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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

"Wissen"; daß er von "Wissenschaft" keine Ahnung hatte und haben konnte,
kann nur ein Muslim leugnen. Aber auch die wissenschaftliche Thätigkeit der
Araber überschätzt Kassen; den Satz Dx Orients lux in weitem Umfange auf
alle Araber anzuwenden, kann bei dem heutigen Stande unsrer Kenntnisse nur
jemand wagen, der von den Leistungen der verschiedensten Völker, vor allem
auch des Altertums, keine Ahnung hat. Ich mache es Kassen nicht zum Vor¬
wurf, daß er die eigentümliche Rolle, die die Araber in dem Ganzen der wissen¬
schaftlichen Entwicklung gespielt haben, nicht begreift. Zu vermissen ist aber,
daß man bei ihm nichts von den freidenkerischer Richtungen unter den Arabern
hört; wenn diese gesiegt hätten, so wäre der Islam allerdings in Gefahr
gekommen, Schiffbruch zu leiden. Aber seit dem endgiltigen Sieg der mus-
lemischen Orthodoxie im zehnten Jahrhundert, der übrigens nicht ohne Kampf
erfolgte, ist der Islam in der That verknöchert. Darin, daß seit einem
Jahrtausend keine Veranlassung mehr vorgelegen hat, ketzerische Meinungen
zu verfolgen, liegt bloß ein Beweis , daß das Denken der Orientalen sich
seither großenteils in den hergebrachten, ausgefahrnen Gleisen bewegt und
sich von den engen Fesseln der muslimischen Religion nicht zu befreien ver¬
mocht hat.

Der Islam kennt keinen eigentlichen geistlichen Stand. Ist das ein Mangel
oder ein Vorzug? Triumphirend ruft Kassen aus: Leo lÄit, <zuo lions
n'g,v0us as cjn<Z3lion rs1i^isv.8s <mi mein,8 ^sus ÄiM8 votrs irulrelis. Mu8
n'a.von8 xg-s ü, Liier: Is olerAs, vonn, 1'frühren! xni8 ein'it n'sxists pg.8. Von
der Thätigkeit eines christlichen Geistlichen hat er weder im protestantischen
noch im katholischen Sinne eine Ahnung; er kann nur über die Charlcitcme
spotten, die den Gläubigen Lourdes anpreisen. Der Islam braucht in der
That keine "Seelsorge"; er ist ja so einfach; er wendet sich immer an die Ver¬
nunft des Menschen; ja es soll ein Ausspruch Muhammeds vorhanden sein:
die Religion ist die Vernunft. Aber diese Phrase von der natürlichen Re¬
ligion zeigt schlagend, daß sich der Verfasser noch immer in Gedankenkreisen
bewegt, die bei uns infolge der Vertiefung religionsgeschichtlicher Forschungen
nun wohl endgiltig aufgegeben sind. Der Gegensatz von Glauben und Wissen
wird so auf die einfachste Weise aus der Welt geschafft. Da ferner der Ra¬
tionalismus ^den Grundzug der Religion des Islam bildet, so ist es klar, daß
der Gebildete wie der Ungebildete ihr in gleicher Treue anhängt, daß sie ver¬
möge ihrer Einfachheit so weite Verbreitung gefunden hat und noch immer
findet. Der Islam verlangt ja nur Anerkennung der Einheit Gottes und
seines Gesandten , sodann die Erfüllung der Pflichten: das Gebet fünfmal am
Tage zu verrichten, das Fasten im Ramadan zu, Halten, den vierzigsten Teil
de.r Habe als Armenabgabe (!) zu geben und wenn irgend möglich nach Mekka
zu wallfahren.^ (Z'sse.K doues.notrs rsliAov, sagt Kassen mit Stolz. In der
That ist diese "Religion, der, Zukunft" höchst einfach und ,verführerisch. Auch


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

„Wissen"; daß er von „Wissenschaft" keine Ahnung hatte und haben konnte,
kann nur ein Muslim leugnen. Aber auch die wissenschaftliche Thätigkeit der
Araber überschätzt Kassen; den Satz Dx Orients lux in weitem Umfange auf
alle Araber anzuwenden, kann bei dem heutigen Stande unsrer Kenntnisse nur
jemand wagen, der von den Leistungen der verschiedensten Völker, vor allem
auch des Altertums, keine Ahnung hat. Ich mache es Kassen nicht zum Vor¬
wurf, daß er die eigentümliche Rolle, die die Araber in dem Ganzen der wissen¬
schaftlichen Entwicklung gespielt haben, nicht begreift. Zu vermissen ist aber,
daß man bei ihm nichts von den freidenkerischer Richtungen unter den Arabern
hört; wenn diese gesiegt hätten, so wäre der Islam allerdings in Gefahr
gekommen, Schiffbruch zu leiden. Aber seit dem endgiltigen Sieg der mus-
lemischen Orthodoxie im zehnten Jahrhundert, der übrigens nicht ohne Kampf
erfolgte, ist der Islam in der That verknöchert. Darin, daß seit einem
Jahrtausend keine Veranlassung mehr vorgelegen hat, ketzerische Meinungen
zu verfolgen, liegt bloß ein Beweis , daß das Denken der Orientalen sich
seither großenteils in den hergebrachten, ausgefahrnen Gleisen bewegt und
sich von den engen Fesseln der muslimischen Religion nicht zu befreien ver¬
mocht hat.

