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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Vie sozialen Zustände der Türkei und der Islam

Hnlbkultur, also auch mit den Regierungskreisen in wenig oder gar keine Be¬
rührung kommen, ja vielleicht bei ihnen noch stärker entwickelt, als bei den
zivilisirtern Orientalen. In dieser Beziehung verdienen namentlich die Zentral¬
araber hervorgehoben zu werden. Auch die Lernfähigkeit der Beduinen, mit denen
übrigens die Bauernbevölkerung Zentralarabiens die größte Ähnlichkeit zeigt,
wird von dem besten Kenner jener Gegenden, dem kühnen Reisenden Dougthy
(^ravels in ^.rMa vWsrta, (üanibiiä^s, 1888) oft genug gerühmt; freilich ist
ihm auch wilder Fanatismus nicht selten entgegengetreten, sodciß er in die
Worte ausbricht: van do danäsä ont? eh.6 (uso) vWÄon okreli^ion
Z,na tligir rvbdsr-lites ^rgsämss-z ok ins sxoil. Mit der Religion läßt sich
eben auch ein Geschäft machen; das zeigt vor allem auch die Nachbildung des
Islam, die wir unter dem Namen Mahdismus kennen und deren weltliche
Antriebe uns neuerdings stallr Pascha (Feuer und Schwert im Sudan, 1896)
so deutlich vor Augen gestellt hat.

Wenn ich dies alles in Betracht ziehe, so fällt es mir in der That sehr
schwer, Kassems Urteil beizupflichten, wenn er z. B. behauptet, die muslimische
Religion habe die reinste Moral, die man je gekannt habe. Je öfter ich den
Koran gelesen habe, um so fadenscheiniger ist mir immer die sogenannte Pflichten¬
lehre erschienen, besonders wenn man die stark in den Vordergrund tretenden
rituellen Pflichten abzieht. Wenn Kassen vollends von Muhammed rühmt: ?oro
1" vis as Nolminsä sse rsniMs as dsanx oxeraxlks, so macht ja diese im Ver¬
laufe der Entwicklung des Islams fortschreitende Tendenz, aus dein Propheten
den höchsten Heros zu machen, der Jdealisationsfühigkeit der Muslimen alle
Ehre; aber bekanntlich beruht dieser Zug nur auf dem Vorbilde andrer Re¬
ligionen, und es ist stark zu bezweifeln, daß diese Vergötterung -- der Sache
nach kann man es wohl so nennen -- im Sinne des Religionsstifters selbst
gelegen habe. Ich selbst denke freilich viel zu konservativ, als daß ich dem
Islam zumutete, durch Preisgeben seiner Glaubensideale sich seiner eignen
Stützen zu berauben. Aber ich protestire gegen die Zumutung, zu glauben,
daß das, was uns Kassen bietet, ein "aufgeklärter Islam" sei.

Nach Kassen ist der Islam schon so, wie er ist, imstande, die geistigen
Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Ganz besonders bemüht sich der
Verfasser, d'Harcourts Urteilen gegenüber zu beweisen, daß der Islam nie¬
mals der Entwicklung der Wissenschaft im Wege gestanden habe. Er beruft
sich dabei auf Stellen des Koran und Aussprüche des Propheten. Mit welcher
eigentümlichen Logik Kassen dabei verfährt, kann man z. B. daraus ersehen,
daß in dem Koranversc 6, 97: "Und Gott ist der, der für euch die Stern¬
bilder hingestellt hat, damit ihr euch durch sie in den Finsternissen zu Land
und zu Wasser leiten laßt," die Astronomie empfohlen sein soll. Es ist hier
nicht am Platze, zu untersuchen, was Muhammed unser seinem "Wissen"
eigentlich verstanden hat; galt ihm doch vor allem auch die Religion als


Grenzboten I 1896 76
Vie sozialen Zustände der Türkei und der Islam

Hnlbkultur, also auch mit den Regierungskreisen in wenig oder gar keine Be¬
rührung kommen, ja vielleicht bei ihnen noch stärker entwickelt, als bei den
zivilisirtern Orientalen. In dieser Beziehung verdienen namentlich die Zentral¬
araber hervorgehoben zu werden. Auch die Lernfähigkeit der Beduinen, mit denen
übrigens die Bauernbevölkerung Zentralarabiens die größte Ähnlichkeit zeigt,
wird von dem besten Kenner jener Gegenden, dem kühnen Reisenden Dougthy
(^ravels in ^.rMa vWsrta, (üanibiiä^s, 1888) oft genug gerühmt; freilich ist
ihm auch wilder Fanatismus nicht selten entgegengetreten, sodciß er in die
Worte ausbricht: van do danäsä ont? eh.6 (uso) vWÄon okreli^ion
Z,na tligir rvbdsr-lites ^rgsämss-z ok ins sxoil. Mit der Religion läßt sich
eben auch ein Geschäft machen; das zeigt vor allem auch die Nachbildung des
Islam, die wir unter dem Namen Mahdismus kennen und deren weltliche
Antriebe uns neuerdings stallr Pascha (Feuer und Schwert im Sudan, 1896)
so deutlich vor Augen gestellt hat.

