Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Litterarische Industrie

andre industrielle Fortschritte, von denen sich noch unsre Eltern nichts träumen
ließen.

In die Rubrik Industrie verdient nur zu häufig auch das Herausgeben
hinterlassener Schriften gerechnet zu werden. Gustav Freytag war so weise,
für seine Person dem Mißbrauch, jede schriftliche Aufzeichnung aus dem Nach¬
lasse einer Person von bekanntern Namen zu veröffentlichen, durch eine Be¬
stimmung in seinem Testamente zu steuern. Aber wie wenige sind so vorsichtig!
Schon gegenüber den Dichtern unsrer klassischen Periode ist in dieser Beziehung
viel gesündigt worden, aber was will das besagen im Vergleiche mit der
Gegenwart! Man sucht das Hervorzerren jedes unausgeführt gebliebner Ent¬
wurfs, jeder Notiz, jedes Vriefchens gewöhnlich durch die Behauptung zu be¬
schönigen, die Nation habe ein Recht auf alles, was ein berühmter Mann ge¬
dacht, geplant, geschrieben hat. Diese Behauptung kann aber doch nur in
großer Einschränkung gelten. Was der Verstorbne nicht selbst für den Druck
bestimmt hat, das müßte stets aufs gründlichste darauf geprüft werden, ob es
sich zur Veröffentlichung eignet, und die dumme Neugier, die jeden hervor¬
ragenden Staatsmann, Schriftsteller usw. im Schlafrocke sehen, am liebsten
hinter seine Bettvorhänge gucken möchte, verdient gar keine Befriedigung. Zum
Herausgeben eines schriftlichen Nachlasses ist sehr viel Verstand und Takt er¬
forderlich. Man kann bedauern, daß sich die Nichte des Generals v. Gerlach
durch übertriebne Rücksicht hat bestimmen lassen, die Aufzeichnungen ihres
Oheims einer Zensur zu unterwerfen, die uns wahrscheinlich um manche ge¬
schichtlich merkwürdige und aufklärende Thatsache gebracht hat; doch ist ein
solches Zuviel immer noch weniger schlimm als das Gegenteil. Wir gönnen
den Verehrern Heines die Befriedigung, immer neue Beweise dafür ans Licht
zu bringen, daß sich ihr Held unaufhörlich in Geldnot befunden, Reklame¬
bedürfnis und Neigung gehabt hat, seine Gegner oder Konkurrenten zu be¬
geifern; Bessere dagegen möchten wir auch besser geschützt wissen.

Nehmen wir z. B. Gottfried Keller, der das treffliche Wort "Nachla߬
schnüffler" erfunden hat. Er war, wie seine Freunde erzählen, jahrelang
mit seinem jetzigen Biographen entzweit, weil er fürchtete, von diesem künftig
einmal so rücksichtslos geschildert zu werden wie der unglücklich Heinrich Leut-
hold. Zuletzt muß eine Aussöhnung zustande gekommen sein. Und es soll
auch nicht behauptet werden, daß Bächtold geradezu indiskret verfahren sei.
Dennoch wäre viel von dem, was nun dem großen Publikum vorliegt, besser
ungedruckt geblieben. Wer den prächtigen Menschen persönlich gekannt hat,
erkennt ihn ja auch in Ausbrttchen schlechter Laune oder knnrrigen Humors
wieder, würde jedoch auf manchen unliebenswürdigen Zug, auf manche
ganz unwesentliche Briefstelle gern verzichtet haben, deren Bedeutung zu er¬
mitteln oft nicht einmal dem emsigen Herausgeber gelungen ist. Und das
große Publikum wird aus den Büchern ein vielfach falsches Bild erhalten.


Litterarische Industrie

andre industrielle Fortschritte, von denen sich noch unsre Eltern nichts träumen
ließen.

In die Rubrik Industrie verdient nur zu häufig auch das Herausgeben
hinterlassener Schriften gerechnet zu werden. Gustav Freytag war so weise,
für seine Person dem Mißbrauch, jede schriftliche Aufzeichnung aus dem Nach¬
lasse einer Person von bekanntern Namen zu veröffentlichen, durch eine Be¬
stimmung in seinem Testamente zu steuern. Aber wie wenige sind so vorsichtig!
Schon gegenüber den Dichtern unsrer klassischen Periode ist in dieser Beziehung
viel gesündigt worden, aber was will das besagen im Vergleiche mit der
Gegenwart! Man sucht das Hervorzerren jedes unausgeführt gebliebner Ent¬
wurfs, jeder Notiz, jedes Vriefchens gewöhnlich durch die Behauptung zu be¬
schönigen, die Nation habe ein Recht auf alles, was ein berühmter Mann ge¬
dacht, geplant, geschrieben hat. Diese Behauptung kann aber doch nur in
großer Einschränkung gelten. Was der Verstorbne nicht selbst für den Druck
bestimmt hat, das müßte stets aufs gründlichste darauf geprüft werden, ob es
sich zur Veröffentlichung eignet, und die dumme Neugier, die jeden hervor¬
ragenden Staatsmann, Schriftsteller usw. im Schlafrocke sehen, am liebsten
hinter seine Bettvorhänge gucken möchte, verdient gar keine Befriedigung. Zum
Herausgeben eines schriftlichen Nachlasses ist sehr viel Verstand und Takt er¬
forderlich. Man kann bedauern, daß sich die Nichte des Generals v. Gerlach
durch übertriebne Rücksicht hat bestimmen lassen, die Aufzeichnungen ihres
Oheims einer Zensur zu unterwerfen, die uns wahrscheinlich um manche ge¬
schichtlich merkwürdige und aufklärende Thatsache gebracht hat; doch ist ein
solches Zuviel immer noch weniger schlimm als das Gegenteil. Wir gönnen
den Verehrern Heines die Befriedigung, immer neue Beweise dafür ans Licht
zu bringen, daß sich ihr Held unaufhörlich in Geldnot befunden, Reklame¬
bedürfnis und Neigung gehabt hat, seine Gegner oder Konkurrenten zu be¬
geifern; Bessere dagegen möchten wir auch besser geschützt wissen.

