daß es sich endlich regt, daß sich die evan¬
gelische Geistlichkeit auf ihre Aufgabe besonnen hat, nämlich Lehrer, Räder und
Helfer des Volks zu sein! Gewiß, das letzte Ziel der geistlichen Thätigkeit ist
ohne Zweifel die Vannung der seelischen Not. Aber dazu ist vor allem das Ver¬
trauen des Volks nötig. Vertrauen aber entsteht nicht aus der bloßen Predigt
oder der Spendung der Sakramente, sondern die willige Hinnahme beider setzt
Vertrauen voraus. Schon wer gläubig zur Predigt kommt, nimmt oft nicht viel
mit hinweg, und ließe sich die Wirkung der Predigt auf innerlich Widerstrebende
in Gewicht und Zahl ausdrücken, so dürfte man jährlich vielleicht in der Welt
ein paar Pfündlein herausrechnen können. Nun denke man erst an alle die,
die überhaupt nicht kommen. Der Oberkirchenrat geht, in völliger Verkennung
der Wirklichkeit, von der unbegründeten Voraussetzung aus, es herrsche in den
Gemeinden Vertrauen gegen die Geistlichen, und er fürchtet, dieses Vertrauen
könne durch die soziale Thätigkeit der Geistlichen geschädigt werden. Im
Gegenteil: dieses Vertrauen besteht nicht, aber wir hofften, es würde durch
diese Thätigkeit erworben werden. Oder was versteht der Oberkirchenrat unter
Gemeinden? Es ist doch eine bekannte Thatsache, daß die große Masse derer,


pas Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats

Erlaß kein Hemmnis sein; es ist nur zu bedauern, daß die vom Staat und
den Herren des grünen Tisches gefesselte Kirche Gefahr läuft, bis an den
Rand des Abgrunds geschleift zu werden, und daß wir an der Kette der
Verfassung mitgezogen werden. Doch genug davou!

„Wir haben zu unsrer Befriedigung die Überzeugung gewonnen, daß in
der Haltung der weitaus überwiegenden Mehrzahl unsrer Geistlichen diejenige
Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geist¬
lichen Standes erheischt, und welche für eine gedeihliche Ausübung des Pfarr¬
amts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist." So ist zu lesen im
Eingange des Erlasses. Wir haben dagegen leider die Überzeugung gewonnen,
daß diese Besonnenheit unsrer Geistlichkeit nur allzuhäufig die Gestalt der
Bequemlichkeit, des äolos tar mismo, angenommen hat, bei der wohl eine ge¬
wisse äußerliche Würdigkeit, aber nicht die innere Würde gewahrt wird, daß
ferner diese „Besonnenheit" — ich meine diese zu große Besonnenheit, die sich
nur bei Kasualien und Predigten amtlich kund giebt — alles andre eher als eine
fruchtbare Ausübung des Pfarramts gewährleistet, und daß endlich der Friede,
der unter dem Regiments solcher Besonnenheit gedeiht, ein fauler Friede ist.

„Einstimmig ist jedoch zugleich bezeugt worden, daß auch die Kreise
der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Inter¬
esse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung >also doch Reform¬
bewegung !^ auf wirtschaftlichem Gebiete, und daß die an einzelnen Stellen
vorgekommenen Ausschreitungen ^wo?^ einen gewissermaßen symptomatischen
Charakter haben." Gott sei Dank, daß diese „Ausschreitungen" einen sympto¬
matischen Charakter haben, und nicht bloß „gewissermaßen," sondern wirklich
und wahrhaftig! Gott sei Dank, daß es sich endlich regt, daß sich die evan¬
gelische Geistlichkeit auf ihre Aufgabe besonnen hat, nämlich Lehrer, Räder und
Helfer des Volks zu sein! Gewiß, das letzte Ziel der geistlichen Thätigkeit ist
ohne Zweifel die Vannung der seelischen Not. Aber dazu ist vor allem das Ver¬
trauen des Volks nötig. Vertrauen aber entsteht nicht aus der bloßen Predigt
oder der Spendung der Sakramente, sondern die willige Hinnahme beider setzt
Vertrauen voraus. Schon wer gläubig zur Predigt kommt, nimmt oft nicht viel
mit hinweg, und ließe sich die Wirkung der Predigt auf innerlich Widerstrebende
