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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

bei. Der Kneipenwirt, der in absolutistischen Selbstgefühl verfassungswidrig
schlechtes Vier ,mit frühen Feierabend zu "vktroyiren" versucht, strafen die
"klassenbewußten" Zecher durch Wahleuthaltuug. Will eine Zeitung behaupten:
"Alles, was von uns kommt, ist gut," und nimmt auf die Wünsche der Leser
keine Rücksicht, so verweigern sie ihr das Budget. So ist Natur und Menschen-
leben voll von konservativ und liberal. Und in -der Politik sollte es plötzlich
nicht mehr so sein dürfen?

Ich wüßte wirklich nicht, wie es einmal anders auf der Erde zugehen
sollte, als daß die einen, die weniger Rechte haben, darnach trachten, mehr
zu bekommen, die andern aber, die im Besitz der Rechte sind, sich weigern,
etwas davon abzulassen. Haben die, die nach mehr streben, ohnehin schon
genug Rechte, so erscheint die konservative Richtung lobenswerter; sind sie aber
bisher zu kurz gekommen, so wird man mit ihrem liberalen Streben Teilnahme
fühlen. Ob es sich nur um politische Rechte handelt oder um irgendwelche
andern, dieser Grundgegensatz findet sich immer. Aber wer entscheidet denn
immer so unzweifelhaft und auch so überzeugend: die Rechte sind gut oder
uicht gut verteilt? Den Staat möchte ich wirklich in recht naturgetreuer
Darstellung vorgezeigt sehen, in dem nicht nur alle politischen Rechte muss
genauste richtig geordnet, sondern auch alle Staatsbürger ohne Ausnahme
von der gerechten Verteilung überzeugt wären. So einen hat sich ja der
weise Platon herausgediftelt, aber die Welt ist darin einig, daß sein fein aus
Ideen zusammengepapptes Kunstwerk auf Erden bisher noch nicht erschienen
ist; und so lauge ein solches Musterbild noch nicht sichtbar vorhanden ist, so
lange ist der Gegensatz zwischen konservativ und liberal nicht nur natürlich,
sondern auch berechtigt, denn er stellt ein beständiges Streben nach dem Jdeal-
zustande dar. Und ebenso sind auch die verschiednen Abstufungen der beiden
Widerparte natürlich und größtenteils (bis auf die krassesten Ausschweifungen)
auch berechtigt, allein schon durch die verschiednen Temperamente und Ver¬
standesgrade. Der eine will gern gleich das Ganze erreichen, schießt auch
wohl im Eifer übers Ziel hinaus; der andre hütet sich vor dem Ziel und
strebt zunächst nur das Erreichbare an. Jeder will in seiner Art und nach
seinem Charakter das Wohl des Ganzen. Zwar ein besonnener Konservativer
wird nicht für gut halten, daß die Rechte des Volks auf das Maß der rein
absolutistischen Zeit heruntergedrückt werden, und ein besonnener Liberaler wird
die allzuweit gehende Austeilung von Rechten, ohne jede Rücksicht auf die
Naturuuterschiede, uicht billige"; aber leider besteht ja die Menschheit bei
weitem nicht aus lauter besonnenen Leuten, und ewig werden die Stürmer
und Dränger auf beiden Seiten ihre Fehler machen, ohne daß darum ein ver¬
ständiger Mann gleich ihre ganze Sache für unrecht erklärt, sonst müßte man
ja zum Beispiel auch, weil einzelne Schulmeister ihren Jungen zuviel aufgeben,
die Schulen überhaupt schließen wollen -- wofür sich freilich eine gewisse


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bei. Der Kneipenwirt, der in absolutistischen Selbstgefühl verfassungswidrig
schlechtes Vier ,mit frühen Feierabend zu „vktroyiren" versucht, strafen die
„klassenbewußten" Zecher durch Wahleuthaltuug. Will eine Zeitung behaupten:
„Alles, was von uns kommt, ist gut," und nimmt auf die Wünsche der Leser
keine Rücksicht, so verweigern sie ihr das Budget. So ist Natur und Menschen-
leben voll von konservativ und liberal. Und in -der Politik sollte es plötzlich
nicht mehr so sein dürfen?

