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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

Könige und vor allem seinem heldenhaften Sohne Hektor so viel edle Züge
giebt; aber trotz dieser Liebe, mit der er den Helden und seine Gattin schildert,
bleibt er doch immer ein Grieche und denkt sich Griechen als Zuhörer. Ich
habe in dem oben mit angeführten Programm (Die Bedeutung der Widersprüche
S. 19 ff.) gerade auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der sich in der
Behandlung Hektors durch die ganze Ilias hindurch zieht, und der sich nur
aus der Herkunft des Dichters erklären lasse. Während nämlich Hektor in
allgemeinen Ausdrücken überall als der furchtbarste Kriegsheld erscheint, vor
dem die Griechenfürsten zittern, tritt er im Einzelkampf hinter allen griechischen
Helden zurück, selbst ein Menelaos kann zuletzt über ihn triumphiren. Nicht
einmal eine Wunde bringt er einem Haupthelden bei, obwohl doch reichlich dazu
Gelegenheit ist, und den Patroklos tötet er erst hinterrücks, als dieser von
Apollo durch einen Schlag betäubt und wehrlos gemacht und von Euphorbos
die vielleicht schon tödliche Wunde empfangen hat. Der griechische National-
stolz wollte eben die Überlegenheit der Feinde im offnen Kampfe nicht aner¬
kennen, und Homer stand unwillkürlich unter diesem Einfluß.*) Auch Knötel
nimmt übrigens an, daß Homer aus unbekannten Gründen später Skepsis ver¬
lassen habe und mit einem Sängerchor in Griechenland herumgezogen sei, um
seine Gedichte vorzutragen -- natürlich auch nur an Fürstenhöfen.

Seine Gedichte fanden viel Beifall und regten zur Nachahmung an. Bald
mußte der Dichter die Beobachtung machen, daß der "neueste Gesang immer
der beliebteste sei" (Ob. 1, 351--52). Um deshalb nicht von Nebenbuhlern ver¬
dunkelt zu werden, wenn er immer nur vom troischen Kriege sänge, begann er
ein zweites umfangreiches Gedicht, das ebenso sehr in der Märchenwelt spielt,
wie die Ilias wirkliche Kämpfe schildert. Anmutig ist dabei der Scherz des
Dichters (vgl. Knötel II, S. 299), daß er den Odysseus diese Märchen von dem
Khklopen, Aiolos, den Lästrygonen, Skhlla und Charybdis, Kirke und Kalypso mit
der ernstesten Miene von der Welt erzählen, ja die Zuhörer ausdrücklich er¬
klären läßt, daß er wahrhaft sei und nicht wie ein listiger Schelm und Schwindler
auftrete (Ob. 11, 363--369). Doch fand er, nach Knötel (I, 263 u. ff.), bei
seinen Zeitgenossen nicht die Anerkennung, die er sür seine großen Werke, die
"Tochter des Zeus," hätte erwarten können. Denn als er nach langem Wandern
erblindet in seine Vaterstadt Smhrna zurückkehrte und die feierliche Anerkennung
seiner Werke etwa zum Zwecke des Vortrags bei den großen Festen (wie es
später durch die Vorschrift des Solon oder Peisistratos in Athen geschah) ver¬
langte, stieß er auf den Widerspruch eines Prhtanen, dem vielleicht, wie später
den Philosophen, die Behandlung der Götter zu frei und unehrerbietig schien,
und wandte sich deshalb nach Kymü. Doch auch in dieser, gar zu sehr made-



*) In dem genannten Programm sind noch andre Gründe für diese Behauptung an¬
geführt.
Die Homerische Frage

Könige und vor allem seinem heldenhaften Sohne Hektor so viel edle Züge
giebt; aber trotz dieser Liebe, mit der er den Helden und seine Gattin schildert,
bleibt er doch immer ein Grieche und denkt sich Griechen als Zuhörer. Ich
habe in dem oben mit angeführten Programm (Die Bedeutung der Widersprüche
S. 19 ff.) gerade auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der sich in der
Behandlung Hektors durch die ganze Ilias hindurch zieht, und der sich nur
aus der Herkunft des Dichters erklären lasse. Während nämlich Hektor in
allgemeinen Ausdrücken überall als der furchtbarste Kriegsheld erscheint, vor
dem die Griechenfürsten zittern, tritt er im Einzelkampf hinter allen griechischen
Helden zurück, selbst ein Menelaos kann zuletzt über ihn triumphiren. Nicht
einmal eine Wunde bringt er einem Haupthelden bei, obwohl doch reichlich dazu
Gelegenheit ist, und den Patroklos tötet er erst hinterrücks, als dieser von
Apollo durch einen Schlag betäubt und wehrlos gemacht und von Euphorbos
die vielleicht schon tödliche Wunde empfangen hat. Der griechische National-
stolz wollte eben die Überlegenheit der Feinde im offnen Kampfe nicht aner¬
kennen, und Homer stand unwillkürlich unter diesem Einfluß.*) Auch Knötel
nimmt übrigens an, daß Homer aus unbekannten Gründen später Skepsis ver¬
lassen habe und mit einem Sängerchor in Griechenland herumgezogen sei, um
seine Gedichte vorzutragen — natürlich auch nur an Fürstenhöfen.

