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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Vielleicht auch in manchen verarmten und deshalb verlotterten Bauernschaften
Westdeutschlands unvermeidlich sein mag, aber natürliche Dinge wurden mit
der den Naturkindern eignen Unbefangenheit besprochen, alte kranke Frauen
enthüllten einem, wenn man nicht heftig abwehrte, ihre verborgnen Schäden,
und wenn die Jugend einmal die Grenze des Erlaubten überschritt, so machte
man nicht viel Aufhebens davon. Das Familienleben litt darunter nicht im
mindesten. Unglückliche Ehen bildeten eine seltne Ausnahme. Auf dem Lande
weiß man es ganz genau, nicht bloß wie es um eines jeden Wirtschaft, sondern
auch wie es um eines jeden Ehe steht. Stimmen ein Paar Eheleute nicht
mit einander, so sagen sie sich das von Zeit zu Zeit so laut und so deutlich,
daß es nicht allein das Gesinde, sondern auch die Nachbarschaft hört. Ihr
Zerwürfnis vor der Welt zu verbergen und einander in der Gesellschaft Artig¬
keiten zu sagen und Aufmerksamkeiten zu erweisen, füllt ihnen gar nicht ein.
Die Ehe ist bei der Bauerschaft fo tief und fest gewurzelt, daß sich die Gesetz¬
geber und Sittenprediger alle Sorge und Mühe darum ersparen können. Der
deutsche Bauerhof ist nicht denkbar ohne Kuhstall, und der Kuhstall kaun auf
die Dauer nicht gedeihen ohne Bäuerin. Auch ist eine Hausfrau nötig, die
für den Bauer und das Gesinde die Mahlzeit bereit hält, wenn sie vom Felde
kommen,") und endlich muß der Bauer einen rechtmäßigen Sprößling haben,
dem er den Hof vererbt. So ist die Notwendigkeit der Ehe und zugleich eine
Arbeitsteilung gegeben, die von vornherein ein gesundes Verhältnis zwischen
den beiden Gatten begründet. Die Kleinbäuerin muß sogar mit dem Mann
aufs Feld und bei allen Verrichtungen, die zwei Personen erfordern, den Knecht
ersetzen. Zu Mittag geht sie eine Stunde vor dem Manne heim, um Feuer
anzumachen und die Kartoffeln "zuzusetzen," denn die sind, außer Sonntags,
die tägliche Kost, weil die Frau keine Zeit hat, Fleisch zu kochen oder zu
braten. So ziehen sie buchstäblich an einem Joch mit einander und gewöhnen
sich an einander wie ein Gespann Pferde, Kühe oder Ochsen. Beim städtischen
Kleinhandwerker erzeugt die Zusammenpferchung von Mann, Weib, Kindern
und Lehrjungen in einen engen, ungemütlichen Raum bei unerfreulicher Arbeit
oft eine so giftige Stimmung, daß des Gekeifs und Geraufs kein Ende ist.
Auf dem Lande, wo sich alles im Freien tummelt, kann eine solche Stim¬
mung gar nicht aufkommen. Nur in der Zeit zwischen Ausdrusch und Früh¬
jahrsbestellung findet sich manchmal üble Laune ein, die man wohl mit Schnaps¬
glas und Kartenspiel zu vertreiben sucht, und will der Winter nicht weichen,
dann schauen Bauer und Bäuerin unzähligemal verdrießlich und sehnsüchtig
zum Fenster hinaus. Leider ist die Winterruhe länger und öder geworden,
seit zuerst das Spinnrad und dann sogar der Dreschflegel den Abschied be-



Unsre heutigen Herren "Rustikalen," die sich schämen würden, selbst hinter dem Pfluge
zu gehen, sind leine richtigen Bauern mehr.
Grenzboten IV 1895 63
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Vielleicht auch in manchen verarmten und deshalb verlotterten Bauernschaften
Westdeutschlands unvermeidlich sein mag, aber natürliche Dinge wurden mit
der den Naturkindern eignen Unbefangenheit besprochen, alte kranke Frauen
enthüllten einem, wenn man nicht heftig abwehrte, ihre verborgnen Schäden,
und wenn die Jugend einmal die Grenze des Erlaubten überschritt, so machte
man nicht viel Aufhebens davon. Das Familienleben litt darunter nicht im
mindesten. Unglückliche Ehen bildeten eine seltne Ausnahme. Auf dem Lande
weiß man es ganz genau, nicht bloß wie es um eines jeden Wirtschaft, sondern
auch wie es um eines jeden Ehe steht. Stimmen ein Paar Eheleute nicht
mit einander, so sagen sie sich das von Zeit zu Zeit so laut und so deutlich,
daß es nicht allein das Gesinde, sondern auch die Nachbarschaft hört. Ihr
Zerwürfnis vor der Welt zu verbergen und einander in der Gesellschaft Artig¬
keiten zu sagen und Aufmerksamkeiten zu erweisen, füllt ihnen gar nicht ein.