in Gewicht und Zahl ausdrücken, so dürfte man jährlich vielleicht in der Welt
ein paar Pfündlein herausrechnen können. Nun denke man erst an alle die,
die überhaupt nicht kommen. Der Oberkirchenrat geht, in völliger Verkennung
der Wirklichkeit, von der unbegründeten Voraussetzung aus, es herrsche in den
Gemeinden Vertrauen gegen die Geistlichen, und er fürchtet, dieses Vertrauen
könne durch die soziale Thätigkeit der Geistlichen geschädigt werden. Im
Gegenteil: dieses Vertrauen besteht nicht, aber wir hofften, es würde durch
diese Thätigkeit erworben werden. Oder was versteht der Oberkirchenrat unter
Gemeinden? Es ist doch eine bekannte Thatsache, daß die große Masse derer,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221715"/>
          <fw type="header" place="top"> pas Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_183" prev="#ID_182"> Erlaß kein Hemmnis sein; es ist nur zu bedauern, daß die vom Staat und<lb/>
den Herren des grünen Tisches gefesselte Kirche Gefahr läuft, bis an den<lb/>
Rand des Abgrunds geschleift zu werden, und daß wir an der Kette der<lb/>
Verfassung mitgezogen werden.  Doch genug davou!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_184"> &#x201E;Wir haben zu unsrer Befriedigung die Überzeugung gewonnen, daß in<lb/>
der Haltung der weitaus überwiegenden Mehrzahl unsrer Geistlichen diejenige<lb/>
Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geist¬<lb/>
lichen Standes erheischt, und welche für eine gedeihliche Ausübung des Pfarr¬<lb/>
amts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist." So ist zu lesen im<lb/>
Eingange des Erlasses. Wir haben dagegen leider die Überzeugung gewonnen,<lb/>
daß diese Besonnenheit unsrer Geistlichkeit nur allzuhäufig die Gestalt der<lb/>
Bequemlichkeit, des äolos tar mismo, angenommen hat, bei der wohl eine ge¬<lb/>
wisse äußerliche Würdigkeit, aber nicht die innere Würde gewahrt wird, daß<lb/>
ferner diese &#x201E;Besonnenheit" &#x2014; ich meine diese zu große Besonnenheit, die sich<lb/>
nur bei Kasualien und Predigten amtlich kund giebt &#x2014; alles andre eher als eine<lb/>
fruchtbare Ausübung des Pfarramts gewährleistet, und daß endlich der Friede,<lb/>
der unter dem Regiments solcher Besonnenheit gedeiht, ein fauler Friede ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_185" next="#ID_186"> &#x201E;Einstimmig ist jedoch zugleich bezeugt worden, daß auch die Kreise<lb/>
der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Inter¬<lb/>
esse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung &gt;also doch Reform¬<lb/>
bewegung !^ auf wirtschaftlichem Gebiete, und daß die an einzelnen Stellen<lb/>
vorgekommenen Ausschreitungen ^wo?^ einen gewissermaßen symptomatischen<lb/>
Charakter haben." Gott sei Dank, daß diese &#x201E;Ausschreitungen" einen sympto¬<lb/>
matischen Charakter haben, und nicht bloß &#x201E;gewissermaßen," sondern wirklich<lb/>
und wahrhaftig! Gott sei Dank, daß es sich endlich regt, daß sich die evan¬<lb/>
gelische Geistlichkeit auf ihre Aufgabe besonnen hat, nämlich Lehrer, Räder und<lb/>
Helfer des Volks zu sein! Gewiß, das letzte Ziel der geistlichen Thätigkeit ist<lb/>
ohne Zweifel die Vannung der seelischen Not. Aber dazu ist vor allem das Ver¬<lb/>
trauen des Volks nötig. Vertrauen aber entsteht nicht aus der bloßen Predigt<lb/>
oder der Spendung der Sakramente, sondern die willige Hinnahme beider setzt<lb/>
Vertrauen voraus. Schon wer gläubig zur Predigt kommt, nimmt oft nicht viel<lb/>
mit hinweg, und ließe sich die Wirkung der Predigt auf innerlich Widerstrebende<lb/>
in Gewicht und Zahl ausdrücken, so dürfte man jährlich vielleicht in der Welt<lb/>
ein paar Pfündlein herausrechnen können. Nun denke man erst an alle die,<lb/>
die überhaupt nicht kommen. Der Oberkirchenrat geht, in völliger Verkennung<lb/>
