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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Zur Hilfslehrerfrage in Preuße"

thörichten Anspruch einzugehen halte er nicht für der Mühe wert, die Lehrer
hätten nichts zu referiren, und Assessoren wären sie auch nicht, denn sie stünden
meist beim Unterricht. Wir geben gern zu, daß sich die vorgeschlagnen Titel für
die Schule vielleicht ebenso wenig eignen, wie für andre Berufsarten, in denen
sie bereits eingeführt worden sind. Aber darum erscheint es doch noch nicht ge¬
rechtfertigt, wenn der Minister in einer so wegwerfend geringschätzigen Weise
über eine Bitte hinweggeht, die ihm in ehrerbietigem Tone vorgetragen worden
ist, und zu der wahrlich nicht die Titelsucht, sondern die bittern Erfahrungen
im gesellschaftlichen Verkehr die Veranlassung gegeben haben.

Im übrigen ist die Veweisführnng der Regierung folgende: Für die lange
Wartezeit treffe sie keine Verantwortung, die Schuld liege an der Über¬
produktion der frühern Jahre, soweit sie selbst in Betracht komme, seien die Ver¬
hältnisse befriedigend geordnet; von einer besonders schwierigen Lage der Schnl-
nmtskcindidnten könne nicht die Rede sein, denn andre Beamtengrnppen seien
noch ungünstiger gestellt, und man habe bestimmte Anzeichen für eine Besserung.

Richtig ist, daß der Andrang zum Lehrfach das Bedürfnis weit über¬
schritten hat, aber die Schuld an der langen Wartezeit trägt nicht bloß die
Überproduktion, sondern neben anderm besonders die Ausnutzung der Hilfs¬
kräfte. Zunächst aber fragt es sich, ob nicht die Regierung bei dem allzu
starken Andrang hätte warnend ihre Stimme erheben können. Die Zahl der
Kandidaten wäre dann Wohl kaum zu einer Höhe angeschwollen, die den jähr¬
lichen Bedarf fast um das achtfache übertrifft, aber das ist ein Punkt von
nebensächlicher Bedeutung, denn erstens ist es fraglich, ob eine amtliche Warnung
den Zudrang auf das Bedürfnis herabgedrückt hätte, und zweitens war die Re¬
gierung zu einer Warnung rechtlich wenigstens nicht verpflichtet. Nun hat sie aber
durch die Zirkularverfügung vom 3. Januar 1894 über die Heranziehung der
Lehrer zur höchsten Stundenzahl die Notlage der Hilfslehrer noch verschlimmert.
Sie behauptet zwar, die Lehrerschaft sei trotzdem gegen früher entlastet, aber
sehen wir, mit welchem Rechte! Der absolute Zuwachs an Schülern betrug
vom 1. April 1892 bis zum 1. April 1894 2972, die Zahl der jährlichen
Neuanstellungen ist nach den Worten des Ministers zurückgegangen, und
zwar von durchschnittlich 225 auf 193 im Jahre 1894. Nun ist es freilich
uicht wahrscheinlich, daß der Bedarf an Lehrkräften im Verhältnis zur steigenden
Schülerzahl zunimmt; daß sich aber beide Zahlen im umgekehrten Verhältnis
zu einander entwickeln, ist doch gewiß noch weniger wahrscheinlich. In der
That zeigen denn z. B. in Hessen-Nassau die Lehrplüne von 36 Anstalten seit
jener Verfügung durchgängig eine Erhöhung der Durchschuittsstundenzahl.

Die scharfen Bestimmungen über die höchste Stundenzahl sind übrigens
in letzter Zeit in einigen Punkten gemildert worden. Die Regierung hat auf
diesem Wege zweierlei erreicht; da auch jetzt gegen früher eine Mehrbelastung
bestehen bleibt, so spart sie eine Reihe von Lehrkräften, und da die Mehr-


Zur Hilfslehrerfrage in Preuße»

thörichten Anspruch einzugehen halte er nicht für der Mühe wert, die Lehrer
hätten nichts zu referiren, und Assessoren wären sie auch nicht, denn sie stünden
meist beim Unterricht. Wir geben gern zu, daß sich die vorgeschlagnen Titel für
die Schule vielleicht ebenso wenig eignen, wie für andre Berufsarten, in denen
sie bereits eingeführt worden sind. Aber darum erscheint es doch noch nicht ge¬
rechtfertigt, wenn der Minister in einer so wegwerfend geringschätzigen Weise
über eine Bitte hinweggeht, die ihm in ehrerbietigem Tone vorgetragen worden
ist, und zu der wahrlich nicht die Titelsucht, sondern die bittern Erfahrungen
im gesellschaftlichen Verkehr die Veranlassung gegeben haben.

Im übrigen ist die Veweisführnng der Regierung folgende: Für die lange
Wartezeit treffe sie keine Verantwortung, die Schuld liege an der Über¬
produktion der frühern Jahre, soweit sie selbst in Betracht komme, seien die Ver¬
hältnisse befriedigend geordnet; von einer besonders schwierigen Lage der Schnl-
nmtskcindidnten könne nicht die Rede sein, denn andre Beamtengrnppen seien
noch ungünstiger gestellt, und man habe bestimmte Anzeichen für eine Besserung.

