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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

kommen haben. Das überhandnehmende Zeitungs- und Bücherlesen schafft
einen Ersatz von zweifelhaftem Werte. Jene feinern Seelenregungen, Ein¬
bildungen, Grillen und -- Dummheiten, die dem Romanschreiber den Stoff
für Verwicklungen liefern, sind in der Bauernwelt nicht vorhanden. Ernste
Zerwürfnisse treten daher fast nur dann ein, wenn der Mann ein Wirtshaus¬
läufer, oder die Frau eine schlechte Wirtin, oder eins von beiden untreu ist,
und das kam eben in jener Gegend selten vor. Bloße Temperamentsfehler
müssen schon sehr arg sein, wenn sie bei der bäuerlichen Lebensweise und Dick¬
felligkeit die Gatten auseinanderbringen sollen.

Die zarten Blümlein der Sentimentalität gedeihen nun freilich nicht auf
diesem Boden, wohl aber manchmal eine starke Liebesleidenschaft*) und sehr
oft rührende Anhänglichkeit und Treue, namentlich bei solchen Paaren, die
jung geheiratet haben, denn nur solche leben sich ganz in einander ein. Es
kommt wohl vor, daß, wenn ein solcher Philemon krank wird, seine Baucis
sich zu ihm ins Ehebett legt und sich mit ihm versehen läßt, weil sie überzeugt
ist, daß sie "den Vater" nicht überleben wird. Ein Musterehepaar waren
auch mein Kirchvater Jäkel und "seine." Er, der Christian, ein unansehn¬
licher Mann mit einem von vielen Falten durchfurchten Gesicht und in vor¬
sintflutlicher Kleidung. Großartig sah er in seinem schiefergrauen Sonntagsrock
aus, dessen Schöße bis auf die Erde reichten, und dessen Puffärmel den Neid
unsrer fünfundneunziger Dämchen erregt haben würden. Quer über den Rücken
lief ein Riß -- es muß ein starker Nagel gewesen sein, der dieses filzartige
Tuch zu zerreißen imstande gewesen war --, den "seine" mit gelbgrauem
Bindfaden zugenäht hatte; in kühnen Stößen war ihre heugabelgewohnte Rechte
mit dem ungewohnten winzigen Instrument hin- und hergefahren, und kreuz
und quer, evF" x"t lagen die Stiche umher wie eine aztekische Inschrift.
Sie nun, die Kathrin (auf der ersten Silbe zu betonen), war ein äußerst
schmuckes Weib mit einem Teint wie Milch und Blut, Grübchen in den roten
Wangen und stets heiter lachend neben ihrem Brummbär von Christian, der
zur Wahrung seiner Würde seine Gutmütigkeit und seinen Pantoffelgehvrsam
hinter einem möglichst grimmigen Gesicht zu verbergen suchte. Jedes war
stolz auf das andre, und wenn sie mit einander in die Kirche gingen, so
schielten sie verstohlen herum, sie, ob auch ihr Christian mit der schönen Naht,
er, ob auch seine schöne Kathrin gehörig bewundert würde. Jeden Sommer
kamen sie zweimal mit ihren Kühen, das Heu und das Grummet meines Obst-



*) Die zu einem tragischen Ende führt, wenn sie nicht in der Richtung der Familien-
Politik liegt. Diese giebt bekanntlich meistens den Ausschlag. An einem andern Orte erfuhr
ich einmal, daß der Bräutigam, den eine Familie der Gemeinde für die Tochter, ein braves
und schönes Mädchen, ausgesucht hatte, grundhäßlich und dabei ein Säufer, Spieler usw. sei.
Als ich der Mutter mein Bedauern darüber aussprach, erwiderte sie: I nu, wenn o (auch)
der Kerl nischt taugt, kriegt se doch a fehle (schönes) Gutt,
Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

kommen haben. Das überhandnehmende Zeitungs- und Bücherlesen schafft
einen Ersatz von zweifelhaftem Werte. Jene feinern Seelenregungen, Ein¬
bildungen, Grillen und — Dummheiten, die dem Romanschreiber den Stoff
für Verwicklungen liefern, sind in der Bauernwelt nicht vorhanden. Ernste
Zerwürfnisse treten daher fast nur dann ein, wenn der Mann ein Wirtshaus¬
läufer, oder die Frau eine schlechte Wirtin, oder eins von beiden untreu ist,
und das kam eben in jener Gegend selten vor. Bloße Temperamentsfehler
müssen schon sehr arg sein, wenn sie bei der bäuerlichen Lebensweise und Dick¬
felligkeit die Gatten auseinanderbringen sollen.

