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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Malerei und Zeichnung

nichts tragisches in diesen Kontrasten? Doch hören wir, was zur Erklärung
der neuen Behauptung gesagt wird. Nach den bisherigen Andeutungen über
den Charakter der Zeichnung könnte man erwarten, diese Behauptung werde
damit begründet werden, daß in der Zeichnung die Darstellung düstrer, von
der dunkeln Seite des Lebens hergenommner Erscheinungen minder aufdring¬
lich wirke als im farbigen Bilde, minder verletzend und abstoßend, weil sie
nicht, wie die Malerei, den vollen Schein des Wirklichen hat. Es kommt aber
anders. "Im Laokoon, sagt Klinger, scheidet Lessing von den der Darstellung
durch Malerei völlig künstlerisch möglichen Vorwürfen alle die Punkte aus,
wo das Verharren in höchsten Affekten, im Häßlichen, Grauen- und Ekel¬
erregenden unnatürlich wäre und daher auf die Dauer unerträglich werden und
dem Zweck (?) zuwiderlaufen würde. Diese Punkte sind der Darstellung durch
Poesie, Drama, Musik erlaubt, ja für sie unentbehrlich, weil in diesen die
Phantasie nicht an eben dieselben gebunden ist, selbst wenn sie mit aller Kraft
und Intensität sich vordrängen. Durch das Gleich- und Nacheinanderwirken
der ihnen vorhergehenden Entwicklung, sowie durch das Vorgefühl der er¬
folgenden Lösung können sie nicht allein und voll als solche Höhepunkte oder
Widerwärtigkeit wirken, sondern bleiben stets ein natürliches Glied eines vor¬
bereiteten Ganzen."

Lessing versteht unter Malerei -- daran möchte ich hier erinnern -- die
bildende Kunst überhaupt, zu der natürlich auch die Zeichnung zu rechnen ist.
Die Grenzen zwischen ihr und der Dichtkunst ergeben sich ihm wesentlich daraus,
daß die bildende Kunst nicht wie die erzählende und die dramatische Poesie
ein Nacheinander in der Zeit, sondern ein Dauerndes im Raum darstellt; sie
kann nicht eine fortschreitende Handlung, sondern nur einen einzigen Augen¬
blick einer Handlung schildern. Das Häßliche, das nicht Selbstzweck der Dar¬
stellung sein kann, kann in der erzählenden und dramatischen Poesie als etwas
Vorübergehendes, als ein "Ingrediens" charakteristischen Wert haben; aus der
bildenden Kunst ist das Häßliche, da sie es nicht als ein bloß transitorisches
darstellen kann, da sie nicht seine Überwindung zeigen kann, prinzipiell aus¬
zuschließen; für sie ist die Schönheit höchstes Gesetz. Das ist bekanntlich
Lessings Meinung. Merkwürdig ist es daher, wie sich Klinger auf Lesstug be¬
rufen zu können glaubt, indem er für die Zeichnung das Recht in Anspruch
nimmt, das Häßliche darzustellen. Die höchst sonderbare Art, wie er dieses
Recht zu begründen sucht, hat mit den Lessingschen Gedanken schlechterdings
nichts zu thun. Er sagt im unmittelbaren Anschluß an seine zuletzt mitge¬
teilte Bemerkung: "Die gleichzeitiges?) Beschäftigung unsrer Phantasie beim
Gewahrwerden des an und für sich Widerwärtigen, das Verhindern seiner
Alleinwirkung ist also das wesentliche Moment (!), dieses künstlerisch darstellbar
zu machen. Solche Momente (!) besitzt nun die Zeichnung, indem sie z. V. der
Farbe entbehrt, eines der unerläßlichsten Teile des Gesamteindrucks, den die Natur


Malerei und Zeichnung

nichts tragisches in diesen Kontrasten? Doch hören wir, was zur Erklärung
der neuen Behauptung gesagt wird. Nach den bisherigen Andeutungen über
den Charakter der Zeichnung könnte man erwarten, diese Behauptung werde
damit begründet werden, daß in der Zeichnung die Darstellung düstrer, von
der dunkeln Seite des Lebens hergenommner Erscheinungen minder aufdring¬
lich wirke als im farbigen Bilde, minder verletzend und abstoßend, weil sie
nicht, wie die Malerei, den vollen Schein des Wirklichen hat. Es kommt aber
anders. „Im Laokoon, sagt Klinger, scheidet Lessing von den der Darstellung
durch Malerei völlig künstlerisch möglichen Vorwürfen alle die Punkte aus,
wo das Verharren in höchsten Affekten, im Häßlichen, Grauen- und Ekel¬
erregenden unnatürlich wäre und daher auf die Dauer unerträglich werden und
dem Zweck (?) zuwiderlaufen würde. Diese Punkte sind der Darstellung durch
Poesie, Drama, Musik erlaubt, ja für sie unentbehrlich, weil in diesen die
Phantasie nicht an eben dieselben gebunden ist, selbst wenn sie mit aller Kraft
und Intensität sich vordrängen. Durch das Gleich- und Nacheinanderwirken
der ihnen vorhergehenden Entwicklung, sowie durch das Vorgefühl der er¬
folgenden Lösung können sie nicht allein und voll als solche Höhepunkte oder
Widerwärtigkeit wirken, sondern bleiben stets ein natürliches Glied eines vor¬
bereiteten Ganzen."

