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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Litterarische Industrie

Der Staat soll das Volk zur Förderung offenbaren Börsenschwindels be¬
steuern! Ob v. Bninski das auf die Dauer wird ablehnen können, oder ob er
das Schicksal des Herrn v. Dechend erdulden wird? Loblied und richtig ist
jedenfalls sein Vorsatz.


Rudolph Meyer


Litterarische Industrie

le großen Industrieausstellungen bieten bei ihren: atemloser Wett¬
lauf alles erdenkliche auf, um dem herkömmlichen Namen Welt¬
ausstellung zu genügen. Sie sind unerschöpflich im Aufspüren
von Arten der Thätigkeit, die eigentlich nicht zu den industriellen
gerechnet werden können, und deren Wesen oft gar nicht aus-
ftellungsfähig ist. Desto auffallender ist es, daß eine wirkliche, im vollen
Sinne moderne Industrie bisher gar keine oder doch keine ihrer Bedeutung ent¬
sprechende Berücksichtigung gefunden hat: die litterarische. Vor allem inter¬
essant würde eine rückblickende geschichtliche Darstellung der Art der littera¬
rischen Produktion sein, namentlich des Zeitungswesens. Wohl hat man hie
und da Zeitungen zur Schau gestellt, die dem Publikum den Genuß gewährten,
Vergleiche anzustellen zwischen den kleinen, selten erschienenen Blättchen mit
wenigen, sehr verspätet gebrachten Nachrichten usw. und riesigen Morgen-,
Mittags- und Abendsausgaben mit ihren zahllosen Telegrammen aus allen
Weltwinkeln usw. Doch damit wird uur äußerliches berührt, höchstens ver¬
gegenwärtigt, wann die Zeitungsindustrie entstanden ist, aber nicht, wie sie es
im Wettbewerb so herrlich weit gebracht hat. Wir wollen hier nicht ein Pro¬
gramm sür eine solche Ausstellung entwerfen, aber doch auf einige charakte¬
ristische Erscheinungen hindeuten. Man denke an die erfundnen diplomatischen
Aktenstücke, die Beschlüsse oder beabsichtigten Maßregeln von Regierungen,
durch deren Mitteilung niemand mehr als eben diese Regierungen überrascht
zu werden pflegt, an die "Interviews," die niemals stattgefunden haben, und
ähnliche Dinge mehr, die ihren Zweck, die Besitzer von Staatspapieren zu
beunruhigen, pünktlich erfüllen. Man denke daran, daß oft mit der falschen
Meldung gleichzeitig und von derselben Hand die Berichtigung verfaßt wird.
Mau übersehe auch nicht die segensreiche Thätigkeit litterarischer Bureaus, die
gleichzeitig zwei, vier oder sechs Tages- oder Wochenblätter in verschiednen
Gegenden mit "spannenden Originalerzählungen" versorgen, und hundert


Grenzboten IV 189S 61
Litterarische Industrie

Der Staat soll das Volk zur Förderung offenbaren Börsenschwindels be¬
steuern! Ob v. Bninski das auf die Dauer wird ablehnen können, oder ob er
das Schicksal des Herrn v. Dechend erdulden wird? Loblied und richtig ist
jedenfalls sein Vorsatz.