Die zarten Blümlein der Sentimentalität gedeihen nun freilich nicht auf
diesem Boden, wohl aber manchmal eine starke Liebesleidenschaft*) und sehr
oft rührende Anhänglichkeit und Treue, namentlich bei solchen Paaren, die
jung geheiratet haben, denn nur solche leben sich ganz in einander ein. Es
kommt wohl vor, daß, wenn ein solcher Philemon krank wird, seine Baucis
sich zu ihm ins Ehebett legt und sich mit ihm versehen läßt, weil sie überzeugt
ist, daß sie „den Vater" nicht überleben wird. Ein Musterehepaar waren
auch mein Kirchvater Jäkel und „seine." Er, der Christian, ein unansehn¬
licher Mann mit einem von vielen Falten durchfurchten Gesicht und in vor¬
sintflutlicher Kleidung. Großartig sah er in seinem schiefergrauen Sonntagsrock
aus, dessen Schöße bis auf die Erde reichten, und dessen Puffärmel den Neid
unsrer fünfundneunziger Dämchen erregt haben würden. Quer über den Rücken
lief ein Riß — es muß ein starker Nagel gewesen sein, der dieses filzartige
Tuch zu zerreißen imstande gewesen war —, den „seine" mit gelbgrauem
Bindfaden zugenäht hatte; in kühnen Stößen war ihre heugabelgewohnte Rechte
mit dem ungewohnten winzigen Instrument hin- und hergefahren, und kreuz
und quer, evF« x«t lagen die Stiche umher wie eine aztekische Inschrift.
Sie nun, die Kathrin (auf der ersten Silbe zu betonen), war ein äußerst
schmuckes Weib mit einem Teint wie Milch und Blut, Grübchen in den roten
Wangen und stets heiter lachend neben ihrem Brummbär von Christian, der
zur Wahrung seiner Würde seine Gutmütigkeit und seinen Pantoffelgehvrsam
hinter einem möglichst grimmigen Gesicht zu verbergen suchte. Jedes war
stolz auf das andre, und wenn sie mit einander in die Kirche gingen, so
schielten sie verstohlen herum, sie, ob auch ihr Christian mit der schönen Naht,
er, ob auch seine schöne Kathrin gehörig bewundert würde. Jeden Sommer
kamen sie zweimal mit ihren Kühen, das Heu und das Grummet meines Obst-



*) Die zu einem tragischen Ende führt, wenn sie nicht in der Richtung der Familien-
Politik liegt. Diese giebt bekanntlich meistens den Ausschlag. An einem andern Orte erfuhr
ich einmal, daß der Bräutigam, den eine Familie der Gemeinde für die Tochter, ein braves
und schönes Mädchen, ausgesucht hatte, grundhäßlich und dabei ein Säufer, Spieler usw. sei.
Als ich der Mutter mein Bedauern darüber aussprach, erwiderte sie: I nu, wenn o (auch)
der Kerl nischt taugt, kriegt se doch a fehle (schönes) Gutt,
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[0500] Wandlungen des Ich im Ieitenstrome kommen haben. Das überhandnehmende Zeitungs- und Bücherlesen schafft einen Ersatz von zweifelhaftem Werte. Jene feinern Seelenregungen, Ein¬ bildungen, Grillen und — Dummheiten, die dem Romanschreiber den Stoff für Verwicklungen liefern, sind in der Bauernwelt nicht vorhanden. Ernste Zerwürfnisse treten daher fast nur dann ein, wenn der Mann ein Wirtshaus¬ läufer, oder die Frau eine schlechte Wirtin, oder eins von beiden untreu ist, und das kam eben in jener Gegend selten vor. Bloße Temperamentsfehler müssen schon sehr arg sein, wenn sie bei der bäuerlichen Lebensweise und Dick¬ felligkeit die Gatten auseinanderbringen sollen. Die zarten Blümlein der Sentimentalität gedeihen nun freilich nicht auf diesem Boden, wohl aber manchmal eine starke Liebesleidenschaft*) und sehr oft rührende Anhänglichkeit und Treue, namentlich bei solchen Paaren, die jung geheiratet haben, denn nur solche leben sich ganz in einander ein. Es kommt wohl vor, daß, wenn ein solcher Philemon krank wird, seine Baucis sich zu ihm ins Ehebett legt und sich mit ihm versehen läßt, weil sie überzeugt ist, daß sie „den Vater" nicht überleben wird. Ein Musterehepaar waren auch mein Kirchvater Jäkel und „seine." Er, der Christian, ein unansehn¬ licher Mann mit einem von vielen Falten durchfurchten Gesicht und in vor¬ sintflutlicher Kleidung. Großartig sah er in seinem schiefergrauen Sonntagsrock aus, dessen Schöße bis auf die Erde reichten, und dessen Puffärmel den Neid unsrer fünfundneunziger Dämchen erregt haben würden. Quer über den Rücken lief ein Riß — es muß ein starker Nagel gewesen sein, der dieses filzartige Tuch zu zerreißen imstande gewesen war —, den „seine" mit gelbgrauem Bindfaden zugenäht hatte; in kühnen Stößen war ihre heugabelgewohnte Rechte mit dem ungewohnten winzigen Instrument hin- und hergefahren, und kreuz und quer, evF« x«t lagen die Stiche umher wie eine aztekische Inschrift. Sie nun, die Kathrin (auf der ersten Silbe zu betonen), war ein äußerst schmuckes Weib mit einem Teint wie Milch und Blut, Grübchen in den roten Wangen und stets heiter lachend neben ihrem Brummbär von Christian, der zur Wahrung seiner Würde seine Gutmütigkeit und seinen Pantoffelgehvrsam hinter einem möglichst grimmigen Gesicht zu verbergen suchte. Jedes war stolz auf das andre, und wenn sie mit einander in die Kirche gingen, so schielten sie verstohlen herum, sie, ob auch ihr Christian mit der schönen Naht, er, ob auch seine schöne Kathrin gehörig bewundert würde. Jeden Sommer kamen sie zweimal mit ihren Kühen, das Heu und das Grummet meines Obst- *) Die zu einem tragischen Ende führt, wenn sie nicht in der Richtung der Familien- Politik liegt. Diese giebt bekanntlich meistens den Ausschlag. An einem andern Orte erfuhr ich einmal, daß der Bräutigam, den eine Familie der Gemeinde für die Tochter, ein braves und schönes Mädchen, ausgesucht hatte, grundhäßlich und dabei ein Säufer, Spieler usw. sei. Als ich der Mutter mein Bedauern darüber aussprach, erwiderte sie: I nu, wenn o (auch) der Kerl nischt taugt, kriegt se doch a fehle (schönes) Gutt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/500>, abgerufen am 20.06.2024.