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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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politische Zeitbetrachtungen

cum die Publizistik ihre Hauptaufgabe, auf die Stimmung der
Nation einzuwirken, erfüllen will, so muß sie sich vorher not¬
wendig über die augenblickliche Beschaffenheit dieser Stimmung
klar geworden sein. Die hauptsächlichste Erkenntnisquelle, die
Tngespresse der verschiednen politischen Parteirichtungen, ist
aber mit Vorsicht zu benutzen, da auch sie "Stimmung machen" will und als
wirksamstes Mittel hierzu bewußt oder unbewußt den Kunstgriff gebraucht,
die erst noch zu erregende Stimmung bereits für vorhanden, ja für herrschend
zu erklären. Es ist deshalb nötig, bei ihr zwischen den Zeilen zu lesen
und auch auf das zu achten, was sie verschweigt oder nnr beiläufig erwähnt,
worüber sie besonders klagt oder wogegen sie besonders ankämpft. Das so
gewonnene Ergebnis läßt sich dann im Gespräch mit politisch Gleich- und mit
Andersgesinnten nachprüfen. Die Hauptsache bleibt aber, die Tagesereignisse
möglichst objektiv ans sich wirken zu lassen. Wer sich dabei von Vorein¬
genommenheit wirklich frei und zugleich in lebendiger Verbindung weiß mit
den unsichtbaren und geheimnisvollen Kräften, die das Gemüt seines Volkes
lenken, dem mag es gelingen, auch die Grundstimmung oder die Durchschnitts-
empfindung der viri boni im Volke, oder mit andern Worten die öffentliche
Meinung im guten Sinne zu erkennen.

Wir erheben nicht den Anspruch, diese Gabe der Intuition zu haben,
und sind jedenfalls überrascht von dem verhältnismäßig ruhigen Verlaufe, den
die Veratungen des unlängst eröffneten Reichstags genommen haben. Die
Zurückhaltung, die gegenüber den Angriffen der Linken sowohl von der Regie¬
rung wie von den augenscheinlich in gedrückter Stimmung befindlichen Kon¬
servativen geübt wurde, giebt hierfür keine genügende Erklärung. Auch nicht,
daß der Minister, der ganz besonders zur Vernichtung der Sozialdemokratie
berufen schien, unmittelbar vor Eröffnung der Session plötzlich nach Walhalla


Grenzboten I 1896 1


politische Zeitbetrachtungen

cum die Publizistik ihre Hauptaufgabe, auf die Stimmung der
Nation einzuwirken, erfüllen will, so muß sie sich vorher not¬
wendig über die augenblickliche Beschaffenheit dieser Stimmung
klar geworden sein. Die hauptsächlichste Erkenntnisquelle, die
Tngespresse der verschiednen politischen Parteirichtungen, ist
aber mit Vorsicht zu benutzen, da auch sie „Stimmung machen" will und als
wirksamstes Mittel hierzu bewußt oder unbewußt den Kunstgriff gebraucht,
die erst noch zu erregende Stimmung bereits für vorhanden, ja für herrschend
zu erklären. Es ist deshalb nötig, bei ihr zwischen den Zeilen zu lesen
und auch auf das zu achten, was sie verschweigt oder nnr beiläufig erwähnt,
worüber sie besonders klagt oder wogegen sie besonders ankämpft. Das so
gewonnene Ergebnis läßt sich dann im Gespräch mit politisch Gleich- und mit
Andersgesinnten nachprüfen. Die Hauptsache bleibt aber, die Tagesereignisse
möglichst objektiv ans sich wirken zu lassen. Wer sich dabei von Vorein¬
genommenheit wirklich frei und zugleich in lebendiger Verbindung weiß mit
den unsichtbaren und geheimnisvollen Kräften, die das Gemüt seines Volkes
lenken, dem mag es gelingen, auch die Grundstimmung oder die Durchschnitts-
empfindung der viri boni im Volke, oder mit andern Worten die öffentliche
Meinung im guten Sinne zu erkennen.

Wir erheben nicht den Anspruch, diese Gabe der Intuition zu haben,
und sind jedenfalls überrascht von dem verhältnismäßig ruhigen Verlaufe, den
die Veratungen des unlängst eröffneten Reichstags genommen haben. Die
Zurückhaltung, die gegenüber den Angriffen der Linken sowohl von der Regie¬
rung wie von den augenscheinlich in gedrückter Stimmung befindlichen Kon¬
servativen geübt wurde, giebt hierfür keine genügende Erklärung. Auch nicht,
daß der Minister, der ganz besonders zur Vernichtung der Sozialdemokratie
berufen schien, unmittelbar vor Eröffnung der Session plötzlich nach Walhalla


Grenzboten I 1896 1
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[0009] [Abbildung] politische Zeitbetrachtungen cum die Publizistik ihre Hauptaufgabe, auf die Stimmung der Nation einzuwirken, erfüllen will, so muß sie sich vorher not¬ wendig über die augenblickliche Beschaffenheit dieser Stimmung klar geworden sein. Die hauptsächlichste Erkenntnisquelle, die Tngespresse der verschiednen politischen Parteirichtungen, ist aber mit Vorsicht zu benutzen, da auch sie „Stimmung machen" will und als wirksamstes Mittel hierzu bewußt oder unbewußt den Kunstgriff gebraucht, die erst noch zu erregende Stimmung bereits für vorhanden, ja für herrschend zu erklären. Es ist deshalb nötig, bei ihr zwischen den Zeilen zu lesen und auch auf das zu achten, was sie verschweigt oder nnr beiläufig erwähnt, worüber sie besonders klagt oder wogegen sie besonders ankämpft. Das so gewonnene Ergebnis läßt sich dann im Gespräch mit politisch Gleich- und mit Andersgesinnten nachprüfen. Die Hauptsache bleibt aber, die Tagesereignisse möglichst objektiv ans sich wirken zu lassen. Wer sich dabei von Vorein¬ genommenheit wirklich frei und zugleich in lebendiger Verbindung weiß mit den unsichtbaren und geheimnisvollen Kräften, die das Gemüt seines Volkes lenken, dem mag es gelingen, auch die Grundstimmung oder die Durchschnitts- empfindung der viri boni im Volke, oder mit andern Worten die öffentliche Meinung im guten Sinne zu erkennen. Wir erheben nicht den Anspruch, diese Gabe der Intuition zu haben, und sind jedenfalls überrascht von dem verhältnismäßig ruhigen Verlaufe, den die Veratungen des unlängst eröffneten Reichstags genommen haben. Die Zurückhaltung, die gegenüber den Angriffen der Linken sowohl von der Regie¬ rung wie von den augenscheinlich in gedrückter Stimmung befindlichen Kon¬ servativen geübt wurde, giebt hierfür keine genügende Erklärung. Auch nicht, daß der Minister, der ganz besonders zur Vernichtung der Sozialdemokratie berufen schien, unmittelbar vor Eröffnung der Session plötzlich nach Walhalla Grenzboten I 1896 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/9>, abgerufen am 24.11.2024.