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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sudermanns neueste Dramen

zu den stärksten und nachhaltigsten dramatischen Wirkungen erhabnen Schau¬
spiels von innerer Unwahrheit und UnWahrscheinlichkeit verdrängt wird, so
sehen wir bald, daß sich auch hier Spiel und Gegenspiel auf abnorme Extreme
gründen. In Berliner Kneipen und geistreichen Gesellschaften mag man das
eigne Volk in eine Minderheit von Tigern und Wölfen und in eine ungeheure
Mehrheit von armseligen Hammeln einzuteilen belieben und jedem Röcknitz
einen armen Rektor Wiedemann entgegenstellen; im Leben sieht auch jetzt noch
die Sache wesentlich anders aus. Weder wird der "harte, heitere, helle Herren¬
mensch" von soviel bereitwilligen Schultern emporgetragen, wie es im "Glück
im Winkel" scheinen will, noch stehen ihm im Durchschnitt bloß Jammer¬
gestalten gegenüber.

^ Ein Dichter von dem Talente Sudermanns muß wissen, daß dieser ganze
Gegensatz ein eingebildeter und willkürlicher ist, muß den Glauben aufgeben,
daß mit Vermeidung der großen Mitte der Welt, in der der Strom des Lebens
am vollsten und frischesten rinnt, je eine überzeugende und siegende Weltdar¬
stellung zu gewinnen sei. Daß die Schule das Panier des Extrems aufge¬
worfen hat, die ausschließliche Darstellung der Abnormität zu den Kennzeichen
des "modernen Stils" rechnet und fortwährend verkündet, daß sie in diesem
Zeichen siegen werde, daß sie die Mitte des Lebens als eins mit der den
Göttern und Menschen verhaßten Mittelmäßigkeit verdächtigt, darf einen Dichter
von wirklicher Kraft, von tiefdringendem Blick in die Menschennatur auf seinem
Wege uicht aufhalten. Geradezu verhängnisvoll aber wäre das Emporkommen
einer Lebensdarstellung, in der etwas andres gesagt als gemeint würde, und
in der die Versöhnung für die philiströsen Zuschauer und Leser das Gelächter
der Wissenden erzeugte. Der kälteste Hauch trostloser Weltanschauung und
der schrillste Klang einer Wahrheit, die Wahrheit wenigstens für den Dichter
ist, würde dem vorzuziehen sein. Wenn die Schlußwendung des Schauspiels
"Das Glück im Winkel" trotz der fehlenden letzten Szene (die um so weniger
sehlen durfte, als uns der Dichter den Rektor Wiedemann vorher nicht ein
einziges mal so gezeigt hat, wie er jetzt binnen wenigen Stunden sein und auf¬
treten muß) die Überzeugung des Dichters ausspricht, so bedeutet dieses Drama,
trotz eutschiedner dramatisch-technischer Mängel, auf die wir heute nicht ein¬
gehen wollen, einen Fortschritt auf dem Wege des Dichters und kann unser
Interesse an Sudermanns Entwicklung nicht abschwächen. Möge uns gegen¬
über seiner nächsten Schöpfung dies fatale Wenn erspart bleiben!




Sudermanns neueste Dramen

zu den stärksten und nachhaltigsten dramatischen Wirkungen erhabnen Schau¬
spiels von innerer Unwahrheit und UnWahrscheinlichkeit verdrängt wird, so
sehen wir bald, daß sich auch hier Spiel und Gegenspiel auf abnorme Extreme
gründen. In Berliner Kneipen und geistreichen Gesellschaften mag man das
eigne Volk in eine Minderheit von Tigern und Wölfen und in eine ungeheure
Mehrheit von armseligen Hammeln einzuteilen belieben und jedem Röcknitz
einen armen Rektor Wiedemann entgegenstellen; im Leben sieht auch jetzt noch
die Sache wesentlich anders aus. Weder wird der „harte, heitere, helle Herren¬
mensch" von soviel bereitwilligen Schultern emporgetragen, wie es im „Glück
im Winkel" scheinen will, noch stehen ihm im Durchschnitt bloß Jammer¬
gestalten gegenüber.

