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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

Minderheit des Volks (Wenns sonst auch gerade nicht Quietisten sind!) auch
lebhaft erklären würde. Aus dem einen Teil des Gegensatzes, besonders wenn
er zur Macht gelangt, erzeugt sich mit Naturnotwendigkeit der andre in gleicher
Heftigkeit: je stärker der Ball auf die Erde geworfen wird, desto höher springt
er empor. Aber daß man darum, weil der Streit in Gezänk ausartet und
widerwärtige Formen annimmt, oder weil die deutsche Neigung zur Sekten¬
bildung eine Menge Unterparteien schafft, an einen Zerfall der Gegensätzlich¬
keit glaubt oder es für besser hält, sich von der ganzen Erörterung zurück¬
zuziehen, das ist ein unüberlegter Schluß. Es ist das ganz derselbe Irrtum,
wie ihn unsre urväterlichen Widersacher jenseits der Vogesen vor fünfund¬
zwanzig Jahren begingen, als sie glaubten, daß unsre allerdings mit großem
Ernst betriebnen innern Unfreuudlichkeiteu den Gegensatz von Deutsch und
Welsch im Falle des Krieges verschwinden lassen würden; der Irrtum, der
ihnen bis auf den heutigen Tag so vielen Ärger und uns die volle Glorie
der Einigung eingetragen hat. Das naturnotwendige Bestehen dieses Gegen¬
satzes verkennen ja selbst die französischen Sozialdemokraten nicht, und unsre
Abart setzt nach echt deutscher Denkweise die Fraktionsspaltung über den
Hauptgegensatz; aber der "nicht anerkannte" Fels ist doch immer noch da und
hart genug, sodaß sich, wenn es einmal Ernst wird, eine schone Menge seiner
Leugner an ihm den Kopf einrennen kann. Und so schaffen auch alle, die
den Gegensatz von konservativ und liberal für verschwindend erklären, ihn
nicht aus der Welt: bei jeder ernsten Probe wird er ihnen eutgegengläuzen,
daß ihnen die Augen übergehen. Er ist da, und er hat sein Recht. Man kaun
für seine eigne Person einen Waffenstillstand in diesem Kampfe wünschen -- und
das thun die, die nach unparteiischen Zeitungen rufen --, aber sich ganz aus
dem Kampf zurückziehen, das würde eine Gleichgiltigkeit gegen die gute Ordnung
des Staates bedeuten, und solche Gleichgiltigkeit ist, wenn sie auch nicht mehr
bestraft wird wie zu Solons Zeiten, doch jedenfalls kein Ideal für einen Mann,
der sein Vaterland lieb hat.

Da höre ich zwei Stimmen dazwischen rufen, eine tiefdvnnernde und
eine hellschrillende. "Seht den Mann!, ruft die eine, der erklärt jede
Frechheit, sie sei noch so arg, jede Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung,
jeden Spott über Ehrwürdiges für berechtigt!" "Seht den Mann!, schreit die
andre, er will alles zulassen, jede Verhöhnung des Volks und seiner guten
Rechte, jede Herabwürdigung der einfachen, aber braven Leute, jede Unter¬
drückung!" "Gemach, meine Herren, dringt da endlich meine eigne Stimme
(lÄr miniato) dnrch, dieser Mann thut weder das eine noch das andre. Er
hats weder auf Könige noch ans Bankiers noch auf Proletarier abgesehen.
Gegen keinen Paragraphen des geschriebnen oder des ungeschriebnen Straf¬
gesetzbuchs spielt er den doppelt moralischen Verteidiger. Keine ehrliche Absicht
und kein wohlmeinendes Streben entschuldigt niederträchtige Handlungen; aber


Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

Minderheit des Volks (Wenns sonst auch gerade nicht Quietisten sind!) auch
lebhaft erklären würde. Aus dem einen Teil des Gegensatzes, besonders wenn
er zur Macht gelangt, erzeugt sich mit Naturnotwendigkeit der andre in gleicher
Heftigkeit: je stärker der Ball auf die Erde geworfen wird, desto höher springt
er empor. Aber daß man darum, weil der Streit in Gezänk ausartet und
widerwärtige Formen annimmt, oder weil die deutsche Neigung zur Sekten¬
bildung eine Menge Unterparteien schafft, an einen Zerfall der Gegensätzlich¬
keit glaubt oder es für besser hält, sich von der ganzen Erörterung zurück¬
zuziehen, das ist ein unüberlegter Schluß. Es ist das ganz derselbe Irrtum,
wie ihn unsre urväterlichen Widersacher jenseits der Vogesen vor fünfund¬
zwanzig Jahren begingen, als sie glaubten, daß unsre allerdings mit großem
Ernst betriebnen innern Unfreuudlichkeiteu den Gegensatz von Deutsch und
Welsch im Falle des Krieges verschwinden lassen würden; der Irrtum, der
ihnen bis auf den heutigen Tag so vielen Ärger und uns die volle Glorie
der Einigung eingetragen hat. Das naturnotwendige Bestehen dieses Gegen¬
satzes verkennen ja selbst die französischen Sozialdemokraten nicht, und unsre
Abart setzt nach echt deutscher Denkweise die Fraktionsspaltung über den
Hauptgegensatz; aber der „nicht anerkannte" Fels ist doch immer noch da und
hart genug, sodaß sich, wenn es einmal Ernst wird, eine schone Menge seiner
Leugner an ihm den Kopf einrennen kann. Und so schaffen auch alle, die
den Gegensatz von konservativ und liberal für verschwindend erklären, ihn
nicht aus der Welt: bei jeder ernsten Probe wird er ihnen eutgegengläuzen,
daß ihnen die Augen übergehen. Er ist da, und er hat sein Recht. Man kaun
für seine eigne Person einen Waffenstillstand in diesem Kampfe wünschen — und
das thun die, die nach unparteiischen Zeitungen rufen —, aber sich ganz aus
dem Kampf zurückziehen, das würde eine Gleichgiltigkeit gegen die gute Ordnung
des Staates bedeuten, und solche Gleichgiltigkeit ist, wenn sie auch nicht mehr
bestraft wird wie zu Solons Zeiten, doch jedenfalls kein Ideal für einen Mann,
der sein Vaterland lieb hat.

