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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

den die Worte jetzt haben, zwischen dem Streben, die Rechte des Herrschers,
des Staats, gewisser Klassen zu bewahren und zu erweitern, und dem Streben,
die Rechte des Volks, die Selbständigkeit des Einzelnen zu heben, dieser
Gegensatz ist so alt, wie das politische Leben überhaupt, und ist nur da nicht
zu bemerken gewesen, wo es kein solches Leben gab. Die Namen wechseln,
die Sache bleibt. Was war Solons Thätigkeit anders, als eine "Verfassungs¬
änderung in liberalem Sinne" ? was die sullanischen Gesetze anders, als eine
"aristokratische Reaktion"? Die Kämpfe der Geschlechter und Zünfte im Aus¬
gange des Mittelalters lassen sich sehr gut mit dem unaufhörlichen Aufeinander¬
stoßen von Aristokraten und Demokraten in unsern fünfziger Jahren vergleichen,
nur daß die Größe der Nahmen verschieden war. Auch an Sozialdemokraten
hat es früher nicht gefehlt, von dem Theoretiker Platon bis zu den Bnndschnhern
des sechzehnten Jahrhunderts und zu den französischen Revolutionären. Und
wie es in den letzten hundertfünfzig Jahren mit jenem Gegensatz gewesen ist,
ist allbekannt. Und da soll er nun plötzlich nur das Jahr 1890 seine Be¬
deutung verloren haben? Freilich, das hat jede regsame Zeit gedacht, daß in
ihr die Erfüllung und die Höhe des Menschheitsstrebens gekommen sei; aber
die Jahresnummern haben nicht aufgehört, und wenn sie etwa um fünfzig
mehr geworden sind, dann haben die, die von jeuer Zeit her noch lebten, mit
großem Erstaunen wahrgenommen, daß es Bäume gegeben hat, die auch über
jenen Niesenwuchs hinauswachsen konnten, und dann haben sie sich ruhig
zum Sterben gelegt mit dem Gedanken: die Entwicklung wird auch nach uns
noch fortgehen. So und nicht anders ists auch unserm unruhigen Zeitalter
beschieden. So wenig wie lin as siöelö -- trotz Falbscher Kometen -- das
Ende der Welt sein wird, so wenig sind wir am Ende der Entwicklung; und
was bisher treibend im Staatenleben gewirkt hat, legt sich mich mit uns noch
nicht zur Ruhe trotz allen Totsagens. Auch da kann es nur heißen: die
Formen ändern sich, die Sache bleibt.

Denn diese Sache ist natürlich und notwendig. Vorwärtstreiben und
Zurückhalten ist das ganze Naturleben. Vom radikalen Frühling gehts über
den gemäßigtliberalen Sommer zum rückschrittlichen Herbst und strengkonser-
vativen Winter. Dem Überhandnehmen der plebejischen Pflanzenfresser steuern
(ja, das sind Steuern!) die aristokratischen Raubtiere. Wenn das "im nahr¬
haften Boden wurzelnde" Gras zu üppig werden und sich zu breit machen
will, dann kommen die agrarischen Kühe und die "schneidigen" Schnitter
und gebieten ihm Einhalt. Wenn die Jungen im Hanse oder in der Schule
ihr Stimmrecht allzu sehr ausdehnen, dann schreitet die gesetzliche Herr¬
schaft mit Hilfe der rohen Gewalt ein und lehrt sie Achtung vor° den Nang-
unterschieden, zuweilen auch durch Einsperrung. Den Studenten, die ihr
Selbstbestimmungsrecht als Herrschaft über alles Eigentum verstanden wissen
wollen, bringt ein "tönigstrener" Schutzmann genauere Paragrnphenkenntnis


Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

den die Worte jetzt haben, zwischen dem Streben, die Rechte des Herrschers,
des Staats, gewisser Klassen zu bewahren und zu erweitern, und dem Streben,
die Rechte des Volks, die Selbständigkeit des Einzelnen zu heben, dieser
Gegensatz ist so alt, wie das politische Leben überhaupt, und ist nur da nicht
zu bemerken gewesen, wo es kein solches Leben gab. Die Namen wechseln,
die Sache bleibt. Was war Solons Thätigkeit anders, als eine „Verfassungs¬
änderung in liberalem Sinne" ? was die sullanischen Gesetze anders, als eine
„aristokratische Reaktion"? Die Kämpfe der Geschlechter und Zünfte im Aus¬
gange des Mittelalters lassen sich sehr gut mit dem unaufhörlichen Aufeinander¬
stoßen von Aristokraten und Demokraten in unsern fünfziger Jahren vergleichen,
nur daß die Größe der Nahmen verschieden war. Auch an Sozialdemokraten
hat es früher nicht gefehlt, von dem Theoretiker Platon bis zu den Bnndschnhern
des sechzehnten Jahrhunderts und zu den französischen Revolutionären. Und
wie es in den letzten hundertfünfzig Jahren mit jenem Gegensatz gewesen ist,
ist allbekannt. Und da soll er nun plötzlich nur das Jahr 1890 seine Be¬
deutung verloren haben? Freilich, das hat jede regsame Zeit gedacht, daß in
ihr die Erfüllung und die Höhe des Menschheitsstrebens gekommen sei; aber
die Jahresnummern haben nicht aufgehört, und wenn sie etwa um fünfzig
mehr geworden sind, dann haben die, die von jeuer Zeit her noch lebten, mit
großem Erstaunen wahrgenommen, daß es Bäume gegeben hat, die auch über
jenen Niesenwuchs hinauswachsen konnten, und dann haben sie sich ruhig
zum Sterben gelegt mit dem Gedanken: die Entwicklung wird auch nach uns
noch fortgehen. So und nicht anders ists auch unserm unruhigen Zeitalter
beschieden. So wenig wie lin as siöelö — trotz Falbscher Kometen — das
Ende der Welt sein wird, so wenig sind wir am Ende der Entwicklung; und
was bisher treibend im Staatenleben gewirkt hat, legt sich mich mit uns noch
nicht zur Ruhe trotz allen Totsagens. Auch da kann es nur heißen: die
Formen ändern sich, die Sache bleibt.