Seine Gedichte fanden viel Beifall und regten zur Nachahmung an. Bald
mußte der Dichter die Beobachtung machen, daß der „neueste Gesang immer
der beliebteste sei" (Ob. 1, 351—52). Um deshalb nicht von Nebenbuhlern ver¬
dunkelt zu werden, wenn er immer nur vom troischen Kriege sänge, begann er
ein zweites umfangreiches Gedicht, das ebenso sehr in der Märchenwelt spielt,
wie die Ilias wirkliche Kämpfe schildert. Anmutig ist dabei der Scherz des
Dichters (vgl. Knötel II, S. 299), daß er den Odysseus diese Märchen von dem
Khklopen, Aiolos, den Lästrygonen, Skhlla und Charybdis, Kirke und Kalypso mit
der ernstesten Miene von der Welt erzählen, ja die Zuhörer ausdrücklich er¬
klären läßt, daß er wahrhaft sei und nicht wie ein listiger Schelm und Schwindler
auftrete (Ob. 11, 363—369). Doch fand er, nach Knötel (I, 263 u. ff.), bei
seinen Zeitgenossen nicht die Anerkennung, die er sür seine großen Werke, die
„Tochter des Zeus," hätte erwarten können. Denn als er nach langem Wandern
erblindet in seine Vaterstadt Smhrna zurückkehrte und die feierliche Anerkennung
seiner Werke etwa zum Zwecke des Vortrags bei den großen Festen (wie es
später durch die Vorschrift des Solon oder Peisistratos in Athen geschah) ver¬
langte, stieß er auf den Widerspruch eines Prhtanen, dem vielleicht, wie später
den Philosophen, die Behandlung der Götter zu frei und unehrerbietig schien,
und wandte sich deshalb nach Kymü. Doch auch in dieser, gar zu sehr made-



*) In dem genannten Programm sind noch andre Gründe für diese Behauptung an¬
geführt.
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[0392] Die Homerische Frage Könige und vor allem seinem heldenhaften Sohne Hektor so viel edle Züge giebt; aber trotz dieser Liebe, mit der er den Helden und seine Gattin schildert, bleibt er doch immer ein Grieche und denkt sich Griechen als Zuhörer. Ich habe in dem oben mit angeführten Programm (Die Bedeutung der Widersprüche S. 19 ff.) gerade auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der sich in der Behandlung Hektors durch die ganze Ilias hindurch zieht, und der sich nur aus der Herkunft des Dichters erklären lasse. Während nämlich Hektor in allgemeinen Ausdrücken überall als der furchtbarste Kriegsheld erscheint, vor dem die Griechenfürsten zittern, tritt er im Einzelkampf hinter allen griechischen Helden zurück, selbst ein Menelaos kann zuletzt über ihn triumphiren. Nicht einmal eine Wunde bringt er einem Haupthelden bei, obwohl doch reichlich dazu Gelegenheit ist, und den Patroklos tötet er erst hinterrücks, als dieser von Apollo durch einen Schlag betäubt und wehrlos gemacht und von Euphorbos die vielleicht schon tödliche Wunde empfangen hat. Der griechische National- stolz wollte eben die Überlegenheit der Feinde im offnen Kampfe nicht aner¬ kennen, und Homer stand unwillkürlich unter diesem Einfluß.*) Auch Knötel nimmt übrigens an, daß Homer aus unbekannten Gründen später Skepsis ver¬ lassen habe und mit einem Sängerchor in Griechenland herumgezogen sei, um seine Gedichte vorzutragen — natürlich auch nur an Fürstenhöfen. Seine Gedichte fanden viel Beifall und regten zur Nachahmung an. Bald mußte der Dichter die Beobachtung machen, daß der „neueste Gesang immer der beliebteste sei" (Ob. 1, 351—52). Um deshalb nicht von Nebenbuhlern ver¬ dunkelt zu werden, wenn er immer nur vom troischen Kriege sänge, begann er ein zweites umfangreiches Gedicht, das ebenso sehr in der Märchenwelt spielt, wie die Ilias wirkliche Kämpfe schildert. Anmutig ist dabei der Scherz des Dichters (vgl. Knötel II, S. 299), daß er den Odysseus diese Märchen von dem Khklopen, Aiolos, den Lästrygonen, Skhlla und Charybdis, Kirke und Kalypso mit der ernstesten Miene von der Welt erzählen, ja die Zuhörer ausdrücklich er¬ klären läßt, daß er wahrhaft sei und nicht wie ein listiger Schelm und Schwindler auftrete (Ob. 11, 363—369). Doch fand er, nach Knötel (I, 263 u. ff.), bei seinen Zeitgenossen nicht die Anerkennung, die er sür seine großen Werke, die „Tochter des Zeus," hätte erwarten können. Denn als er nach langem Wandern erblindet in seine Vaterstadt Smhrna zurückkehrte und die feierliche Anerkennung seiner Werke etwa zum Zwecke des Vortrags bei den großen Festen (wie es später durch die Vorschrift des Solon oder Peisistratos in Athen geschah) ver¬ langte, stieß er auf den Widerspruch eines Prhtanen, dem vielleicht, wie später den Philosophen, die Behandlung der Götter zu frei und unehrerbietig schien, und wandte sich deshalb nach Kymü. Doch auch in dieser, gar zu sehr made- *) In dem genannten Programm sind noch andre Gründe für diese Behauptung an¬ geführt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/392>, abgerufen am 01.09.2024.