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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zwingli

auf dem Schlachtfelde ist er keine wirklich heroische Natur. Mau vermißt die
geniale Kraft, den gewaltigen Glaubensmut, das reiche Gemüt Luthers. Un¬
angenehm berührt häufig das auffallende "Zurückbleiben der That hinter der
Erkenntnis," wie es staehelin schon in seiner Jubiläumsschrift treffend be¬
zeichnet hat, die zögernde kluge Besonnenheit und kühle Berechnung in einer
großen Zeit, wo es galt, die ganze Person für die erkannte Wahrheit ein¬
zusetzen. Aber gerade weil die Person Zwinglis nicht die imponirende Größe
Luthers hat, erscheint die selbständige Macht der evangelischen Wahrheit, deren
Vertreter er war, um so größer. Das Recht der ganzen Reformation als
einer großen von Gott gewirkten Geistesbewegung tritt hier um so mehr in
den Vordergrund, je weniger sie bloß als die Sache eines einzelnen außer¬
ordentlichen Mannes erscheint.

Eigentümlich ist das Verhältnis Zwinglis zu Luther, wie es staehelin
auf Grund der neuern Forschungen dargestellt hat. Lange Zeit hat man die
Vorstellung gehabt, daß Zwingli schon vor Luther und vollständig unabhängig
von ihm als Reformator aufgetreten sei. Zwingli selbst hat wiederholt als
den Anfang seiner reformatorischen Thätigkeit das Jahr 1516 bezeichnet und
seine vollständige Unabhängigkeit von Luther nachdrücklich behauptet. Dieser
Anspruch Zwinglis, als selbständiger Reformator neben oder gar vor Luther
betrachtet zu werden, erhielt durch Überlieferungen eine scheinbar sichere Be¬
stätigung. Darnach ist Zwingli bereits im Kloster Einsiedeln (1516 bis 1518),
zu einer Zeit, wo Luthers Name ihm noch ganz unbekannt war, offen und
kühn als Reformator aufgetreten. In dem berühmten Wallfahrtsorte mit dem
wunderthätigen Marienbilde bot sich ja die beste Gelegenheit, den Kampf gegen
den Aberglauben zu eröffnen. Über der Klosterpforte stand die Inschrift:
"Hier ist für alle Sünden voller Erlaß der Schuld und Strafe." Nach alter
Überlieferung ließ Zwingli diese Inschrift wegnehmen und die bis dahin aus¬
gestellten Reliquien begraben. Ferner wurde berichtet, er habe in dieser Zeit
eine gewaltige Predigt gegen die Verehrung der Jungfrau Maria und der
Heiligen gehalten; er sei in das Kloster Fahr entsendet worden, um bei den
Nonnen statt des Mettesiugens das Lesen der heiligen Schrift in deutscher
Sprache einzuführen; er habe in einer Eingabe dem Bischof von Konstanz
mit offnem Ungehorsam gedroht, wenn er nicht die evangelische Predigt frei¬
gebe und die Mißbräuche abstelle. Diese ganze Überlieferung von Zwinglis
reformatorischer Thätigkeit in Einsiedeln hat sich teils als Sage, teils als
Verwechslung mit dem Jahre 1522 erwiesen, wo Zwingli längst mit Luther
bekannt war. Allerdings ist er bereits in Einsiedeln dem Ablaßkrämer Samson
"tapfer entgegengetreten," aber das war keine reformatorische That, es geschah
ganz in Übereinstimmung mit dem Bischof. Daß Zwingli unabhängig von
Luther die Notwendigkeit einer Reformation erkannt, sich in die heilige Schrift
vertieft und das lautere Wort Gottes sich zur alleinigen Richtschnur genommen


Zwingli

auf dem Schlachtfelde ist er keine wirklich heroische Natur. Mau vermißt die
geniale Kraft, den gewaltigen Glaubensmut, das reiche Gemüt Luthers. Un¬
angenehm berührt häufig das auffallende „Zurückbleiben der That hinter der
Erkenntnis," wie es staehelin schon in seiner Jubiläumsschrift treffend be¬
zeichnet hat, die zögernde kluge Besonnenheit und kühle Berechnung in einer
großen Zeit, wo es galt, die ganze Person für die erkannte Wahrheit ein¬
zusetzen. Aber gerade weil die Person Zwinglis nicht die imponirende Größe
Luthers hat, erscheint die selbständige Macht der evangelischen Wahrheit, deren
Vertreter er war, um so größer. Das Recht der ganzen Reformation als
einer großen von Gott gewirkten Geistesbewegung tritt hier um so mehr in
den Vordergrund, je weniger sie bloß als die Sache eines einzelnen außer¬
ordentlichen Mannes erscheint.

