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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Iwingli

Worden, sodaß staehelin auf Grund seiner Nachforschungen zu der Überzeugung
gelangt ist, daß der für eine Biographie Zwinglis in Betracht kommende Stoff
in der Hauptsache vollständig veröffentlicht ist. "Andrerseits ist die genauere
Kenntnis der persönlichen Entwicklung und der theologischen Eigenart Zwinglis
durch die Arbeiten von G. Finster, A. Schweizer, M. Usteri und besonders
durch die umfassende Darstellung der Theologie Zwinglis von A. Baur in
erheblicher Weise gefördert worden." In dieser Beziehung fand staehelin eine
Ergänzung besonders wünschenswert, "weil der Theologe und der Denker in
den bisherigen Biographien Zwinglis ungebührlich hinter den Mann des
Praktischen und politischen Wirkens zurückgestellt erscheint."

Das Werk Staehelins ist die reife Frucht langjähriger Studien. Schon
im Jahre 1883 hat er zum vierhundertjährigen Geburtstage Zwinglis die
kleinere Schrift: "Huldreich Zwiugli und sein Reformationswerk" veröffentlicht.
Das fein und scharf gezeichnete Bild des Schweizer Reformators, das diese
Schrift enthält, ist nun zu einem großen Gemälde ausgeführt und in den
Nahmen der Zeitgeschichte eingefügt worden. Ähnlich wie Kvstlins Werk über
Luther, wird wohl Staehelins neue Biographie auf lange Zeit hinaus das
klassische Werk über Zwingli bleiben. Die beste Art, Lebende und Verstorbne
zu loben, sagt Lichtenberg, ist, ihre Schwachheiten zu entschuldigen und dabei
alle mögliche Menschenkenntnis anzuwenden. Nur keine Tugenden angedichtet,
die sie uicht besessen haben! Das verdirbt alles und macht selbst das Wahre
verdächtig. staehelin ist dieser Gefahr einer übertriebnen Verherrlichung, die
für reformirte Theologen bei Zwingli zeitweise nicht gering gewesen ist, ent¬
gangen. Er idealisirt nicht, er läßt die Thatsachen reden, ohne etwas zu ver¬
schweigen oder zu bemänteln, sodaß der Leser sich ein eignes Urteil bilden
kann. So wird uns dnrch seine Darstellung das Bild des Schweizer Refor¬
mators mit seineu Licht- und Schattenseiten lebendig und verständlich.

Bei Zwingli ist der Vergleich mit Luther nicht zu umgehen. staehelin
ist weit davon entfernt, Zwingli auf Luthers Kosten zu erheben. Aber er
sucht der Eigenart Zwinglis, indem er gründlich auf seine innere Entwicklung
und seine theologische Denkweise eingeht, gerecht zu werde".

Das Werk ist für weitere Kreise, nicht bloß für Gelehrte bestimmt.
staehelin hat daher die Quelleubelege und die Auseinandersetzung mit der
einschlägigen Litteratur auf das notwendigste beschränkt. Der sehr umfängliche
wissenschaftliche Apparat, über den er verfügt, macht sich nirgends in störender
Weise breit, sodaß das Buch sich leicht und angenehm liest, wozu auch die
kirre, fesselnde und doch einfache Darstellungsweise des Verfassers beiträgt,
vermißt habe ich nur ein Bildnis Zwinglis. Zwingli ist zwar kein Freund
der Bilder gewesen, aber eine Vergötterung Zwinglis ist ja nicht zu fürchten.
Man kann ihn begreifen, kann seine Ansichten teilen, seine große Bedeutung
anerkennen, aber begeistern kann man sich uicht für ihn. Trotz seines Todes


Grenzboten IV 189S 73
Iwingli

Worden, sodaß staehelin auf Grund seiner Nachforschungen zu der Überzeugung
gelangt ist, daß der für eine Biographie Zwinglis in Betracht kommende Stoff
in der Hauptsache vollständig veröffentlicht ist. „Andrerseits ist die genauere
Kenntnis der persönlichen Entwicklung und der theologischen Eigenart Zwinglis
durch die Arbeiten von G. Finster, A. Schweizer, M. Usteri und besonders
durch die umfassende Darstellung der Theologie Zwinglis von A. Baur in
erheblicher Weise gefördert worden." In dieser Beziehung fand staehelin eine
Ergänzung besonders wünschenswert, „weil der Theologe und der Denker in
den bisherigen Biographien Zwinglis ungebührlich hinter den Mann des
Praktischen und politischen Wirkens zurückgestellt erscheint."

Das Werk Staehelins ist die reife Frucht langjähriger Studien. Schon
im Jahre 1883 hat er zum vierhundertjährigen Geburtstage Zwinglis die
kleinere Schrift: „Huldreich Zwiugli und sein Reformationswerk" veröffentlicht.
Das fein und scharf gezeichnete Bild des Schweizer Reformators, das diese
Schrift enthält, ist nun zu einem großen Gemälde ausgeführt und in den
Nahmen der Zeitgeschichte eingefügt worden. Ähnlich wie Kvstlins Werk über
Luther, wird wohl Staehelins neue Biographie auf lange Zeit hinaus das
klassische Werk über Zwingli bleiben. Die beste Art, Lebende und Verstorbne
zu loben, sagt Lichtenberg, ist, ihre Schwachheiten zu entschuldigen und dabei
alle mögliche Menschenkenntnis anzuwenden. Nur keine Tugenden angedichtet,
die sie uicht besessen haben! Das verdirbt alles und macht selbst das Wahre
verdächtig. staehelin ist dieser Gefahr einer übertriebnen Verherrlichung, die
für reformirte Theologen bei Zwingli zeitweise nicht gering gewesen ist, ent¬
gangen. Er idealisirt nicht, er läßt die Thatsachen reden, ohne etwas zu ver¬
schweigen oder zu bemänteln, sodaß der Leser sich ein eignes Urteil bilden
kann. So wird uns dnrch seine Darstellung das Bild des Schweizer Refor¬
mators mit seineu Licht- und Schattenseiten lebendig und verständlich.