Rudolph Meyer


Litterarische Industrie

le großen Industrieausstellungen bieten bei ihren: atemloser Wett¬
lauf alles erdenkliche auf, um dem herkömmlichen Namen Welt¬
ausstellung zu genügen. Sie sind unerschöpflich im Aufspüren
von Arten der Thätigkeit, die eigentlich nicht zu den industriellen
gerechnet werden können, und deren Wesen oft gar nicht aus-
ftellungsfähig ist. Desto auffallender ist es, daß eine wirkliche, im vollen
Sinne moderne Industrie bisher gar keine oder doch keine ihrer Bedeutung ent¬
sprechende Berücksichtigung gefunden hat: die litterarische. Vor allem inter¬
essant würde eine rückblickende geschichtliche Darstellung der Art der littera¬
rischen Produktion sein, namentlich des Zeitungswesens. Wohl hat man hie
und da Zeitungen zur Schau gestellt, die dem Publikum den Genuß gewährten,
Vergleiche anzustellen zwischen den kleinen, selten erschienenen Blättchen mit
wenigen, sehr verspätet gebrachten Nachrichten usw. und riesigen Morgen-,
Mittags- und Abendsausgaben mit ihren zahllosen Telegrammen aus allen
Weltwinkeln usw. Doch damit wird uur äußerliches berührt, höchstens ver¬
gegenwärtigt, wann die Zeitungsindustrie entstanden ist, aber nicht, wie sie es
im Wettbewerb so herrlich weit gebracht hat. Wir wollen hier nicht ein Pro¬
gramm sür eine solche Ausstellung entwerfen, aber doch auf einige charakte¬
ristische Erscheinungen hindeuten. Man denke an die erfundnen diplomatischen
Aktenstücke, die Beschlüsse oder beabsichtigten Maßregeln von Regierungen,
durch deren Mitteilung niemand mehr als eben diese Regierungen überrascht
zu werden pflegt, an die „Interviews," die niemals stattgefunden haben, und
ähnliche Dinge mehr, die ihren Zweck, die Besitzer von Staatspapieren zu
beunruhigen, pünktlich erfüllen. Man denke daran, daß oft mit der falschen
Meldung gleichzeitig und von derselben Hand die Berichtigung verfaßt wird.
Mau übersehe auch nicht die segensreiche Thätigkeit litterarischer Bureaus, die
gleichzeitig zwei, vier oder sechs Tages- oder Wochenblätter in verschiednen
Gegenden mit „spannenden Originalerzählungen" versorgen, und hundert


Grenzboten IV 189S 61
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[0483] Litterarische Industrie Der Staat soll das Volk zur Förderung offenbaren Börsenschwindels be¬ steuern! Ob v. Bninski das auf die Dauer wird ablehnen können, oder ob er das Schicksal des Herrn v. Dechend erdulden wird? Loblied und richtig ist jedenfalls sein Vorsatz. Rudolph Meyer Litterarische Industrie le großen Industrieausstellungen bieten bei ihren: atemloser Wett¬ lauf alles erdenkliche auf, um dem herkömmlichen Namen Welt¬ ausstellung zu genügen. Sie sind unerschöpflich im Aufspüren von Arten der Thätigkeit, die eigentlich nicht zu den industriellen gerechnet werden können, und deren Wesen oft gar nicht aus- ftellungsfähig ist. Desto auffallender ist es, daß eine wirkliche, im vollen Sinne moderne Industrie bisher gar keine oder doch keine ihrer Bedeutung ent¬ sprechende Berücksichtigung gefunden hat: die litterarische. Vor allem inter¬ essant würde eine rückblickende geschichtliche Darstellung der Art der littera¬ rischen Produktion sein, namentlich des Zeitungswesens. Wohl hat man hie und da Zeitungen zur Schau gestellt, die dem Publikum den Genuß gewährten, Vergleiche anzustellen zwischen den kleinen, selten erschienenen Blättchen mit wenigen, sehr verspätet gebrachten Nachrichten usw. und riesigen Morgen-, Mittags- und Abendsausgaben mit ihren zahllosen Telegrammen aus allen Weltwinkeln usw. Doch damit wird uur äußerliches berührt, höchstens ver¬ gegenwärtigt, wann die Zeitungsindustrie entstanden ist, aber nicht, wie sie es im Wettbewerb so herrlich weit gebracht hat. Wir wollen hier nicht ein Pro¬ gramm sür eine solche Ausstellung entwerfen, aber doch auf einige charakte¬ ristische Erscheinungen hindeuten. Man denke an die erfundnen diplomatischen Aktenstücke, die Beschlüsse oder beabsichtigten Maßregeln von Regierungen, durch deren Mitteilung niemand mehr als eben diese Regierungen überrascht zu werden pflegt, an die „Interviews," die niemals stattgefunden haben, und ähnliche Dinge mehr, die ihren Zweck, die Besitzer von Staatspapieren zu beunruhigen, pünktlich erfüllen. Man denke daran, daß oft mit der falschen Meldung gleichzeitig und von derselben Hand die Berichtigung verfaßt wird. Mau übersehe auch nicht die segensreiche Thätigkeit litterarischer Bureaus, die gleichzeitig zwei, vier oder sechs Tages- oder Wochenblätter in verschiednen Gegenden mit „spannenden Originalerzählungen" versorgen, und hundert Grenzboten IV 189S 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/483>, abgerufen am 24.07.2024.