Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England

Schweizer Urkantone sind und auch die Burenrepublik in Transvaal zu sein
scheint. Im Großstaat würde das Volkswohl am besten bei einem unum¬
schränkten Monarchen, bei einem wohlwollenden Despoten aufgehoben sein,
wenn es bloß auf dessen guten Willen ankäme. Denn unter zehn Menschen,
also auch unter zehn Monarchen, giebt es immer höchstens einen, dem die
Leiden seiner Mitmenschen Vergnügen machten, und der nicht lieber als Wohl¬
thäter gepriesen, als als Unhold verabscheut werden mochte. Und wenn der
eine von schlechtem Charakter klug ist, so wird er seinen schlechten Neigungen
nur im engen Kreise seiner nähern Umgebung die Zügel schießen lassen, das
Volkswohl' aber fördern, weil er weiß, daß es die Masse ist, die ihm die
Steuern und die Soldaten liefert. In der That kann man sich nichts humaneres
denken als die Arbeiterschutzverordnungen der russischen Zaren von Peter dem
Großen an, die mit ihren guten Absichten in diesem Stück der westeuropäischen
Kultur um hundertfünfzig Jahre vorausgeeilt sind.") Auch fuhren die Be¬
amten eines Autokraten mit den großen Herren, die den Absichten des Mon¬
archen widerstreben, eine ganz andre Sprache als westeuropäische Minister und
Regierungspräsidenten. Den Fabrikanten, die ihre Gutachten gegen die im
Jahre 1860 vorgeschlagne Anstellung von Fabrikinspektoren abgaben, antwortete
Graf Baranow, der Gouverneur von Twer, ihre Versicherung, daß sie das
Wohl des Staates und der Arbeiter wahrnahmen, sei Lüge, ihre Entrüstung
Heuchelei, ihre Interessen stünden im Gegensatz zu denen von Staat und Volk,
und sie selbst seien Sklavenhändler. Der Fehler an den vortrefflichen Ma߬
regeln der russischen Herrscher ist nur, daß sie dem Volke nicht das geringste
nützen. Der Despot eines großen Reiches ist bei all seiner Macht das hilf¬
loseste Wesen von der Welt; es ist ihm schlechterdings unmöglich, die wirk¬
lichen Zustände kennen zu lernen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade die
heilsamsten seiner Verordnungen haben am wenigsten Aussicht, durchgeführt zu
werden. Das russische Arbeiterelend kann sich daher kühn dem englischen an
die Seite stellen und ähnelt diesem, wie es vor fünfzig Jahren war, auch
darin, daß es nicht selten zu Brandstiftungen und andern Verbrechen führt,
die nicht etwa das Erzeugnis einer planmäßig geleiteten Arbeiterbewegung
sind, sondern eben darum, weil eine solche nicht möglich ist, begangen werden.
Denn der russische Bauer -- auch die Fabrikarbeiter bleiben in Rußland be¬
kanntlich noch Bauern -- ist zwar das geduldigste Schaf auf Gottes Erdboden,
aber zuweilen treibt ihn die übermäßige Grausamkeit seiner Peiniger doch zu
Verzweifluugsthateu. Wenn demnach dem Volke des Großstaats weder die



Zur Arbeitsschutzgesetzgebung in Rußland. Von Dr, G. I. Rosenberg,
(Leipzig, Duncker und Humblot, 189S.) Die Schrift ist zwar dem Finanzminister von Witte
gewidmet und nichts weniger als eine sozialdemokratische Agitations- oder Hetzschrift, aber
trotzdem freimütig und objektiv.
Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England

Schweizer Urkantone sind und auch die Burenrepublik in Transvaal zu sein
scheint. Im Großstaat würde das Volkswohl am besten bei einem unum¬
schränkten Monarchen, bei einem wohlwollenden Despoten aufgehoben sein,
wenn es bloß auf dessen guten Willen ankäme. Denn unter zehn Menschen,
also auch unter zehn Monarchen, giebt es immer höchstens einen, dem die
Leiden seiner Mitmenschen Vergnügen machten, und der nicht lieber als Wohl¬
thäter gepriesen, als als Unhold verabscheut werden mochte. Und wenn der
eine von schlechtem Charakter klug ist, so wird er seinen schlechten Neigungen
nur im engen Kreise seiner nähern Umgebung die Zügel schießen lassen, das
Volkswohl' aber fördern, weil er weiß, daß es die Masse ist, die ihm die
Steuern und die Soldaten liefert. In der That kann man sich nichts humaneres
denken als die Arbeiterschutzverordnungen der russischen Zaren von Peter dem
Großen an, die mit ihren guten Absichten in diesem Stück der westeuropäischen
Kultur um hundertfünfzig Jahre vorausgeeilt sind.") Auch fuhren die Be¬
amten eines Autokraten mit den großen Herren, die den Absichten des Mon¬
archen widerstreben, eine ganz andre Sprache als westeuropäische Minister und
Regierungspräsidenten. Den Fabrikanten, die ihre Gutachten gegen die im
Jahre 1860 vorgeschlagne Anstellung von Fabrikinspektoren abgaben, antwortete
Graf Baranow, der Gouverneur von Twer, ihre Versicherung, daß sie das
Wohl des Staates und der Arbeiter wahrnahmen, sei Lüge, ihre Entrüstung
Heuchelei, ihre Interessen stünden im Gegensatz zu denen von Staat und Volk,
und sie selbst seien Sklavenhändler. Der Fehler an den vortrefflichen Ma߬
regeln der russischen Herrscher ist nur, daß sie dem Volke nicht das geringste
nützen. Der Despot eines großen Reiches ist bei all seiner Macht das hilf¬
loseste Wesen von der Welt; es ist ihm schlechterdings unmöglich, die wirk¬
lichen Zustände kennen zu lernen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade die
heilsamsten seiner Verordnungen haben am wenigsten Aussicht, durchgeführt zu
werden. Das russische Arbeiterelend kann sich daher kühn dem englischen an
die Seite stellen und ähnelt diesem, wie es vor fünfzig Jahren war, auch
darin, daß es nicht selten zu Brandstiftungen und andern Verbrechen führt,
die nicht etwa das Erzeugnis einer planmäßig geleiteten Arbeiterbewegung
sind, sondern eben darum, weil eine solche nicht möglich ist, begangen werden.
Denn der russische Bauer — auch die Fabrikarbeiter bleiben in Rußland be¬
kanntlich noch Bauern — ist zwar das geduldigste Schaf auf Gottes Erdboden,
aber zuweilen treibt ihn die übermäßige Grausamkeit seiner Peiniger doch zu
Verzweifluugsthateu. Wenn demnach dem Volke des Großstaats weder die



Zur Arbeitsschutzgesetzgebung in Rußland. Von Dr, G. I. Rosenberg,
(Leipzig, Duncker und Humblot, 189S.) Die Schrift ist zwar dem Finanzminister von Witte
gewidmet und nichts weniger als eine sozialdemokratische Agitations- oder Hetzschrift, aber
trotzdem freimütig und objektiv.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222161"/>
          <fw type="header" place="top"> Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1714" prev="#ID_1713" next="#ID_1715"> Schweizer Urkantone sind und auch die Burenrepublik in Transvaal zu sein<lb/>
scheint. Im Großstaat würde das Volkswohl am besten bei einem unum¬<lb/>
schränkten Monarchen, bei einem wohlwollenden Despoten aufgehoben sein,<lb/>
wenn es bloß auf dessen guten Willen ankäme. Denn unter zehn Menschen,<lb/>
also auch unter zehn Monarchen, giebt es immer höchstens einen, dem die<lb/>
Leiden seiner Mitmenschen Vergnügen machten, und der nicht lieber als Wohl¬<lb/>
thäter gepriesen, als als Unhold verabscheut werden mochte. Und wenn der<lb/>
eine von schlechtem Charakter klug ist, so wird er seinen schlechten Neigungen<lb/>
nur im engen Kreise seiner nähern Umgebung die Zügel schießen lassen, das<lb/>
Volkswohl' aber fördern, weil er weiß, daß es die Masse ist, die ihm die<lb/>
Steuern und die Soldaten liefert. In der That kann man sich nichts humaneres<lb/>
denken als die Arbeiterschutzverordnungen der russischen Zaren von Peter dem<lb/>
Großen an, die mit ihren guten Absichten in diesem Stück der westeuropäischen<lb/>
Kultur um hundertfünfzig Jahre vorausgeeilt sind.") Auch fuhren die Be¬<lb/>
amten eines Autokraten mit den großen Herren, die den Absichten des Mon¬<lb/>
archen widerstreben, eine ganz andre Sprache als westeuropäische Minister und<lb/>
Regierungspräsidenten. Den Fabrikanten, die ihre Gutachten gegen die im<lb/>
Jahre 1860 vorgeschlagne Anstellung von Fabrikinspektoren abgaben, antwortete<lb/>
Graf Baranow, der Gouverneur von Twer, ihre Versicherung, daß sie das<lb/>
Wohl des Staates und der Arbeiter wahrnahmen, sei Lüge, ihre Entrüstung<lb/>
Heuchelei, ihre Interessen stünden im Gegensatz zu denen von Staat und Volk,<lb/>