Ich wüßte wirklich nicht, wie es einmal anders auf der Erde zugehen
sollte, als daß die einen, die weniger Rechte haben, darnach trachten, mehr
zu bekommen, die andern aber, die im Besitz der Rechte sind, sich weigern,
etwas davon abzulassen. Haben die, die nach mehr streben, ohnehin schon
genug Rechte, so erscheint die konservative Richtung lobenswerter; sind sie aber
bisher zu kurz gekommen, so wird man mit ihrem liberalen Streben Teilnahme
fühlen. Ob es sich nur um politische Rechte handelt oder um irgendwelche
andern, dieser Grundgegensatz findet sich immer. Aber wer entscheidet denn
immer so unzweifelhaft und auch so überzeugend: die Rechte sind gut oder
uicht gut verteilt? Den Staat möchte ich wirklich in recht naturgetreuer
Darstellung vorgezeigt sehen, in dem nicht nur alle politischen Rechte muss
genauste richtig geordnet, sondern auch alle Staatsbürger ohne Ausnahme
von der gerechten Verteilung überzeugt wären. So einen hat sich ja der
weise Platon herausgediftelt, aber die Welt ist darin einig, daß sein fein aus
Ideen zusammengepapptes Kunstwerk auf Erden bisher noch nicht erschienen
ist; und so lauge ein solches Musterbild noch nicht sichtbar vorhanden ist, so
lange ist der Gegensatz zwischen konservativ und liberal nicht nur natürlich,
sondern auch berechtigt, denn er stellt ein beständiges Streben nach dem Jdeal-
zustande dar. Und ebenso sind auch die verschiednen Abstufungen der beiden
Widerparte natürlich und größtenteils (bis auf die krassesten Ausschweifungen)
auch berechtigt, allein schon durch die verschiednen Temperamente und Ver¬
standesgrade. Der eine will gern gleich das Ganze erreichen, schießt auch
wohl im Eifer übers Ziel hinaus; der andre hütet sich vor dem Ziel und
strebt zunächst nur das Erreichbare an. Jeder will in seiner Art und nach
seinem Charakter das Wohl des Ganzen. Zwar ein besonnener Konservativer
wird nicht für gut halten, daß die Rechte des Volks auf das Maß der rein
absolutistischen Zeit heruntergedrückt werden, und ein besonnener Liberaler wird
die allzuweit gehende Austeilung von Rechten, ohne jede Rücksicht auf die
Naturuuterschiede, uicht billige»; aber leider besteht ja die Menschheit bei
weitem nicht aus lauter besonnenen Leuten, und ewig werden die Stürmer
und Dränger auf beiden Seiten ihre Fehler machen, ohne daß darum ein ver¬
ständiger Mann gleich ihre ganze Sache für unrecht erklärt, sonst müßte man
ja zum Beispiel auch, weil einzelne Schulmeister ihren Jungen zuviel aufgeben,
die Schulen überhaupt schließen wollen — wofür sich freilich eine gewisse


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[0068] Zur Gestaltung unsers Parteiwesens bei. Der Kneipenwirt, der in absolutistischen Selbstgefühl verfassungswidrig schlechtes Vier ,mit frühen Feierabend zu „vktroyiren" versucht, strafen die „klassenbewußten" Zecher durch Wahleuthaltuug. Will eine Zeitung behaupten: „Alles, was von uns kommt, ist gut," und nimmt auf die Wünsche der Leser keine Rücksicht, so verweigern sie ihr das Budget. So ist Natur und Menschen- leben voll von konservativ und liberal. Und in -der Politik sollte es plötzlich nicht mehr so sein dürfen? Ich wüßte wirklich nicht, wie es einmal anders auf der Erde zugehen sollte, als daß die einen, die weniger Rechte haben, darnach trachten, mehr zu bekommen, die andern aber, die im Besitz der Rechte sind, sich weigern, etwas davon abzulassen. Haben die, die nach mehr streben, ohnehin schon genug Rechte, so erscheint die konservative Richtung lobenswerter; sind sie aber bisher zu kurz gekommen, so wird man mit ihrem liberalen Streben Teilnahme fühlen. Ob es sich nur um politische Rechte handelt oder um irgendwelche andern, dieser Grundgegensatz findet sich immer. Aber wer entscheidet denn immer so unzweifelhaft und auch so überzeugend: die Rechte sind gut oder uicht gut verteilt? Den Staat möchte ich wirklich in recht naturgetreuer Darstellung vorgezeigt sehen, in dem nicht nur alle politischen Rechte muss genauste richtig geordnet, sondern auch alle Staatsbürger ohne Ausnahme von der gerechten Verteilung überzeugt wären. So einen hat sich ja der weise Platon herausgediftelt, aber die Welt ist darin einig, daß sein fein aus Ideen zusammengepapptes Kunstwerk auf Erden bisher noch nicht erschienen ist; und so lauge ein solches Musterbild noch nicht sichtbar vorhanden ist, so lange ist der Gegensatz zwischen konservativ und liberal nicht nur natürlich, sondern auch berechtigt, denn er stellt ein beständiges Streben nach dem Jdeal- zustande dar. Und ebenso sind auch die verschiednen Abstufungen der beiden Widerparte natürlich und größtenteils (bis auf die krassesten Ausschweifungen) auch berechtigt, allein schon durch die verschiednen Temperamente und Ver¬ standesgrade. Der eine will gern gleich das Ganze erreichen, schießt auch wohl im Eifer übers Ziel hinaus; der andre hütet sich vor dem Ziel und strebt zunächst nur das Erreichbare an. Jeder will in seiner Art und nach seinem Charakter das Wohl des Ganzen. Zwar ein besonnener Konservativer wird nicht für gut halten, daß die Rechte des Volks auf das Maß der rein absolutistischen Zeit heruntergedrückt werden, und ein besonnener Liberaler wird die allzuweit gehende Austeilung von Rechten, ohne jede Rücksicht auf die Naturuuterschiede, uicht billige»; aber leider besteht ja die Menschheit bei weitem nicht aus lauter besonnenen Leuten, und ewig werden die Stürmer und Dränger auf beiden Seiten ihre Fehler machen, ohne daß darum ein ver¬ ständiger Mann gleich ihre ganze Sache für unrecht erklärt, sonst müßte man ja zum Beispiel auch, weil einzelne Schulmeister ihren Jungen zuviel aufgeben, die Schulen überhaupt schließen wollen — wofür sich freilich eine gewisse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/68>, abgerufen am 27.06.2024.