der Wirklichkeit, von der unbegründeten Voraussetzung aus, es herrsche in den<lb/>
Gemeinden Vertrauen gegen die Geistlichen, und er fürchtet, dieses Vertrauen<lb/>
könne durch die soziale Thätigkeit der Geistlichen geschädigt werden. Im<lb/>
Gegenteil: dieses Vertrauen besteht nicht, aber wir hofften, es würde durch<lb/>
diese Thätigkeit erworben werden. Oder was versteht der Oberkirchenrat unter<lb/>
Gemeinden? Es ist doch eine bekannte Thatsache, daß die große Masse derer,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] pas Weihnachtsgeschenk des preußischen Vberkirchenrats Erlaß kein Hemmnis sein; es ist nur zu bedauern, daß die vom Staat und den Herren des grünen Tisches gefesselte Kirche Gefahr läuft, bis an den Rand des Abgrunds geschleift zu werden, und daß wir an der Kette der Verfassung mitgezogen werden. Doch genug davou! „Wir haben zu unsrer Befriedigung die Überzeugung gewonnen, daß in der Haltung der weitaus überwiegenden Mehrzahl unsrer Geistlichen diejenige Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geist¬ lichen Standes erheischt, und welche für eine gedeihliche Ausübung des Pfarr¬ amts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist." So ist zu lesen im Eingange des Erlasses. Wir haben dagegen leider die Überzeugung gewonnen, daß diese Besonnenheit unsrer Geistlichkeit nur allzuhäufig die Gestalt der Bequemlichkeit, des äolos tar mismo, angenommen hat, bei der wohl eine ge¬ wisse äußerliche Würdigkeit, aber nicht die innere Würde gewahrt wird, daß ferner diese „Besonnenheit" — ich meine diese zu große Besonnenheit, die sich nur bei Kasualien und Predigten amtlich kund giebt — alles andre eher als eine fruchtbare Ausübung des Pfarramts gewährleistet, und daß endlich der Friede, der unter dem Regiments solcher Besonnenheit gedeiht, ein fauler Friede ist. „Einstimmig ist jedoch zugleich bezeugt worden, daß auch die Kreise der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Inter¬ esse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung >also doch Reform¬ bewegung !^ auf wirtschaftlichem Gebiete, und daß die an einzelnen Stellen vorgekommenen Ausschreitungen ^wo?^ einen gewissermaßen symptomatischen Charakter haben." Gott sei Dank, daß diese „Ausschreitungen" einen sympto¬ matischen Charakter haben, und nicht bloß „gewissermaßen," sondern wirklich und wahrhaftig! Gott sei Dank, daß es sich endlich regt, daß sich die evan¬ gelische Geistlichkeit auf ihre Aufgabe besonnen hat, nämlich Lehrer, Räder und Helfer des Volks zu sein! Gewiß, das letzte Ziel der geistlichen Thätigkeit ist ohne Zweifel die Vannung der seelischen Not. Aber dazu ist vor allem das Ver¬ trauen des Volks nötig. Vertrauen aber entsteht nicht aus der bloßen Predigt oder der Spendung der Sakramente, sondern die willige Hinnahme beider setzt Vertrauen voraus. Schon wer gläubig zur Predigt kommt, nimmt oft nicht viel mit hinweg, und ließe sich die Wirkung der Predigt auf innerlich Widerstrebende in Gewicht und Zahl ausdrücken, so dürfte man jährlich vielleicht in der Welt ein paar Pfündlein herausrechnen können. Nun denke man erst an alle die, die überhaupt nicht kommen. Der Oberkirchenrat geht, in völliger Verkennung der Wirklichkeit, von der unbegründeten Voraussetzung aus, es herrsche in den Gemeinden Vertrauen gegen die Geistlichen, und er fürchtet, dieses Vertrauen könne durch die soziale Thätigkeit der Geistlichen geschädigt werden. Im Gegenteil: dieses Vertrauen besteht nicht, aber wir hofften, es würde durch diese Thätigkeit erworben werden. Oder was versteht der Oberkirchenrat unter Gemeinden? Es ist doch eine bekannte Thatsache, daß die große Masse derer,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/69>, abgerufen am 25.11.2024.