Bei Zwingli ist der Vergleich mit Luther nicht zu umgehen. staehelin
ist weit davon entfernt, Zwingli auf Luthers Kosten zu erheben. Aber er
sucht der Eigenart Zwinglis, indem er gründlich auf seine innere Entwicklung
und seine theologische Denkweise eingeht, gerecht zu werde».

Das Werk ist für weitere Kreise, nicht bloß für Gelehrte bestimmt.
staehelin hat daher die Quelleubelege und die Auseinandersetzung mit der
einschlägigen Litteratur auf das notwendigste beschränkt. Der sehr umfängliche
wissenschaftliche Apparat, über den er verfügt, macht sich nirgends in störender
Weise breit, sodaß das Buch sich leicht und angenehm liest, wozu auch die
kirre, fesselnde und doch einfache Darstellungsweise des Verfassers beiträgt,
vermißt habe ich nur ein Bildnis Zwinglis. Zwingli ist zwar kein Freund
der Bilder gewesen, aber eine Vergötterung Zwinglis ist ja nicht zu fürchten.
Man kann ihn begreifen, kann seine Ansichten teilen, seine große Bedeutung
anerkennen, aber begeistern kann man sich uicht für ihn. Trotz seines Todes


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[0579] Iwingli Worden, sodaß staehelin auf Grund seiner Nachforschungen zu der Überzeugung gelangt ist, daß der für eine Biographie Zwinglis in Betracht kommende Stoff in der Hauptsache vollständig veröffentlicht ist. „Andrerseits ist die genauere Kenntnis der persönlichen Entwicklung und der theologischen Eigenart Zwinglis durch die Arbeiten von G. Finster, A. Schweizer, M. Usteri und besonders durch die umfassende Darstellung der Theologie Zwinglis von A. Baur in erheblicher Weise gefördert worden." In dieser Beziehung fand staehelin eine Ergänzung besonders wünschenswert, „weil der Theologe und der Denker in den bisherigen Biographien Zwinglis ungebührlich hinter den Mann des Praktischen und politischen Wirkens zurückgestellt erscheint." Das Werk Staehelins ist die reife Frucht langjähriger Studien. Schon im Jahre 1883 hat er zum vierhundertjährigen Geburtstage Zwinglis die kleinere Schrift: „Huldreich Zwiugli und sein Reformationswerk" veröffentlicht. Das fein und scharf gezeichnete Bild des Schweizer Reformators, das diese Schrift enthält, ist nun zu einem großen Gemälde ausgeführt und in den Nahmen der Zeitgeschichte eingefügt worden. Ähnlich wie Kvstlins Werk über Luther, wird wohl Staehelins neue Biographie auf lange Zeit hinaus das klassische Werk über Zwingli bleiben. Die beste Art, Lebende und Verstorbne zu loben, sagt Lichtenberg, ist, ihre Schwachheiten zu entschuldigen und dabei alle mögliche Menschenkenntnis anzuwenden. Nur keine Tugenden angedichtet, die sie uicht besessen haben! Das verdirbt alles und macht selbst das Wahre verdächtig. staehelin ist dieser Gefahr einer übertriebnen Verherrlichung, die für reformirte Theologen bei Zwingli zeitweise nicht gering gewesen ist, ent¬ gangen. Er idealisirt nicht, er läßt die Thatsachen reden, ohne etwas zu ver¬ schweigen oder zu bemänteln, sodaß der Leser sich ein eignes Urteil bilden kann. So wird uns dnrch seine Darstellung das Bild des Schweizer Refor¬ mators mit seineu Licht- und Schattenseiten lebendig und verständlich. Bei Zwingli ist der Vergleich mit Luther nicht zu umgehen. staehelin ist weit davon entfernt, Zwingli auf Luthers Kosten zu erheben. Aber er sucht der Eigenart Zwinglis, indem er gründlich auf seine innere Entwicklung und seine theologische Denkweise eingeht, gerecht zu werde». Das Werk ist für weitere Kreise, nicht bloß für Gelehrte bestimmt. staehelin hat daher die Quelleubelege und die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Litteratur auf das notwendigste beschränkt. Der sehr umfängliche wissenschaftliche Apparat, über den er verfügt, macht sich nirgends in störender Weise breit, sodaß das Buch sich leicht und angenehm liest, wozu auch die kirre, fesselnde und doch einfache Darstellungsweise des Verfassers beiträgt, vermißt habe ich nur ein Bildnis Zwinglis. Zwingli ist zwar kein Freund der Bilder gewesen, aber eine Vergötterung Zwinglis ist ja nicht zu fürchten. Man kann ihn begreifen, kann seine Ansichten teilen, seine große Bedeutung anerkennen, aber begeistern kann man sich uicht für ihn. Trotz seines Todes Grenzboten IV 189S 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/579>, abgerufen am 29.06.2024.