Der Islam kennt keinen eigentlichen geistlichen Stand. Ist das ein Mangel
oder ein Vorzug? Triumphirend ruft Kassen aus: Leo lÄit, <zuo lions
n'g,v0us as cjn<Z3lion rs1i^isv.8s <mi mein,8 ^sus ÄiM8 votrs irulrelis. Mu8
n'a.von8 xg-s ü, Liier: Is olerAs, vonn, 1'frühren! xni8 ein'it n'sxists pg.8. Von
der Thätigkeit eines christlichen Geistlichen hat er weder im protestantischen
noch im katholischen Sinne eine Ahnung; er kann nur über die Charlcitcme
spotten, die den Gläubigen Lourdes anpreisen. Der Islam braucht in der
That keine „Seelsorge"; er ist ja so einfach; er wendet sich immer an die Ver¬
nunft des Menschen; ja es soll ein Ausspruch Muhammeds vorhanden sein:
die Religion ist die Vernunft. Aber diese Phrase von der natürlichen Re¬
ligion zeigt schlagend, daß sich der Verfasser noch immer in Gedankenkreisen
bewegt, die bei uns infolge der Vertiefung religionsgeschichtlicher Forschungen
nun wohl endgiltig aufgegeben sind. Der Gegensatz von Glauben und Wissen
wird so auf die einfachste Weise aus der Welt geschafft. Da ferner der Ra¬
tionalismus ^den Grundzug der Religion des Islam bildet, so ist es klar, daß
der Gebildete wie der Ungebildete ihr in gleicher Treue anhängt, daß sie ver¬
möge ihrer Einfachheit so weite Verbreitung gefunden hat und noch immer
findet. Der Islam verlangt ja nur Anerkennung der Einheit Gottes und
seines Gesandten , sodann die Erfüllung der Pflichten: das Gebet fünfmal am
Tage zu verrichten, das Fasten im Ramadan zu, Halten, den vierzigsten Teil
de.r Habe als Armenabgabe (!) zu geben und wenn irgend möglich nach Mekka
zu wallfahren.^ (Z'sse.K doues.notrs rsliAov, sagt Kassen mit Stolz. In der
That ist diese „Religion, der, Zukunft" höchst einfach und ,verführerisch. Auch


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[0610] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam „Wissen"; daß er von „Wissenschaft" keine Ahnung hatte und haben konnte, kann nur ein Muslim leugnen. Aber auch die wissenschaftliche Thätigkeit der Araber überschätzt Kassen; den Satz Dx Orients lux in weitem Umfange auf alle Araber anzuwenden, kann bei dem heutigen Stande unsrer Kenntnisse nur jemand wagen, der von den Leistungen der verschiedensten Völker, vor allem auch des Altertums, keine Ahnung hat. Ich mache es Kassen nicht zum Vor¬ wurf, daß er die eigentümliche Rolle, die die Araber in dem Ganzen der wissen¬ schaftlichen Entwicklung gespielt haben, nicht begreift. Zu vermissen ist aber, daß man bei ihm nichts von den freidenkerischer Richtungen unter den Arabern hört; wenn diese gesiegt hätten, so wäre der Islam allerdings in Gefahr gekommen, Schiffbruch zu leiden. Aber seit dem endgiltigen Sieg der mus- lemischen Orthodoxie im zehnten Jahrhundert, der übrigens nicht ohne Kampf erfolgte, ist der Islam in der That verknöchert. Darin, daß seit einem Jahrtausend keine Veranlassung mehr vorgelegen hat, ketzerische Meinungen zu verfolgen, liegt bloß ein Beweis , daß das Denken der Orientalen sich seither großenteils in den hergebrachten, ausgefahrnen Gleisen bewegt und sich von den engen Fesseln der muslimischen Religion nicht zu befreien ver¬ mocht hat. Der Islam kennt keinen eigentlichen geistlichen Stand. Ist das ein Mangel oder ein Vorzug? Triumphirend ruft Kassen aus: Leo lÄit, <zuo lions n'g,v0us as cjn<Z3lion rs1i^isv.8s <mi mein,8 ^sus ÄiM8 votrs irulrelis. Mu8 n'a.von8 xg-s ü, Liier: Is olerAs, vonn, 1'frühren! xni8 ein'it n'sxists pg.8. Von der Thätigkeit eines christlichen Geistlichen hat er weder im protestantischen noch im katholischen Sinne eine Ahnung; er kann nur über die Charlcitcme spotten, die den Gläubigen Lourdes anpreisen. Der Islam braucht in der That keine „Seelsorge"; er ist ja so einfach; er wendet sich immer an die Ver¬ nunft des Menschen; ja es soll ein Ausspruch Muhammeds vorhanden sein: die Religion ist die Vernunft. Aber diese Phrase von der natürlichen Re¬ ligion zeigt schlagend, daß sich der Verfasser noch immer in Gedankenkreisen bewegt, die bei uns infolge der Vertiefung religionsgeschichtlicher Forschungen nun wohl endgiltig aufgegeben sind. Der Gegensatz von Glauben und Wissen wird so auf die einfachste Weise aus der Welt geschafft. Da ferner der Ra¬ tionalismus ^den Grundzug der Religion des Islam bildet, so ist es klar, daß der Gebildete wie der Ungebildete ihr in gleicher Treue anhängt, daß sie ver¬ möge ihrer Einfachheit so weite Verbreitung gefunden hat und noch immer findet. Der Islam verlangt ja nur Anerkennung der Einheit Gottes und seines Gesandten , sodann die Erfüllung der Pflichten: das Gebet fünfmal am Tage zu verrichten, das Fasten im Ramadan zu, Halten, den vierzigsten Teil de.r Habe als Armenabgabe (!) zu geben und wenn irgend möglich nach Mekka zu wallfahren.^ (Z'sse.K doues.notrs rsliAov, sagt Kassen mit Stolz. In der That ist diese „Religion, der, Zukunft" höchst einfach und ,verführerisch. Auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/610>, abgerufen am 26.11.2024.