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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Politische Zeitbetrcichtungen

Wicklung der Dinge im Reiche hängt alles davon ab, ob auch dort etwa ähn¬
liche Maßregeln geplant werden. Niemand glaubt, daß das Ministerium
Hohenlohe dafür zu haben sein werde, ein Grund mehr für die Opposition,
dem würdigen alten Herrn an der Spitze der Rcichsgeschäfte das Leben nicht
zu sauer zu machen. Niemand will sich aber auch ausreden lassen, daß die
Tage dieses Ministeriums gezählt seien, und es ist Sache des Temperaments,
ob man diesen ewigen Unsicherheiten nur mit Unbehagen oder mit tiefem Mi߬
trauen gegenübersteht.

Wären freilich Pläne ernst zu nehmen, wie sie jüngst mit cynischer Offen¬
heit ein Blatt entrollte, dessen Äußerungen öfter mit der Person des ersten
deutschen Reichskanzlers in Verbindung gebracht werden, dann wäre nicht mehr
bloß Mißtrauen, sondern laute Entrüstung am Platze. Der Gedanke, die
deutschen Sozialdemokraten durch Ausnahmegesetze und rechtlose Willkür zur
Verzweiflung und zum offnen Aufruhr zu treiben, um sie dann in einem großen
Blutbad vernichten zu können, ist von so teuflischer Bosheit und zugleich so
kläglich dumm, daß die Freunde des Fürsten Bismarck dringend wünschen müssen,
er möge sich von einer unter seiner Flagge segelnden Ungeheuerlichkeit lossagen,
die ihn mit einemmale des Ruhmes berauben würde, der beste Deutsche und der
größte Staatsmann des Jahrhunderts gewesen zu sein. Amtlich hat ja Fürst
Bismarck in Lehre und Wandel immer den Satz verfochten, daß man vor der
Kriegserklärung den Feind ins Unrecht gesetzt haben müsse, und daß er die
Verantwortung, loszuschlagen, nicht tragen möge, solange noch die Möglichkeit
einer friedlichen Auseinandersetzung bestünde. Was den Franzosen oder Russen
gegenüber recht war. sollte das nicht gegen die eignen Landsleute billig sein?

Wir leben des Glaubens, daß eine friedliche Auseinandersetzung der
obern und der untern Klassen in Deutschland möglich ist, und daß sie
zugleich die unerläßliche Voraussetzung dafür bildet, daß eine jugendkräftige,
hochgebildete Nation von mehr als fünfzig Millionen, denen der heimatliche
Boden schon längst zu enge geworden ist, im Wettbewerb um die Herr¬
schaft der Erde ihre Zukunft behauptet. Zur Wiederherstellung des innern
Friedens ist gar nichts weiter notwendig, als daß die in allen deutschen Ver¬
fassungen längst verbrieften Grundsätze der Gleichberechtigung jedes Staats¬
bürgers vor dem Gesetz und bei Ausübung der politischen Rechte von den
höhern und den besitzenden Klassen endlich ohne Hintergedanken anerkannt
werden. Wir leiden daran, daß diese Rechte vor einem halben Jahrhundert
dem Volke doch nur widerwillig zugestanden worden sind, oder daß man, wie
bei dem allgemeinen Wahlrecht, sich mit der Hoffnung geschmeichelt hat. die
Massen stets in der Hand zu behalten. Diese Hoffnung hat -- nicht ohne
Schuld der Machthaber -- getrogen, und hente weiß man sich keinen andern
Rat. als ihnen die verliehenen Rechte wieder streitig zu macheu. Auch für
Deutschland scheint sich die geschichtliche Erfahrung aller großen Verfassungs-
staaten zu wiederholen, daß die politischen Rechte, einmal errungen, erst in


Politische Zeitbetrcichtungen

Wicklung der Dinge im Reiche hängt alles davon ab, ob auch dort etwa ähn¬
liche Maßregeln geplant werden. Niemand glaubt, daß das Ministerium
Hohenlohe dafür zu haben sein werde, ein Grund mehr für die Opposition,
dem würdigen alten Herrn an der Spitze der Rcichsgeschäfte das Leben nicht
zu sauer zu machen. Niemand will sich aber auch ausreden lassen, daß die
Tage dieses Ministeriums gezählt seien, und es ist Sache des Temperaments,
ob man diesen ewigen Unsicherheiten nur mit Unbehagen oder mit tiefem Mi߬
trauen gegenübersteht.

Wären freilich Pläne ernst zu nehmen, wie sie jüngst mit cynischer Offen¬
heit ein Blatt entrollte, dessen Äußerungen öfter mit der Person des ersten
deutschen Reichskanzlers in Verbindung gebracht werden, dann wäre nicht mehr
bloß Mißtrauen, sondern laute Entrüstung am Platze. Der Gedanke, die
deutschen Sozialdemokraten durch Ausnahmegesetze und rechtlose Willkür zur
Verzweiflung und zum offnen Aufruhr zu treiben, um sie dann in einem großen
Blutbad vernichten zu können, ist von so teuflischer Bosheit und zugleich so
kläglich dumm, daß die Freunde des Fürsten Bismarck dringend wünschen müssen,
er möge sich von einer unter seiner Flagge segelnden Ungeheuerlichkeit lossagen,
die ihn mit einemmale des Ruhmes berauben würde, der beste Deutsche und der
größte Staatsmann des Jahrhunderts gewesen zu sein. Amtlich hat ja Fürst
Bismarck in Lehre und Wandel immer den Satz verfochten, daß man vor der
Kriegserklärung den Feind ins Unrecht gesetzt haben müsse, und daß er die
Verantwortung, loszuschlagen, nicht tragen möge, solange noch die Möglichkeit
einer friedlichen Auseinandersetzung bestünde. Was den Franzosen oder Russen
gegenüber recht war. sollte das nicht gegen die eignen Landsleute billig sein?

Wir leben des Glaubens, daß eine friedliche Auseinandersetzung der
obern und der untern Klassen in Deutschland möglich ist, und daß sie
zugleich die unerläßliche Voraussetzung dafür bildet, daß eine jugendkräftige,
hochgebildete Nation von mehr als fünfzig Millionen, denen der heimatliche
Boden schon längst zu enge geworden ist, im Wettbewerb um die Herr¬
schaft der Erde ihre Zukunft behauptet. Zur Wiederherstellung des innern
Friedens ist gar nichts weiter notwendig, als daß die in allen deutschen Ver¬
fassungen längst verbrieften Grundsätze der Gleichberechtigung jedes Staats¬
bürgers vor dem Gesetz und bei Ausübung der politischen Rechte von den
höhern und den besitzenden Klassen endlich ohne Hintergedanken anerkannt
werden. Wir leiden daran, daß diese Rechte vor einem halben Jahrhundert
dem Volke doch nur widerwillig zugestanden worden sind, oder daß man, wie
bei dem allgemeinen Wahlrecht, sich mit der Hoffnung geschmeichelt hat. die
Massen stets in der Hand zu behalten. Diese Hoffnung hat — nicht ohne
Schuld der Machthaber — getrogen, und hente weiß man sich keinen andern
Rat. als ihnen die verliehenen Rechte wieder streitig zu macheu. Auch für
Deutschland scheint sich die geschichtliche Erfahrung aller großen Verfassungs-
staaten zu wiederholen, daß die politischen Rechte, einmal errungen, erst in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/11>, abgerufen am 01.09.2024.