Die Ehe ist bei der Bauerschaft fo tief und fest gewurzelt, daß sich die Gesetz¬
geber und Sittenprediger alle Sorge und Mühe darum ersparen können. Der
deutsche Bauerhof ist nicht denkbar ohne Kuhstall, und der Kuhstall kaun auf
die Dauer nicht gedeihen ohne Bäuerin. Auch ist eine Hausfrau nötig, die
für den Bauer und das Gesinde die Mahlzeit bereit hält, wenn sie vom Felde
kommen,") und endlich muß der Bauer einen rechtmäßigen Sprößling haben,
dem er den Hof vererbt. So ist die Notwendigkeit der Ehe und zugleich eine
Arbeitsteilung gegeben, die von vornherein ein gesundes Verhältnis zwischen
den beiden Gatten begründet. Die Kleinbäuerin muß sogar mit dem Mann
aufs Feld und bei allen Verrichtungen, die zwei Personen erfordern, den Knecht
ersetzen. Zu Mittag geht sie eine Stunde vor dem Manne heim, um Feuer
anzumachen und die Kartoffeln „zuzusetzen," denn die sind, außer Sonntags,
die tägliche Kost, weil die Frau keine Zeit hat, Fleisch zu kochen oder zu
braten. So ziehen sie buchstäblich an einem Joch mit einander und gewöhnen
sich an einander wie ein Gespann Pferde, Kühe oder Ochsen. Beim städtischen
Kleinhandwerker erzeugt die Zusammenpferchung von Mann, Weib, Kindern
und Lehrjungen in einen engen, ungemütlichen Raum bei unerfreulicher Arbeit
oft eine so giftige Stimmung, daß des Gekeifs und Geraufs kein Ende ist.
Auf dem Lande, wo sich alles im Freien tummelt, kann eine solche Stim¬
mung gar nicht aufkommen. Nur in der Zeit zwischen Ausdrusch und Früh¬
jahrsbestellung findet sich manchmal üble Laune ein, die man wohl mit Schnaps¬
glas und Kartenspiel zu vertreiben sucht, und will der Winter nicht weichen,
dann schauen Bauer und Bäuerin unzähligemal verdrießlich und sehnsüchtig
zum Fenster hinaus. Leider ist die Winterruhe länger und öder geworden,
seit zuerst das Spinnrad und dann sogar der Dreschflegel den Abschied be-



Unsre heutigen Herren „Rustikalen," die sich schämen würden, selbst hinter dem Pfluge
zu gehen, sind leine richtigen Bauern mehr.
Grenzboten IV 1895 63
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[0499] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Vielleicht auch in manchen verarmten und deshalb verlotterten Bauernschaften Westdeutschlands unvermeidlich sein mag, aber natürliche Dinge wurden mit der den Naturkindern eignen Unbefangenheit besprochen, alte kranke Frauen enthüllten einem, wenn man nicht heftig abwehrte, ihre verborgnen Schäden, und wenn die Jugend einmal die Grenze des Erlaubten überschritt, so machte man nicht viel Aufhebens davon. Das Familienleben litt darunter nicht im mindesten. Unglückliche Ehen bildeten eine seltne Ausnahme. Auf dem Lande weiß man es ganz genau, nicht bloß wie es um eines jeden Wirtschaft, sondern auch wie es um eines jeden Ehe steht. Stimmen ein Paar Eheleute nicht mit einander, so sagen sie sich das von Zeit zu Zeit so laut und so deutlich, daß es nicht allein das Gesinde, sondern auch die Nachbarschaft hört. Ihr Zerwürfnis vor der Welt zu verbergen und einander in der Gesellschaft Artig¬ keiten zu sagen und Aufmerksamkeiten zu erweisen, füllt ihnen gar nicht ein. Die Ehe ist bei der Bauerschaft fo tief und fest gewurzelt, daß sich die Gesetz¬ geber und Sittenprediger alle Sorge und Mühe darum ersparen können. Der deutsche Bauerhof ist nicht denkbar ohne Kuhstall, und der Kuhstall kaun auf die Dauer nicht gedeihen ohne Bäuerin. Auch ist eine Hausfrau nötig, die für den Bauer und das Gesinde die Mahlzeit bereit hält, wenn sie vom Felde kommen,") und endlich muß der Bauer einen rechtmäßigen Sprößling haben, dem er den Hof vererbt. So ist die Notwendigkeit der Ehe und zugleich eine Arbeitsteilung gegeben, die von vornherein ein gesundes Verhältnis zwischen den beiden Gatten begründet. Die Kleinbäuerin muß sogar mit dem Mann aufs Feld und bei allen Verrichtungen, die zwei Personen erfordern, den Knecht ersetzen. Zu Mittag geht sie eine Stunde vor dem Manne heim, um Feuer anzumachen und die Kartoffeln „zuzusetzen," denn die sind, außer Sonntags, die tägliche Kost, weil die Frau keine Zeit hat, Fleisch zu kochen oder zu braten. So ziehen sie buchstäblich an einem Joch mit einander und gewöhnen sich an einander wie ein Gespann Pferde, Kühe oder Ochsen. Beim städtischen Kleinhandwerker erzeugt die Zusammenpferchung von Mann, Weib, Kindern und Lehrjungen in einen engen, ungemütlichen Raum bei unerfreulicher Arbeit oft eine so giftige Stimmung, daß des Gekeifs und Geraufs kein Ende ist. Auf dem Lande, wo sich alles im Freien tummelt, kann eine solche Stim¬ mung gar nicht aufkommen. Nur in der Zeit zwischen Ausdrusch und Früh¬ jahrsbestellung findet sich manchmal üble Laune ein, die man wohl mit Schnaps¬ glas und Kartenspiel zu vertreiben sucht, und will der Winter nicht weichen, dann schauen Bauer und Bäuerin unzähligemal verdrießlich und sehnsüchtig zum Fenster hinaus. Leider ist die Winterruhe länger und öder geworden, seit zuerst das Spinnrad und dann sogar der Dreschflegel den Abschied be- Unsre heutigen Herren „Rustikalen," die sich schämen würden, selbst hinter dem Pfluge zu gehen, sind leine richtigen Bauern mehr. Grenzboten IV 1895 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/499>, abgerufen am 26.07.2024.