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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sudermanns neueste Dramen

der Ausbeutung seines Sieges über ihre Schwäche die wahre Natur des
Mannes, zu dem sie emporgeblickt hat. Eine Sturzwelle von Scham- und
Schuldgefühl betäubt die unglückliche Frau, sie will den Tod im nahen Wasser
suchen. Doch weil sie Liebe gesät hat, erntet sie jetzt Liebe: die Feinfühligkeit
der blinden Stieftochter spürt es zuerst, daß ein Unheil drohe, die treue Sorgfalt
des jungen Lehrers Dangel, der die blinde Helene liebt, schreckt den ahnungs¬
losen Gatten empor, ans ihrem Todesgange tritt der Rektor unerwartet Frau
Elisabeth in den Weg, und in einer erschütternden Szene entlasten und ent¬
hüllen sich die schwerbelasteten Herzen. Frau Elisabeth wird dem Leben
erhalten, ihr ist zu Mute, als hätte sie in dieser Stunde ihren Mann zum
erstenmal gesehen, und obwohl wir nicht erfahren, wie der Rektor mit dem
Freiherrn, der oben im Hause ruhig und siegesgewiß schläft, abrechnen und
auseinanderkommen wird, sollen und müssen wir das Glück im Winkel für
gerettet halten.

Daß wir es müssen, ist keine Frage, der Dichter hat eben sich und uns
die unerläßliche letzte Szene, die mit ihren Gewitterschlägen erst die Luft voll¬
ständig reinigen würde, geschenkt oder versagt, wie man will. Ob wir es
sollen, steht wenigstens für einen Teil der Bewundrer Sudermanns stark im
Zweifel. Glaubt doch nur nicht, flüstern sie, daß dieser Rektor Wiedemann
die Kraft haben wird, den trotzigen Junker abzuschütteln! So oder so wird
Röcknitz die schöne Elisabeth doch an sich reißen, sie ist für einen Übermenschen
und nicht für einen kläglichen Tropf wie den ostpreußischen Schulmeister ge¬
boren. Nichts als ein Aktschluß, wie ihn das heutige Theater vertrüge, ist
diese Rührszene, den wahren Abschluß errät der wissende und fühlende Mensch,
der (wie wir Modernen alle, setzen sie hinzu) ein Stück Übermensch ist, ganz
von selbst.

Wir haben kein Recht und maßen uns nicht an, diese Annahme zu machen.
Wie geschrieben steht, so sei der stille Winkel vor jedem Einbruch des Röck-
nitzschen Herrengefühls und Herrenrechts gesichert, das neugeborne Glück ge¬
festigt! Dann aber ist klar, daß die Darstellung der Gegensätze in diesem Schau¬
spiel viel zu sehr dem modischen Zug, der in allen brutalen Egoisten Über¬
menschen, in allen sich nicht frech übersehenden, wenn noch so vorzüglichen
Menschen Sklaven und Gesindel sieht, gefolgt ist. Wenn es von vornherein
die Absicht Sudermanns war, das gute Recht des Winkels gegen die herzlose
Anmaßung des mit neuester Philosophie aufgefrischten uralten Dünkels zu ver¬
treten, so mußten allerdings der vorzüglich beobachteten und prächtig gezeich¬
neten Gestalt des Freiherrn von Röcknitz andre Gestalten als dieser Rektor mit
seiner Demut und halben Selbstverachtung, als diese Frau Bettina, die jeden
Tag erwartet, daß es aus dem Munde ihres Gemahls "Pascholl" erklingen
wird, entgegengesetzt werden, so mußte selbst die fesselnde Gestalt der Frau
Elisabeth stellenweise eine tiefere Beseelung erhalten. Denn sowie wir fragen,
wo die Wahrheit des so energisch angelegten und wenigstens in zwei Szenen


Sudermanns neueste Dramen

der Ausbeutung seines Sieges über ihre Schwäche die wahre Natur des
Mannes, zu dem sie emporgeblickt hat. Eine Sturzwelle von Scham- und
Schuldgefühl betäubt die unglückliche Frau, sie will den Tod im nahen Wasser
suchen. Doch weil sie Liebe gesät hat, erntet sie jetzt Liebe: die Feinfühligkeit
der blinden Stieftochter spürt es zuerst, daß ein Unheil drohe, die treue Sorgfalt
des jungen Lehrers Dangel, der die blinde Helene liebt, schreckt den ahnungs¬
losen Gatten empor, ans ihrem Todesgange tritt der Rektor unerwartet Frau
Elisabeth in den Weg, und in einer erschütternden Szene entlasten und ent¬
hüllen sich die schwerbelasteten Herzen. Frau Elisabeth wird dem Leben
erhalten, ihr ist zu Mute, als hätte sie in dieser Stunde ihren Mann zum
erstenmal gesehen, und obwohl wir nicht erfahren, wie der Rektor mit dem
Freiherrn, der oben im Hause ruhig und siegesgewiß schläft, abrechnen und
auseinanderkommen wird, sollen und müssen wir das Glück im Winkel für
gerettet halten.

Daß wir es müssen, ist keine Frage, der Dichter hat eben sich und uns
die unerläßliche letzte Szene, die mit ihren Gewitterschlägen erst die Luft voll¬
ständig reinigen würde, geschenkt oder versagt, wie man will. Ob wir es
sollen, steht wenigstens für einen Teil der Bewundrer Sudermanns stark im
Zweifel. Glaubt doch nur nicht, flüstern sie, daß dieser Rektor Wiedemann
die Kraft haben wird, den trotzigen Junker abzuschütteln! So oder so wird
Röcknitz die schöne Elisabeth doch an sich reißen, sie ist für einen Übermenschen
und nicht für einen kläglichen Tropf wie den ostpreußischen Schulmeister ge¬
boren. Nichts als ein Aktschluß, wie ihn das heutige Theater vertrüge, ist
diese Rührszene, den wahren Abschluß errät der wissende und fühlende Mensch,
der (wie wir Modernen alle, setzen sie hinzu) ein Stück Übermensch ist, ganz
von selbst.

Wir haben kein Recht und maßen uns nicht an, diese Annahme zu machen.
Wie geschrieben steht, so sei der stille Winkel vor jedem Einbruch des Röck-
nitzschen Herrengefühls und Herrenrechts gesichert, das neugeborne Glück ge¬
festigt! Dann aber ist klar, daß die Darstellung der Gegensätze in diesem Schau¬
spiel viel zu sehr dem modischen Zug, der in allen brutalen Egoisten Über¬
menschen, in allen sich nicht frech übersehenden, wenn noch so vorzüglichen
Menschen Sklaven und Gesindel sieht, gefolgt ist. Wenn es von vornherein
die Absicht Sudermanns war, das gute Recht des Winkels gegen die herzlose
Anmaßung des mit neuester Philosophie aufgefrischten uralten Dünkels zu ver¬
treten, so mußten allerdings der vorzüglich beobachteten und prächtig gezeich¬
neten Gestalt des Freiherrn von Röcknitz andre Gestalten als dieser Rektor mit
seiner Demut und halben Selbstverachtung, als diese Frau Bettina, die jeden
Tag erwartet, daß es aus dem Munde ihres Gemahls „Pascholl" erklingen
wird, entgegengesetzt werden, so mußte selbst die fesselnde Gestalt der Frau
Elisabeth stellenweise eine tiefere Beseelung erhalten. Denn sowie wir fragen,
wo die Wahrheit des so energisch angelegten und wenigstens in zwei Szenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/51>, abgerufen am 01.09.2024.