Da höre ich zwei Stimmen dazwischen rufen, eine tiefdvnnernde und
eine hellschrillende. „Seht den Mann!, ruft die eine, der erklärt jede
Frechheit, sie sei noch so arg, jede Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung,
jeden Spott über Ehrwürdiges für berechtigt!" „Seht den Mann!, schreit die
andre, er will alles zulassen, jede Verhöhnung des Volks und seiner guten
Rechte, jede Herabwürdigung der einfachen, aber braven Leute, jede Unter¬
drückung!" „Gemach, meine Herren, dringt da endlich meine eigne Stimme
(lÄr miniato) dnrch, dieser Mann thut weder das eine noch das andre. Er
hats weder auf Könige noch ans Bankiers noch auf Proletarier abgesehen.
Gegen keinen Paragraphen des geschriebnen oder des ungeschriebnen Straf¬
gesetzbuchs spielt er den doppelt moralischen Verteidiger. Keine ehrliche Absicht
und kein wohlmeinendes Streben entschuldigt niederträchtige Handlungen; aber


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[0069] Zur Gestaltung unsers Parteiwesens Minderheit des Volks (Wenns sonst auch gerade nicht Quietisten sind!) auch lebhaft erklären würde. Aus dem einen Teil des Gegensatzes, besonders wenn er zur Macht gelangt, erzeugt sich mit Naturnotwendigkeit der andre in gleicher Heftigkeit: je stärker der Ball auf die Erde geworfen wird, desto höher springt er empor. Aber daß man darum, weil der Streit in Gezänk ausartet und widerwärtige Formen annimmt, oder weil die deutsche Neigung zur Sekten¬ bildung eine Menge Unterparteien schafft, an einen Zerfall der Gegensätzlich¬ keit glaubt oder es für besser hält, sich von der ganzen Erörterung zurück¬ zuziehen, das ist ein unüberlegter Schluß. Es ist das ganz derselbe Irrtum, wie ihn unsre urväterlichen Widersacher jenseits der Vogesen vor fünfund¬ zwanzig Jahren begingen, als sie glaubten, daß unsre allerdings mit großem Ernst betriebnen innern Unfreuudlichkeiteu den Gegensatz von Deutsch und Welsch im Falle des Krieges verschwinden lassen würden; der Irrtum, der ihnen bis auf den heutigen Tag so vielen Ärger und uns die volle Glorie der Einigung eingetragen hat. Das naturnotwendige Bestehen dieses Gegen¬ satzes verkennen ja selbst die französischen Sozialdemokraten nicht, und unsre Abart setzt nach echt deutscher Denkweise die Fraktionsspaltung über den Hauptgegensatz; aber der „nicht anerkannte" Fels ist doch immer noch da und hart genug, sodaß sich, wenn es einmal Ernst wird, eine schone Menge seiner Leugner an ihm den Kopf einrennen kann. Und so schaffen auch alle, die den Gegensatz von konservativ und liberal für verschwindend erklären, ihn nicht aus der Welt: bei jeder ernsten Probe wird er ihnen eutgegengläuzen, daß ihnen die Augen übergehen. Er ist da, und er hat sein Recht. Man kaun für seine eigne Person einen Waffenstillstand in diesem Kampfe wünschen — und das thun die, die nach unparteiischen Zeitungen rufen —, aber sich ganz aus dem Kampf zurückziehen, das würde eine Gleichgiltigkeit gegen die gute Ordnung des Staates bedeuten, und solche Gleichgiltigkeit ist, wenn sie auch nicht mehr bestraft wird wie zu Solons Zeiten, doch jedenfalls kein Ideal für einen Mann, der sein Vaterland lieb hat. Da höre ich zwei Stimmen dazwischen rufen, eine tiefdvnnernde und eine hellschrillende. „Seht den Mann!, ruft die eine, der erklärt jede Frechheit, sie sei noch so arg, jede Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung, jeden Spott über Ehrwürdiges für berechtigt!" „Seht den Mann!, schreit die andre, er will alles zulassen, jede Verhöhnung des Volks und seiner guten Rechte, jede Herabwürdigung der einfachen, aber braven Leute, jede Unter¬ drückung!" „Gemach, meine Herren, dringt da endlich meine eigne Stimme (lÄr miniato) dnrch, dieser Mann thut weder das eine noch das andre. Er hats weder auf Könige noch ans Bankiers noch auf Proletarier abgesehen. Gegen keinen Paragraphen des geschriebnen oder des ungeschriebnen Straf¬ gesetzbuchs spielt er den doppelt moralischen Verteidiger. Keine ehrliche Absicht und kein wohlmeinendes Streben entschuldigt niederträchtige Handlungen; aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/69>, abgerufen am 30.06.2024.