^ Ein Dichter von dem Talente Sudermanns muß wissen, daß dieser ganze
Gegensatz ein eingebildeter und willkürlicher ist, muß den Glauben aufgeben,
daß mit Vermeidung der großen Mitte der Welt, in der der Strom des Lebens
am vollsten und frischesten rinnt, je eine überzeugende und siegende Weltdar¬
stellung zu gewinnen sei. Daß die Schule das Panier des Extrems aufge¬
worfen hat, die ausschließliche Darstellung der Abnormität zu den Kennzeichen
des „modernen Stils" rechnet und fortwährend verkündet, daß sie in diesem
Zeichen siegen werde, daß sie die Mitte des Lebens als eins mit der den
Göttern und Menschen verhaßten Mittelmäßigkeit verdächtigt, darf einen Dichter
von wirklicher Kraft, von tiefdringendem Blick in die Menschennatur auf seinem
Wege uicht aufhalten. Geradezu verhängnisvoll aber wäre das Emporkommen
einer Lebensdarstellung, in der etwas andres gesagt als gemeint würde, und
in der die Versöhnung für die philiströsen Zuschauer und Leser das Gelächter
der Wissenden erzeugte. Der kälteste Hauch trostloser Weltanschauung und
der schrillste Klang einer Wahrheit, die Wahrheit wenigstens für den Dichter
ist, würde dem vorzuziehen sein. Wenn die Schlußwendung des Schauspiels
„Das Glück im Winkel" trotz der fehlenden letzten Szene (die um so weniger
sehlen durfte, als uns der Dichter den Rektor Wiedemann vorher nicht ein
einziges mal so gezeigt hat, wie er jetzt binnen wenigen Stunden sein und auf¬
treten muß) die Überzeugung des Dichters ausspricht, so bedeutet dieses Drama,
trotz eutschiedner dramatisch-technischer Mängel, auf die wir heute nicht ein¬
gehen wollen, einen Fortschritt auf dem Wege des Dichters und kann unser
Interesse an Sudermanns Entwicklung nicht abschwächen. Möge uns gegen¬
über seiner nächsten Schöpfung dies fatale Wenn erspart bleiben!




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[0052] Sudermanns neueste Dramen zu den stärksten und nachhaltigsten dramatischen Wirkungen erhabnen Schau¬ spiels von innerer Unwahrheit und UnWahrscheinlichkeit verdrängt wird, so sehen wir bald, daß sich auch hier Spiel und Gegenspiel auf abnorme Extreme gründen. In Berliner Kneipen und geistreichen Gesellschaften mag man das eigne Volk in eine Minderheit von Tigern und Wölfen und in eine ungeheure Mehrheit von armseligen Hammeln einzuteilen belieben und jedem Röcknitz einen armen Rektor Wiedemann entgegenstellen; im Leben sieht auch jetzt noch die Sache wesentlich anders aus. Weder wird der „harte, heitere, helle Herren¬ mensch" von soviel bereitwilligen Schultern emporgetragen, wie es im „Glück im Winkel" scheinen will, noch stehen ihm im Durchschnitt bloß Jammer¬ gestalten gegenüber. ^ Ein Dichter von dem Talente Sudermanns muß wissen, daß dieser ganze Gegensatz ein eingebildeter und willkürlicher ist, muß den Glauben aufgeben, daß mit Vermeidung der großen Mitte der Welt, in der der Strom des Lebens am vollsten und frischesten rinnt, je eine überzeugende und siegende Weltdar¬ stellung zu gewinnen sei. Daß die Schule das Panier des Extrems aufge¬ worfen hat, die ausschließliche Darstellung der Abnormität zu den Kennzeichen des „modernen Stils" rechnet und fortwährend verkündet, daß sie in diesem Zeichen siegen werde, daß sie die Mitte des Lebens als eins mit der den Göttern und Menschen verhaßten Mittelmäßigkeit verdächtigt, darf einen Dichter von wirklicher Kraft, von tiefdringendem Blick in die Menschennatur auf seinem Wege uicht aufhalten. Geradezu verhängnisvoll aber wäre das Emporkommen einer Lebensdarstellung, in der etwas andres gesagt als gemeint würde, und in der die Versöhnung für die philiströsen Zuschauer und Leser das Gelächter der Wissenden erzeugte. Der kälteste Hauch trostloser Weltanschauung und der schrillste Klang einer Wahrheit, die Wahrheit wenigstens für den Dichter ist, würde dem vorzuziehen sein. Wenn die Schlußwendung des Schauspiels „Das Glück im Winkel" trotz der fehlenden letzten Szene (die um so weniger sehlen durfte, als uns der Dichter den Rektor Wiedemann vorher nicht ein einziges mal so gezeigt hat, wie er jetzt binnen wenigen Stunden sein und auf¬ treten muß) die Überzeugung des Dichters ausspricht, so bedeutet dieses Drama, trotz eutschiedner dramatisch-technischer Mängel, auf die wir heute nicht ein¬ gehen wollen, einen Fortschritt auf dem Wege des Dichters und kann unser Interesse an Sudermanns Entwicklung nicht abschwächen. Möge uns gegen¬ über seiner nächsten Schöpfung dies fatale Wenn erspart bleiben!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/52>, abgerufen am 01.09.2024.