Lessing versteht unter Malerei — daran möchte ich hier erinnern — die
bildende Kunst überhaupt, zu der natürlich auch die Zeichnung zu rechnen ist.
Die Grenzen zwischen ihr und der Dichtkunst ergeben sich ihm wesentlich daraus,
daß die bildende Kunst nicht wie die erzählende und die dramatische Poesie
ein Nacheinander in der Zeit, sondern ein Dauerndes im Raum darstellt; sie
kann nicht eine fortschreitende Handlung, sondern nur einen einzigen Augen¬
blick einer Handlung schildern. Das Häßliche, das nicht Selbstzweck der Dar¬
stellung sein kann, kann in der erzählenden und dramatischen Poesie als etwas
Vorübergehendes, als ein „Ingrediens" charakteristischen Wert haben; aus der
bildenden Kunst ist das Häßliche, da sie es nicht als ein bloß transitorisches
darstellen kann, da sie nicht seine Überwindung zeigen kann, prinzipiell aus¬
zuschließen; für sie ist die Schönheit höchstes Gesetz. Das ist bekanntlich
Lessings Meinung. Merkwürdig ist es daher, wie sich Klinger auf Lesstug be¬
rufen zu können glaubt, indem er für die Zeichnung das Recht in Anspruch
nimmt, das Häßliche darzustellen. Die höchst sonderbare Art, wie er dieses
Recht zu begründen sucht, hat mit den Lessingschen Gedanken schlechterdings
nichts zu thun. Er sagt im unmittelbaren Anschluß an seine zuletzt mitge¬
teilte Bemerkung: „Die gleichzeitiges?) Beschäftigung unsrer Phantasie beim
Gewahrwerden des an und für sich Widerwärtigen, das Verhindern seiner
Alleinwirkung ist also das wesentliche Moment (!), dieses künstlerisch darstellbar
zu machen. Solche Momente (!) besitzt nun die Zeichnung, indem sie z. V. der
Farbe entbehrt, eines der unerläßlichsten Teile des Gesamteindrucks, den die Natur


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[0538] Malerei und Zeichnung nichts tragisches in diesen Kontrasten? Doch hören wir, was zur Erklärung der neuen Behauptung gesagt wird. Nach den bisherigen Andeutungen über den Charakter der Zeichnung könnte man erwarten, diese Behauptung werde damit begründet werden, daß in der Zeichnung die Darstellung düstrer, von der dunkeln Seite des Lebens hergenommner Erscheinungen minder aufdring¬ lich wirke als im farbigen Bilde, minder verletzend und abstoßend, weil sie nicht, wie die Malerei, den vollen Schein des Wirklichen hat. Es kommt aber anders. „Im Laokoon, sagt Klinger, scheidet Lessing von den der Darstellung durch Malerei völlig künstlerisch möglichen Vorwürfen alle die Punkte aus, wo das Verharren in höchsten Affekten, im Häßlichen, Grauen- und Ekel¬ erregenden unnatürlich wäre und daher auf die Dauer unerträglich werden und dem Zweck (?) zuwiderlaufen würde. Diese Punkte sind der Darstellung durch Poesie, Drama, Musik erlaubt, ja für sie unentbehrlich, weil in diesen die Phantasie nicht an eben dieselben gebunden ist, selbst wenn sie mit aller Kraft und Intensität sich vordrängen. Durch das Gleich- und Nacheinanderwirken der ihnen vorhergehenden Entwicklung, sowie durch das Vorgefühl der er¬ folgenden Lösung können sie nicht allein und voll als solche Höhepunkte oder Widerwärtigkeit wirken, sondern bleiben stets ein natürliches Glied eines vor¬ bereiteten Ganzen." Lessing versteht unter Malerei — daran möchte ich hier erinnern — die bildende Kunst überhaupt, zu der natürlich auch die Zeichnung zu rechnen ist. Die Grenzen zwischen ihr und der Dichtkunst ergeben sich ihm wesentlich daraus, daß die bildende Kunst nicht wie die erzählende und die dramatische Poesie ein Nacheinander in der Zeit, sondern ein Dauerndes im Raum darstellt; sie kann nicht eine fortschreitende Handlung, sondern nur einen einzigen Augen¬ blick einer Handlung schildern. Das Häßliche, das nicht Selbstzweck der Dar¬ stellung sein kann, kann in der erzählenden und dramatischen Poesie als etwas Vorübergehendes, als ein „Ingrediens" charakteristischen Wert haben; aus der bildenden Kunst ist das Häßliche, da sie es nicht als ein bloß transitorisches darstellen kann, da sie nicht seine Überwindung zeigen kann, prinzipiell aus¬ zuschließen; für sie ist die Schönheit höchstes Gesetz. Das ist bekanntlich Lessings Meinung. Merkwürdig ist es daher, wie sich Klinger auf Lesstug be¬ rufen zu können glaubt, indem er für die Zeichnung das Recht in Anspruch nimmt, das Häßliche darzustellen. Die höchst sonderbare Art, wie er dieses Recht zu begründen sucht, hat mit den Lessingschen Gedanken schlechterdings nichts zu thun. Er sagt im unmittelbaren Anschluß an seine zuletzt mitge¬ teilte Bemerkung: „Die gleichzeitiges?) Beschäftigung unsrer Phantasie beim Gewahrwerden des an und für sich Widerwärtigen, das Verhindern seiner Alleinwirkung ist also das wesentliche Moment (!), dieses künstlerisch darstellbar zu machen. Solche Momente (!) besitzt nun die Zeichnung, indem sie z. V. der Farbe entbehrt, eines der unerläßlichsten Teile des Gesamteindrucks, den die Natur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/538>, abgerufen am 25.08.2024.