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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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politische Zeitbetrachtungen

abberufen wurde. Denn darüber, daß sein System "unentwegt" werde fortgesetzt
werden, wurde ja der Reichstag keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Uns
scheint, daß der Grundsatz des Septemberknrses, die bestehenden Gesetze zwar
rücksichtslos und bis an die äußerste Grenze ihrer Auslegungsfähigkeit, aber
doch nicht darüber hinaus anzuwenden, von der Nation immer noch wenigstens
für erträglich gehalten wird. Man hatte ein Gefühl der Erleichterung, daß
dem Lande nicht wieder zugemutet wurde, neue Verschärfungen der politischen
Strafgesetze auf sich zu nehmen. schlimmstenfalls ist man darüber beruhigt,
daß weder der gegenwärtige Reichstag, noch im Fall seiner Auflösung sein
Nachfolger hierzu jemals seine Zustimmung geben wird, und ohne diese Zu¬
stimmung können nun einmal verfassungsmäßig Reichsgesetze nicht zustande
kommen.

Wenn die parlamentarische Opposition gegen die Art der Anwendung der
bestehenden Gesetze durch die Gerichte ankämpft, so fehlt ihr der rechte Reso¬
nanzboden, solange es sich nicht um augenfällige und schreiende Gesetzesver¬
letzungen handelt. Wir haben unsern schweren Bedenken gegen die neueste
Richtung der Strafrechtsprechung Ausdruck gegeben und werden fortfahren,
gegen ihre Irrtümer anzukämpfen. Immerhin sind es nur Irrtümer, nicht
Rechtsbeugungen gewesen. Die Verurteilungen waren über Gerechte und Un¬
gerechte, sogar über Staatsanwälte herniedergegangen, es war auch eine
Anzahl freimütig und männlich begründeter Freisprechungen zu verzeichnen,
lind noch hat gerade in den bedenklichsten Fällen der oberste deutsche Gerichts¬
hof nicht gesprochen. So haben gewisse gerichtliche Verfolgungen zwar hin¬
gereicht, den Zorn über die Ungezogenheiten der Sozialdemokratie gegen teure
Empfindungen der Nation auszulöschen, aber nicht hingereicht, diesen Zorn
geradezu in Mitleid mit den Opfern der Justiz zu verwandeln.

Auch wer die übermäßig scharfe Anwendung der bestehenden Gesetze sür
einen politischen Mißgriff hält, kann der Regierung nicht gut einen Vorwurf
daraus machen, wenn sich nun diese Anwendung gleichmüßig gegen alle politischen
Parteien richtet. Dies wäre z. B. auf dem Gebiete des Vereinsrechts sogar
dringend zu wünschen, da es kein besseres Mittel giebt, die Ungereimtheiten
jener polizeistaatlichen Überbleibsel dem ganzen Volke recht deutlich vor Augen
zu stellen. Geschieht es nicht, so wird die Sozialdemokratie die Rechts-
ungleichheit im Nechtsstciate wieder gehörig ins Licht zu rücken wissen und die
bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung dadurch bekämpfen, daß sie --
strenge Aufrechterhaltung dieser Ordnung gegen jedermann fordert. Das
ist ja gerade die ungeheure Verblendung der sogenannten staatserhaltenden,
daß sie nicht sehen, wie alle Maßregeln ihnen früher oder später selbst zum
Verderben ausschlagen müssen, die nicht vor dem natürlichen, gottlob noch
immer lebendigen Rechtsgefühl des Volkes bestehen können. Soeben schickt
sich der sächsische Landtag an, mit der Verschlechterung des Wahlrechts eine
solche Ungerechtigkeit gegen die untern Klassen zu begehen, und für die Ent-


politische Zeitbetrachtungen

abberufen wurde. Denn darüber, daß sein System „unentwegt" werde fortgesetzt
werden, wurde ja der Reichstag keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Uns
scheint, daß der Grundsatz des Septemberknrses, die bestehenden Gesetze zwar
rücksichtslos und bis an die äußerste Grenze ihrer Auslegungsfähigkeit, aber
doch nicht darüber hinaus anzuwenden, von der Nation immer noch wenigstens
für erträglich gehalten wird. Man hatte ein Gefühl der Erleichterung, daß
dem Lande nicht wieder zugemutet wurde, neue Verschärfungen der politischen
Strafgesetze auf sich zu nehmen. schlimmstenfalls ist man darüber beruhigt,
daß weder der gegenwärtige Reichstag, noch im Fall seiner Auflösung sein
Nachfolger hierzu jemals seine Zustimmung geben wird, und ohne diese Zu¬
stimmung können nun einmal verfassungsmäßig Reichsgesetze nicht zustande
kommen.

Wenn die parlamentarische Opposition gegen die Art der Anwendung der
bestehenden Gesetze durch die Gerichte ankämpft, so fehlt ihr der rechte Reso¬
nanzboden, solange es sich nicht um augenfällige und schreiende Gesetzesver¬
letzungen handelt. Wir haben unsern schweren Bedenken gegen die neueste
Richtung der Strafrechtsprechung Ausdruck gegeben und werden fortfahren,
gegen ihre Irrtümer anzukämpfen. Immerhin sind es nur Irrtümer, nicht
Rechtsbeugungen gewesen. Die Verurteilungen waren über Gerechte und Un¬
gerechte, sogar über Staatsanwälte herniedergegangen, es war auch eine
Anzahl freimütig und männlich begründeter Freisprechungen zu verzeichnen,
lind noch hat gerade in den bedenklichsten Fällen der oberste deutsche Gerichts¬
hof nicht gesprochen. So haben gewisse gerichtliche Verfolgungen zwar hin¬
gereicht, den Zorn über die Ungezogenheiten der Sozialdemokratie gegen teure
Empfindungen der Nation auszulöschen, aber nicht hingereicht, diesen Zorn
geradezu in Mitleid mit den Opfern der Justiz zu verwandeln.

Auch wer die übermäßig scharfe Anwendung der bestehenden Gesetze sür
einen politischen Mißgriff hält, kann der Regierung nicht gut einen Vorwurf
daraus machen, wenn sich nun diese Anwendung gleichmüßig gegen alle politischen
Parteien richtet. Dies wäre z. B. auf dem Gebiete des Vereinsrechts sogar
dringend zu wünschen, da es kein besseres Mittel giebt, die Ungereimtheiten
jener polizeistaatlichen Überbleibsel dem ganzen Volke recht deutlich vor Augen
zu stellen. Geschieht es nicht, so wird die Sozialdemokratie die Rechts-
ungleichheit im Nechtsstciate wieder gehörig ins Licht zu rücken wissen und die
bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung dadurch bekämpfen, daß sie —
strenge Aufrechterhaltung dieser Ordnung gegen jedermann fordert. Das
ist ja gerade die ungeheure Verblendung der sogenannten staatserhaltenden,
daß sie nicht sehen, wie alle Maßregeln ihnen früher oder später selbst zum
Verderben ausschlagen müssen, die nicht vor dem natürlichen, gottlob noch
immer lebendigen Rechtsgefühl des Volkes bestehen können. Soeben schickt
sich der sächsische Landtag an, mit der Verschlechterung des Wahlrechts eine
solche Ungerechtigkeit gegen die untern Klassen zu begehen, und für die Ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/10>, abgerufen am 01.09.2024.