Nehmen wir z. B. Gottfried Keller, der das treffliche Wort „Nachla߬
schnüffler" erfunden hat. Er war, wie seine Freunde erzählen, jahrelang
mit seinem jetzigen Biographen entzweit, weil er fürchtete, von diesem künftig
einmal so rücksichtslos geschildert zu werden wie der unglücklich Heinrich Leut-
hold. Zuletzt muß eine Aussöhnung zustande gekommen sein. Und es soll
auch nicht behauptet werden, daß Bächtold geradezu indiskret verfahren sei.
Dennoch wäre viel von dem, was nun dem großen Publikum vorliegt, besser
ungedruckt geblieben. Wer den prächtigen Menschen persönlich gekannt hat,
erkennt ihn ja auch in Ausbrttchen schlechter Laune oder knnrrigen Humors
wieder, würde jedoch auf manchen unliebenswürdigen Zug, auf manche
ganz unwesentliche Briefstelle gern verzichtet haben, deren Bedeutung zu er¬
mitteln oft nicht einmal dem emsigen Herausgeber gelungen ist. Und das
große Publikum wird aus den Büchern ein vielfach falsches Bild erhalten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221458"/>
          <fw type="header" place="top"> Litterarische Industrie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1611" prev="#ID_1610"> andre industrielle Fortschritte, von denen sich noch unsre Eltern nichts träumen<lb/>
ließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1612"> In die Rubrik Industrie verdient nur zu häufig auch das Herausgeben<lb/>
hinterlassener Schriften gerechnet zu werden. Gustav Freytag war so weise,<lb/>
für seine Person dem Mißbrauch, jede schriftliche Aufzeichnung aus dem Nach¬<lb/>
lasse einer Person von bekanntern Namen zu veröffentlichen, durch eine Be¬<lb/>
stimmung in seinem Testamente zu steuern. Aber wie wenige sind so vorsichtig!<lb/>
Schon gegenüber den Dichtern unsrer klassischen Periode ist in dieser Beziehung<lb/>
viel gesündigt worden, aber was will das besagen im Vergleiche mit der<lb/>
Gegenwart! Man sucht das Hervorzerren jedes unausgeführt gebliebner Ent¬<lb/>
wurfs, jeder Notiz, jedes Vriefchens gewöhnlich durch die Behauptung zu be¬<lb/>
schönigen, die Nation habe ein Recht auf alles, was ein berühmter Mann ge¬<lb/>
dacht, geplant, geschrieben hat. Diese Behauptung kann aber doch nur in<lb/>
großer Einschränkung gelten. Was der Verstorbne nicht selbst für den Druck<lb/>
bestimmt hat, das müßte stets aufs gründlichste darauf geprüft werden, ob es<lb/>
sich zur Veröffentlichung eignet, und die dumme Neugier, die jeden hervor¬<lb/>
ragenden Staatsmann, Schriftsteller usw. im Schlafrocke sehen, am liebsten<lb/>
hinter seine Bettvorhänge gucken möchte, verdient gar keine Befriedigung. Zum<lb/>
Herausgeben eines schriftlichen Nachlasses ist sehr viel Verstand und Takt er¬<lb/>
forderlich. Man kann bedauern, daß sich die Nichte des Generals v. Gerlach<lb/>
durch übertriebne Rücksicht hat bestimmen lassen, die Aufzeichnungen ihres<lb/>
Oheims einer Zensur zu unterwerfen, die uns wahrscheinlich um manche ge¬<lb/>
schichtlich merkwürdige und aufklärende Thatsache gebracht hat; doch ist ein<lb/>
solches Zuviel immer noch weniger schlimm als das Gegenteil. Wir gönnen<lb/>
den Verehrern Heines die Befriedigung, immer neue Beweise dafür ans Licht<lb/>
zu bringen, daß sich ihr Held unaufhörlich in Geldnot befunden, Reklame¬<lb/>
bedürfnis und Neigung gehabt hat, seine Gegner oder Konkurrenten zu be¬<lb/>
geifern; Bessere dagegen möchten wir auch besser geschützt wissen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1613"> Nehmen wir z. B. Gottfried Keller, der das treffliche Wort &#x201E;Nachla߬<lb/>
schnüffler" erfunden hat. Er war, wie seine Freunde erzählen, jahrelang<lb/>
mit seinem jetzigen Biographen entzweit, weil er fürchtete, von diesem künftig<lb/>
einmal so rücksichtslos geschildert zu werden wie der unglücklich Heinrich Leut-<lb/>
hold. Zuletzt muß eine Aussöhnung zustande gekommen sein. Und es soll<lb/>