Richtig ist, daß der Andrang zum Lehrfach das Bedürfnis weit über¬
schritten hat, aber die Schuld an der langen Wartezeit trägt nicht bloß die
Überproduktion, sondern neben anderm besonders die Ausnutzung der Hilfs¬
kräfte. Zunächst aber fragt es sich, ob nicht die Regierung bei dem allzu
starken Andrang hätte warnend ihre Stimme erheben können. Die Zahl der
Kandidaten wäre dann Wohl kaum zu einer Höhe angeschwollen, die den jähr¬
lichen Bedarf fast um das achtfache übertrifft, aber das ist ein Punkt von
nebensächlicher Bedeutung, denn erstens ist es fraglich, ob eine amtliche Warnung
den Zudrang auf das Bedürfnis herabgedrückt hätte, und zweitens war die Re¬
gierung zu einer Warnung rechtlich wenigstens nicht verpflichtet. Nun hat sie aber
durch die Zirkularverfügung vom 3. Januar 1894 über die Heranziehung der
Lehrer zur höchsten Stundenzahl die Notlage der Hilfslehrer noch verschlimmert.
Sie behauptet zwar, die Lehrerschaft sei trotzdem gegen früher entlastet, aber
sehen wir, mit welchem Rechte! Der absolute Zuwachs an Schülern betrug
vom 1. April 1892 bis zum 1. April 1894 2972, die Zahl der jährlichen
Neuanstellungen ist nach den Worten des Ministers zurückgegangen, und
zwar von durchschnittlich 225 auf 193 im Jahre 1894. Nun ist es freilich
uicht wahrscheinlich, daß der Bedarf an Lehrkräften im Verhältnis zur steigenden
Schülerzahl zunimmt; daß sich aber beide Zahlen im umgekehrten Verhältnis
zu einander entwickeln, ist doch gewiß noch weniger wahrscheinlich. In der
That zeigen denn z. B. in Hessen-Nassau die Lehrplüne von 36 Anstalten seit
jener Verfügung durchgängig eine Erhöhung der Durchschuittsstundenzahl.

Die scharfen Bestimmungen über die höchste Stundenzahl sind übrigens
in letzter Zeit in einigen Punkten gemildert worden. Die Regierung hat auf
diesem Wege zweierlei erreicht; da auch jetzt gegen früher eine Mehrbelastung
bestehen bleibt, so spart sie eine Reihe von Lehrkräften, und da die Mehr-


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[0226] Zur Hilfslehrerfrage in Preuße» thörichten Anspruch einzugehen halte er nicht für der Mühe wert, die Lehrer hätten nichts zu referiren, und Assessoren wären sie auch nicht, denn sie stünden meist beim Unterricht. Wir geben gern zu, daß sich die vorgeschlagnen Titel für die Schule vielleicht ebenso wenig eignen, wie für andre Berufsarten, in denen sie bereits eingeführt worden sind. Aber darum erscheint es doch noch nicht ge¬ rechtfertigt, wenn der Minister in einer so wegwerfend geringschätzigen Weise über eine Bitte hinweggeht, die ihm in ehrerbietigem Tone vorgetragen worden ist, und zu der wahrlich nicht die Titelsucht, sondern die bittern Erfahrungen im gesellschaftlichen Verkehr die Veranlassung gegeben haben. Im übrigen ist die Veweisführnng der Regierung folgende: Für die lange Wartezeit treffe sie keine Verantwortung, die Schuld liege an der Über¬ produktion der frühern Jahre, soweit sie selbst in Betracht komme, seien die Ver¬ hältnisse befriedigend geordnet; von einer besonders schwierigen Lage der Schnl- nmtskcindidnten könne nicht die Rede sein, denn andre Beamtengrnppen seien noch ungünstiger gestellt, und man habe bestimmte Anzeichen für eine Besserung. Richtig ist, daß der Andrang zum Lehrfach das Bedürfnis weit über¬ schritten hat, aber die Schuld an der langen Wartezeit trägt nicht bloß die Überproduktion, sondern neben anderm besonders die Ausnutzung der Hilfs¬ kräfte. Zunächst aber fragt es sich, ob nicht die Regierung bei dem allzu starken Andrang hätte warnend ihre Stimme erheben können. Die Zahl der Kandidaten wäre dann Wohl kaum zu einer Höhe angeschwollen, die den jähr¬ lichen Bedarf fast um das achtfache übertrifft, aber das ist ein Punkt von nebensächlicher Bedeutung, denn erstens ist es fraglich, ob eine amtliche Warnung den Zudrang auf das Bedürfnis herabgedrückt hätte, und zweitens war die Re¬ gierung zu einer Warnung rechtlich wenigstens nicht verpflichtet. Nun hat sie aber durch die Zirkularverfügung vom 3. Januar 1894 über die Heranziehung der Lehrer zur höchsten Stundenzahl die Notlage der Hilfslehrer noch verschlimmert. Sie behauptet zwar, die Lehrerschaft sei trotzdem gegen früher entlastet, aber sehen wir, mit welchem Rechte! Der absolute Zuwachs an Schülern betrug vom 1. April 1892 bis zum 1. April 1894 2972, die Zahl der jährlichen Neuanstellungen ist nach den Worten des Ministers zurückgegangen, und zwar von durchschnittlich 225 auf 193 im Jahre 1894. Nun ist es freilich uicht wahrscheinlich, daß der Bedarf an Lehrkräften im Verhältnis zur steigenden Schülerzahl zunimmt; daß sich aber beide Zahlen im umgekehrten Verhältnis zu einander entwickeln, ist doch gewiß noch weniger wahrscheinlich. In der That zeigen denn z. B. in Hessen-Nassau die Lehrplüne von 36 Anstalten seit jener Verfügung durchgängig eine Erhöhung der Durchschuittsstundenzahl. Die scharfen Bestimmungen über die höchste Stundenzahl sind übrigens in letzter Zeit in einigen Punkten gemildert worden. Die Regierung hat auf diesem Wege zweierlei erreicht; da auch jetzt gegen früher eine Mehrbelastung bestehen bleibt, so spart sie eine Reihe von Lehrkräften, und da die Mehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/226>, abgerufen am 01.09.2024.