Eigentümlich ist das Verhältnis Zwinglis zu Luther, wie es staehelin
auf Grund der neuern Forschungen dargestellt hat. Lange Zeit hat man die
Vorstellung gehabt, daß Zwingli schon vor Luther und vollständig unabhängig
von ihm als Reformator aufgetreten sei. Zwingli selbst hat wiederholt als
den Anfang seiner reformatorischen Thätigkeit das Jahr 1516 bezeichnet und
seine vollständige Unabhängigkeit von Luther nachdrücklich behauptet. Dieser
Anspruch Zwinglis, als selbständiger Reformator neben oder gar vor Luther
betrachtet zu werden, erhielt durch Überlieferungen eine scheinbar sichere Be¬
stätigung. Darnach ist Zwingli bereits im Kloster Einsiedeln (1516 bis 1518),
zu einer Zeit, wo Luthers Name ihm noch ganz unbekannt war, offen und
kühn als Reformator aufgetreten. In dem berühmten Wallfahrtsorte mit dem
wunderthätigen Marienbilde bot sich ja die beste Gelegenheit, den Kampf gegen
den Aberglauben zu eröffnen. Über der Klosterpforte stand die Inschrift:
„Hier ist für alle Sünden voller Erlaß der Schuld und Strafe." Nach alter
Überlieferung ließ Zwingli diese Inschrift wegnehmen und die bis dahin aus¬
gestellten Reliquien begraben. Ferner wurde berichtet, er habe in dieser Zeit
eine gewaltige Predigt gegen die Verehrung der Jungfrau Maria und der
Heiligen gehalten; er sei in das Kloster Fahr entsendet worden, um bei den
Nonnen statt des Mettesiugens das Lesen der heiligen Schrift in deutscher
Sprache einzuführen; er habe in einer Eingabe dem Bischof von Konstanz
mit offnem Ungehorsam gedroht, wenn er nicht die evangelische Predigt frei¬
gebe und die Mißbräuche abstelle. Diese ganze Überlieferung von Zwinglis
reformatorischer Thätigkeit in Einsiedeln hat sich teils als Sage, teils als
Verwechslung mit dem Jahre 1522 erwiesen, wo Zwingli längst mit Luther
bekannt war. Allerdings ist er bereits in Einsiedeln dem Ablaßkrämer Samson
„tapfer entgegengetreten," aber das war keine reformatorische That, es geschah
ganz in Übereinstimmung mit dem Bischof. Daß Zwingli unabhängig von
Luther die Notwendigkeit einer Reformation erkannt, sich in die heilige Schrift
vertieft und das lautere Wort Gottes sich zur alleinigen Richtschnur genommen


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[0580] Zwingli auf dem Schlachtfelde ist er keine wirklich heroische Natur. Mau vermißt die geniale Kraft, den gewaltigen Glaubensmut, das reiche Gemüt Luthers. Un¬ angenehm berührt häufig das auffallende „Zurückbleiben der That hinter der Erkenntnis," wie es staehelin schon in seiner Jubiläumsschrift treffend be¬ zeichnet hat, die zögernde kluge Besonnenheit und kühle Berechnung in einer großen Zeit, wo es galt, die ganze Person für die erkannte Wahrheit ein¬ zusetzen. Aber gerade weil die Person Zwinglis nicht die imponirende Größe Luthers hat, erscheint die selbständige Macht der evangelischen Wahrheit, deren Vertreter er war, um so größer. Das Recht der ganzen Reformation als einer großen von Gott gewirkten Geistesbewegung tritt hier um so mehr in den Vordergrund, je weniger sie bloß als die Sache eines einzelnen außer¬ ordentlichen Mannes erscheint. Eigentümlich ist das Verhältnis Zwinglis zu Luther, wie es staehelin auf Grund der neuern Forschungen dargestellt hat. Lange Zeit hat man die Vorstellung gehabt, daß Zwingli schon vor Luther und vollständig unabhängig von ihm als Reformator aufgetreten sei. Zwingli selbst hat wiederholt als den Anfang seiner reformatorischen Thätigkeit das Jahr 1516 bezeichnet und seine vollständige Unabhängigkeit von Luther nachdrücklich behauptet. Dieser Anspruch Zwinglis, als selbständiger Reformator neben oder gar vor Luther betrachtet zu werden, erhielt durch Überlieferungen eine scheinbar sichere Be¬ stätigung. Darnach ist Zwingli bereits im Kloster Einsiedeln (1516 bis 1518), zu einer Zeit, wo Luthers Name ihm noch ganz unbekannt war, offen und kühn als Reformator aufgetreten. In dem berühmten Wallfahrtsorte mit dem wunderthätigen Marienbilde bot sich ja die beste Gelegenheit, den Kampf gegen den Aberglauben zu eröffnen. Über der Klosterpforte stand die Inschrift: „Hier ist für alle Sünden voller Erlaß der Schuld und Strafe." Nach alter Überlieferung ließ Zwingli diese Inschrift wegnehmen und die bis dahin aus¬ gestellten Reliquien begraben. Ferner wurde berichtet, er habe in dieser Zeit eine gewaltige Predigt gegen die Verehrung der Jungfrau Maria und der Heiligen gehalten; er sei in das Kloster Fahr entsendet worden, um bei den Nonnen statt des Mettesiugens das Lesen der heiligen Schrift in deutscher Sprache einzuführen; er habe in einer Eingabe dem Bischof von Konstanz mit offnem Ungehorsam gedroht, wenn er nicht die evangelische Predigt frei¬ gebe und die Mißbräuche abstelle. Diese ganze Überlieferung von Zwinglis reformatorischer Thätigkeit in Einsiedeln hat sich teils als Sage, teils als Verwechslung mit dem Jahre 1522 erwiesen, wo Zwingli längst mit Luther bekannt war. Allerdings ist er bereits in Einsiedeln dem Ablaßkrämer Samson „tapfer entgegengetreten," aber das war keine reformatorische That, es geschah ganz in Übereinstimmung mit dem Bischof. Daß Zwingli unabhängig von Luther die Notwendigkeit einer Reformation erkannt, sich in die heilige Schrift vertieft und das lautere Wort Gottes sich zur alleinigen Richtschnur genommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/580>, abgerufen am 01.07.2024.