Denn diese Sache ist natürlich und notwendig. Vorwärtstreiben und
Zurückhalten ist das ganze Naturleben. Vom radikalen Frühling gehts über
den gemäßigtliberalen Sommer zum rückschrittlichen Herbst und strengkonser-
vativen Winter. Dem Überhandnehmen der plebejischen Pflanzenfresser steuern
(ja, das sind Steuern!) die aristokratischen Raubtiere. Wenn das „im nahr¬
haften Boden wurzelnde" Gras zu üppig werden und sich zu breit machen
will, dann kommen die agrarischen Kühe und die „schneidigen" Schnitter
und gebieten ihm Einhalt. Wenn die Jungen im Hanse oder in der Schule
ihr Stimmrecht allzu sehr ausdehnen, dann schreitet die gesetzliche Herr¬
schaft mit Hilfe der rohen Gewalt ein und lehrt sie Achtung vor° den Nang-
unterschieden, zuweilen auch durch Einsperrung. Den Studenten, die ihr
Selbstbestimmungsrecht als Herrschaft über alles Eigentum verstanden wissen
wollen, bringt ein „tönigstrener" Schutzmann genauere Paragrnphenkenntnis


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[0067] Zur Gestaltung unsers Parteiwesens den die Worte jetzt haben, zwischen dem Streben, die Rechte des Herrschers, des Staats, gewisser Klassen zu bewahren und zu erweitern, und dem Streben, die Rechte des Volks, die Selbständigkeit des Einzelnen zu heben, dieser Gegensatz ist so alt, wie das politische Leben überhaupt, und ist nur da nicht zu bemerken gewesen, wo es kein solches Leben gab. Die Namen wechseln, die Sache bleibt. Was war Solons Thätigkeit anders, als eine „Verfassungs¬ änderung in liberalem Sinne" ? was die sullanischen Gesetze anders, als eine „aristokratische Reaktion"? Die Kämpfe der Geschlechter und Zünfte im Aus¬ gange des Mittelalters lassen sich sehr gut mit dem unaufhörlichen Aufeinander¬ stoßen von Aristokraten und Demokraten in unsern fünfziger Jahren vergleichen, nur daß die Größe der Nahmen verschieden war. Auch an Sozialdemokraten hat es früher nicht gefehlt, von dem Theoretiker Platon bis zu den Bnndschnhern des sechzehnten Jahrhunderts und zu den französischen Revolutionären. Und wie es in den letzten hundertfünfzig Jahren mit jenem Gegensatz gewesen ist, ist allbekannt. Und da soll er nun plötzlich nur das Jahr 1890 seine Be¬ deutung verloren haben? Freilich, das hat jede regsame Zeit gedacht, daß in ihr die Erfüllung und die Höhe des Menschheitsstrebens gekommen sei; aber die Jahresnummern haben nicht aufgehört, und wenn sie etwa um fünfzig mehr geworden sind, dann haben die, die von jeuer Zeit her noch lebten, mit großem Erstaunen wahrgenommen, daß es Bäume gegeben hat, die auch über jenen Niesenwuchs hinauswachsen konnten, und dann haben sie sich ruhig zum Sterben gelegt mit dem Gedanken: die Entwicklung wird auch nach uns noch fortgehen. So und nicht anders ists auch unserm unruhigen Zeitalter beschieden. So wenig wie lin as siöelö — trotz Falbscher Kometen — das Ende der Welt sein wird, so wenig sind wir am Ende der Entwicklung; und was bisher treibend im Staatenleben gewirkt hat, legt sich mich mit uns noch nicht zur Ruhe trotz allen Totsagens. Auch da kann es nur heißen: die Formen ändern sich, die Sache bleibt. Denn diese Sache ist natürlich und notwendig. Vorwärtstreiben und Zurückhalten ist das ganze Naturleben. Vom radikalen Frühling gehts über den gemäßigtliberalen Sommer zum rückschrittlichen Herbst und strengkonser- vativen Winter. Dem Überhandnehmen der plebejischen Pflanzenfresser steuern (ja, das sind Steuern!) die aristokratischen Raubtiere. Wenn das „im nahr¬ haften Boden wurzelnde" Gras zu üppig werden und sich zu breit machen will, dann kommen die agrarischen Kühe und die „schneidigen" Schnitter und gebieten ihm Einhalt. Wenn die Jungen im Hanse oder in der Schule ihr Stimmrecht allzu sehr ausdehnen, dann schreitet die gesetzliche Herr¬ schaft mit Hilfe der rohen Gewalt ein und lehrt sie Achtung vor° den Nang- unterschieden, zuweilen auch durch Einsperrung. Den Studenten, die ihr Selbstbestimmungsrecht als Herrschaft über alles Eigentum verstanden wissen wollen, bringt ein „tönigstrener" Schutzmann genauere Paragrnphenkenntnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/67>, abgerufen am 22.06.2024.