Wenn ich dies alles in Betracht ziehe, so fällt es mir in der That sehr
schwer, Kassems Urteil beizupflichten, wenn er z. B. behauptet, die muslimische
Religion habe die reinste Moral, die man je gekannt habe. Je öfter ich den
Koran gelesen habe, um so fadenscheiniger ist mir immer die sogenannte Pflichten¬
lehre erschienen, besonders wenn man die stark in den Vordergrund tretenden
rituellen Pflichten abzieht. Wenn Kassen vollends von Muhammed rühmt: ?oro
1» vis as Nolminsä sse rsniMs as dsanx oxeraxlks, so macht ja diese im Ver¬
laufe der Entwicklung des Islams fortschreitende Tendenz, aus dein Propheten
den höchsten Heros zu machen, der Jdealisationsfühigkeit der Muslimen alle
Ehre; aber bekanntlich beruht dieser Zug nur auf dem Vorbilde andrer Re¬
ligionen, und es ist stark zu bezweifeln, daß diese Vergötterung — der Sache
nach kann man es wohl so nennen — im Sinne des Religionsstifters selbst
gelegen habe. Ich selbst denke freilich viel zu konservativ, als daß ich dem
Islam zumutete, durch Preisgeben seiner Glaubensideale sich seiner eignen
Stützen zu berauben. Aber ich protestire gegen die Zumutung, zu glauben,
daß das, was uns Kassen bietet, ein „aufgeklärter Islam" sei.

Nach Kassen ist der Islam schon so, wie er ist, imstande, die geistigen
Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Ganz besonders bemüht sich der
Verfasser, d'Harcourts Urteilen gegenüber zu beweisen, daß der Islam nie¬
mals der Entwicklung der Wissenschaft im Wege gestanden habe. Er beruft
sich dabei auf Stellen des Koran und Aussprüche des Propheten. Mit welcher
eigentümlichen Logik Kassen dabei verfährt, kann man z. B. daraus ersehen,
daß in dem Koranversc 6, 97: „Und Gott ist der, der für euch die Stern¬
bilder hingestellt hat, damit ihr euch durch sie in den Finsternissen zu Land
und zu Wasser leiten laßt," die Astronomie empfohlen sein soll. Es ist hier
nicht am Platze, zu untersuchen, was Muhammed unser seinem „Wissen"
eigentlich verstanden hat; galt ihm doch vor allem auch die Religion als


Grenzboten I 1896 76
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[0609] Vie sozialen Zustände der Türkei und der Islam Hnlbkultur, also auch mit den Regierungskreisen in wenig oder gar keine Be¬ rührung kommen, ja vielleicht bei ihnen noch stärker entwickelt, als bei den zivilisirtern Orientalen. In dieser Beziehung verdienen namentlich die Zentral¬ araber hervorgehoben zu werden. Auch die Lernfähigkeit der Beduinen, mit denen übrigens die Bauernbevölkerung Zentralarabiens die größte Ähnlichkeit zeigt, wird von dem besten Kenner jener Gegenden, dem kühnen Reisenden Dougthy (^ravels in ^.rMa vWsrta, (üanibiiä^s, 1888) oft genug gerühmt; freilich ist ihm auch wilder Fanatismus nicht selten entgegengetreten, sodciß er in die Worte ausbricht: van do danäsä ont? eh.6 (uso) vWÄon okreli^ion Z,na tligir rvbdsr-lites ^rgsämss-z ok ins sxoil. Mit der Religion läßt sich eben auch ein Geschäft machen; das zeigt vor allem auch die Nachbildung des Islam, die wir unter dem Namen Mahdismus kennen und deren weltliche Antriebe uns neuerdings stallr Pascha (Feuer und Schwert im Sudan, 1896) so deutlich vor Augen gestellt hat. Wenn ich dies alles in Betracht ziehe, so fällt es mir in der That sehr schwer, Kassems Urteil beizupflichten, wenn er z. B. behauptet, die muslimische Religion habe die reinste Moral, die man je gekannt habe. Je öfter ich den Koran gelesen habe, um so fadenscheiniger ist mir immer die sogenannte Pflichten¬ lehre erschienen, besonders wenn man die stark in den Vordergrund tretenden rituellen Pflichten abzieht. Wenn Kassen vollends von Muhammed rühmt: ?oro 1» vis as Nolminsä sse rsniMs as dsanx oxeraxlks, so macht ja diese im Ver¬ laufe der Entwicklung des Islams fortschreitende Tendenz, aus dein Propheten den höchsten Heros zu machen, der Jdealisationsfühigkeit der Muslimen alle Ehre; aber bekanntlich beruht dieser Zug nur auf dem Vorbilde andrer Re¬ ligionen, und es ist stark zu bezweifeln, daß diese Vergötterung — der Sache nach kann man es wohl so nennen — im Sinne des Religionsstifters selbst gelegen habe. Ich selbst denke freilich viel zu konservativ, als daß ich dem Islam zumutete, durch Preisgeben seiner Glaubensideale sich seiner eignen Stützen zu berauben. Aber ich protestire gegen die Zumutung, zu glauben, daß das, was uns Kassen bietet, ein „aufgeklärter Islam" sei. Nach Kassen ist der Islam schon so, wie er ist, imstande, die geistigen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Ganz besonders bemüht sich der Verfasser, d'Harcourts Urteilen gegenüber zu beweisen, daß der Islam nie¬ mals der Entwicklung der Wissenschaft im Wege gestanden habe. Er beruft sich dabei auf Stellen des Koran und Aussprüche des Propheten. Mit welcher eigentümlichen Logik Kassen dabei verfährt, kann man z. B. daraus ersehen, daß in dem Koranversc 6, 97: „Und Gott ist der, der für euch die Stern¬ bilder hingestellt hat, damit ihr euch durch sie in den Finsternissen zu Land und zu Wasser leiten laßt," die Astronomie empfohlen sein soll. Es ist hier nicht am Platze, zu untersuchen, was Muhammed unser seinem „Wissen" eigentlich verstanden hat; galt ihm doch vor allem auch die Religion als Grenzboten I 1896 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/609>, abgerufen am 26.11.2024.