auch nicht behauptet werden, daß Bächtold geradezu indiskret verfahren sei.<lb/>
Dennoch wäre viel von dem, was nun dem großen Publikum vorliegt, besser<lb/>
ungedruckt geblieben. Wer den prächtigen Menschen persönlich gekannt hat,<lb/>
erkennt ihn ja auch in Ausbrttchen schlechter Laune oder knnrrigen Humors<lb/>
wieder, würde jedoch auf manchen unliebenswürdigen Zug, auf manche<lb/>
ganz unwesentliche Briefstelle gern verzichtet haben, deren Bedeutung zu er¬<lb/>
mitteln oft nicht einmal dem emsigen Herausgeber gelungen ist. Und das<lb/>
große Publikum wird aus den Büchern ein vielfach falsches Bild erhalten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0484] Litterarische Industrie andre industrielle Fortschritte, von denen sich noch unsre Eltern nichts träumen ließen. In die Rubrik Industrie verdient nur zu häufig auch das Herausgeben hinterlassener Schriften gerechnet zu werden. Gustav Freytag war so weise, für seine Person dem Mißbrauch, jede schriftliche Aufzeichnung aus dem Nach¬ lasse einer Person von bekanntern Namen zu veröffentlichen, durch eine Be¬ stimmung in seinem Testamente zu steuern. Aber wie wenige sind so vorsichtig! Schon gegenüber den Dichtern unsrer klassischen Periode ist in dieser Beziehung viel gesündigt worden, aber was will das besagen im Vergleiche mit der Gegenwart! Man sucht das Hervorzerren jedes unausgeführt gebliebner Ent¬ wurfs, jeder Notiz, jedes Vriefchens gewöhnlich durch die Behauptung zu be¬ schönigen, die Nation habe ein Recht auf alles, was ein berühmter Mann ge¬ dacht, geplant, geschrieben hat. Diese Behauptung kann aber doch nur in großer Einschränkung gelten. Was der Verstorbne nicht selbst für den Druck bestimmt hat, das müßte stets aufs gründlichste darauf geprüft werden, ob es sich zur Veröffentlichung eignet, und die dumme Neugier, die jeden hervor¬ ragenden Staatsmann, Schriftsteller usw. im Schlafrocke sehen, am liebsten hinter seine Bettvorhänge gucken möchte, verdient gar keine Befriedigung. Zum Herausgeben eines schriftlichen Nachlasses ist sehr viel Verstand und Takt er¬ forderlich. Man kann bedauern, daß sich die Nichte des Generals v. Gerlach durch übertriebne Rücksicht hat bestimmen lassen, die Aufzeichnungen ihres Oheims einer Zensur zu unterwerfen, die uns wahrscheinlich um manche ge¬ schichtlich merkwürdige und aufklärende Thatsache gebracht hat; doch ist ein solches Zuviel immer noch weniger schlimm als das Gegenteil. Wir gönnen den Verehrern Heines die Befriedigung, immer neue Beweise dafür ans Licht zu bringen, daß sich ihr Held unaufhörlich in Geldnot befunden, Reklame¬ bedürfnis und Neigung gehabt hat, seine Gegner oder Konkurrenten zu be¬ geifern; Bessere dagegen möchten wir auch besser geschützt wissen. Nehmen wir z. B. Gottfried Keller, der das treffliche Wort „Nachla߬ schnüffler" erfunden hat. Er war, wie seine Freunde erzählen, jahrelang mit seinem jetzigen Biographen entzweit, weil er fürchtete, von diesem künftig einmal so rücksichtslos geschildert zu werden wie der unglücklich Heinrich Leut- hold. Zuletzt muß eine Aussöhnung zustande gekommen sein. Und es soll auch nicht behauptet werden, daß Bächtold geradezu indiskret verfahren sei. Dennoch wäre viel von dem, was nun dem großen Publikum vorliegt, besser ungedruckt geblieben. Wer den prächtigen Menschen persönlich gekannt hat, erkennt ihn ja auch in Ausbrttchen schlechter Laune oder knnrrigen Humors wieder, würde jedoch auf manchen unliebenswürdigen Zug, auf manche ganz unwesentliche Briefstelle gern verzichtet haben, deren Bedeutung zu er¬ mitteln oft nicht einmal dem emsigen Herausgeber gelungen ist. Und das große Publikum wird aus den Büchern ein vielfach falsches Bild erhalten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/484
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/484>, abgerufen am 24.07.2024.