und sie selbst seien Sklavenhändler. Der Fehler an den vortrefflichen Ma߬<lb/>
regeln der russischen Herrscher ist nur, daß sie dem Volke nicht das geringste<lb/>
nützen. Der Despot eines großen Reiches ist bei all seiner Macht das hilf¬<lb/>
loseste Wesen von der Welt; es ist ihm schlechterdings unmöglich, die wirk¬<lb/>
lichen Zustände kennen zu lernen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade die<lb/>
heilsamsten seiner Verordnungen haben am wenigsten Aussicht, durchgeführt zu<lb/>
werden. Das russische Arbeiterelend kann sich daher kühn dem englischen an<lb/>
die Seite stellen und ähnelt diesem, wie es vor fünfzig Jahren war, auch<lb/>
darin, daß es nicht selten zu Brandstiftungen und andern Verbrechen führt,<lb/>
die nicht etwa das Erzeugnis einer planmäßig geleiteten Arbeiterbewegung<lb/>
sind, sondern eben darum, weil eine solche nicht möglich ist, begangen werden.<lb/>
Denn der russische Bauer &#x2014; auch die Fabrikarbeiter bleiben in Rußland be¬<lb/>
kanntlich noch Bauern &#x2014; ist zwar das geduldigste Schaf auf Gottes Erdboden,<lb/>
aber zuweilen treibt ihn die übermäßige Grausamkeit seiner Peiniger doch zu<lb/>
Verzweifluugsthateu.  Wenn demnach dem Volke des Großstaats weder die</p><lb/>
          <note xml:id="FID_77" place="foot"> Zur Arbeitsschutzgesetzgebung in Rußland. Von Dr, G. I. Rosenberg,<lb/>
(Leipzig, Duncker und Humblot, 189S.) Die Schrift ist zwar dem Finanzminister von Witte<lb/>
gewidmet und nichts weniger als eine sozialdemokratische Agitations- oder Hetzschrift, aber<lb/>
trotzdem freimütig und objektiv.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0515] Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England Schweizer Urkantone sind und auch die Burenrepublik in Transvaal zu sein scheint. Im Großstaat würde das Volkswohl am besten bei einem unum¬ schränkten Monarchen, bei einem wohlwollenden Despoten aufgehoben sein, wenn es bloß auf dessen guten Willen ankäme. Denn unter zehn Menschen, also auch unter zehn Monarchen, giebt es immer höchstens einen, dem die Leiden seiner Mitmenschen Vergnügen machten, und der nicht lieber als Wohl¬ thäter gepriesen, als als Unhold verabscheut werden mochte. Und wenn der eine von schlechtem Charakter klug ist, so wird er seinen schlechten Neigungen nur im engen Kreise seiner nähern Umgebung die Zügel schießen lassen, das Volkswohl' aber fördern, weil er weiß, daß es die Masse ist, die ihm die Steuern und die Soldaten liefert. In der That kann man sich nichts humaneres denken als die Arbeiterschutzverordnungen der russischen Zaren von Peter dem Großen an, die mit ihren guten Absichten in diesem Stück der westeuropäischen Kultur um hundertfünfzig Jahre vorausgeeilt sind.") Auch fuhren die Be¬ amten eines Autokraten mit den großen Herren, die den Absichten des Mon¬ archen widerstreben, eine ganz andre Sprache als westeuropäische Minister und Regierungspräsidenten. Den Fabrikanten, die ihre Gutachten gegen die im Jahre 1860 vorgeschlagne Anstellung von Fabrikinspektoren abgaben, antwortete Graf Baranow, der Gouverneur von Twer, ihre Versicherung, daß sie das Wohl des Staates und der Arbeiter wahrnahmen, sei Lüge, ihre Entrüstung Heuchelei, ihre Interessen stünden im Gegensatz zu denen von Staat und Volk, und sie selbst seien Sklavenhändler. Der Fehler an den vortrefflichen Ma߬ regeln der russischen Herrscher ist nur, daß sie dem Volke nicht das geringste nützen. Der Despot eines großen Reiches ist bei all seiner Macht das hilf¬ loseste Wesen von der Welt; es ist ihm schlechterdings unmöglich, die wirk¬ lichen Zustände kennen zu lernen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade die heilsamsten seiner Verordnungen haben am wenigsten Aussicht, durchgeführt zu werden. Das russische Arbeiterelend kann sich daher kühn dem englischen an die Seite stellen und ähnelt diesem, wie es vor fünfzig Jahren war, auch darin, daß es nicht selten zu Brandstiftungen und andern Verbrechen führt, die nicht etwa das Erzeugnis einer planmäßig geleiteten Arbeiterbewegung sind, sondern eben darum, weil eine solche nicht möglich ist, begangen werden. Denn der russische Bauer — auch die Fabrikarbeiter bleiben in Rußland be¬ kanntlich noch Bauern — ist zwar das geduldigste Schaf auf Gottes Erdboden, aber zuweilen treibt ihn die übermäßige Grausamkeit seiner Peiniger doch zu Verzweifluugsthateu. Wenn demnach dem Volke des Großstaats weder die Zur Arbeitsschutzgesetzgebung in Rußland. Von Dr, G. I. Rosenberg, (Leipzig, Duncker und Humblot, 189S.) Die Schrift ist zwar dem Finanzminister von Witte gewidmet und nichts weniger als eine sozialdemokratische Agitations- oder Hetzschrift, aber trotzdem freimütig und objektiv.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/515
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/515>, abgerufen am 01.09.2024.