Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Litterarische Industrie

Um die angebliche Pietät für Verstorbne steht es mitunter recht bedenklich.
Villroth, der berühmte Professor der Chirurgie in Wien, hatte kaum die Augen
geschlossen, als schon ein "Freund" die an ihn gerichteten Briefe Billroths
drucken ließ, und zwar in einer Einkleidung, die verriet, daß der Schatz schon
längst druckfertig gemacht sein mußte. Hoffentlich haben die Hinterbliebnen
wenigstens ihre Zustimmung zu einer Publikation gegeben, die den Arzt nur
von einer Seite, nämlich als Mnsikkenner zeigt. Aber die Frage nach den
Grenzen des Eigentumsrechts an Briefen verdiente wohl einmal untersucht zu
werden. Wie das Beispiel Berthold Auerbachs lehrt, kann es allerdings vor¬
kommen, daß sich jemand beim Vriefschreiben stets die künftige Veröffentlichung
vor Augen hält, doch bildet das eine seltne Ausnahme. In der Regel werden
Erlebnisse, Empfindungen, Absichten, Urteile über Menschen und Dinge usw.
einer bestimmten Person anvertraut; daher würde der Briefschreiber manches
verschweigen, manches anders fassen, wenn er sich vorstellen müßte, daß eine
Menge fremder Menschen dem Empfänger der Briefe über die Schulter blickte.
Erhält man überhaupt durch den Empfang eines Briefes unbedingtes Ver-
fügungsrecht über dessen Inhalt, wenigstens nach des Schreibers Tod? Ein
Brief ist doch nicht einer Publikation gleichzuachten, und wenn das wäre, ließe
sich dafür die dreißigjährige Schutzfrist anrufen. Wir wissen nicht, ob sich
die Rechtswissenschaft schon mit der gewiß schwierigen Frage befaßt hat, es
war dazu wohl früher keine Veranlassung; jetzt scheint aber eine solche vor¬
zuliegen.

Nicht zu dieser Spezies, aber auch zur litterarischen Industrie gehört
endlich ein ebenfalls "modernes" Verfahren. Sobald eine neue oder eine wieder
ausgegrabue alte Frage die öffentliche Meinung beschäftigt, erlassen findige
Redakteure Aufforderungen an alle, die sie für Autoritäten auf dem betreffenden
Gebiete halten, ihre Ansicht über die Sache mitzuteilen. Die noch nicht ge¬
witzigt sind, folgen der Aufforderung, die meisten, weil sie sich verpflichtet fühlen,
zur Belehrung und Aufklärung beizutragen, andre, weil sie sich gern in guter
Gesellschaft genannt sehen. Die Ansichten und Urteile erscheinen in der Zeit¬
schrift, und wenn eine genügende Anzahl eingelaufen ist, als Buch, als "Werk"
des findigen Redakteurs. Ein uns kürzlich in die Hände gekommues Buch
dieser Art nennt sich Die Geschichte des Erstlingswerks, unterscheidet
sich aber dadurch von andern, daß der Herausgeber, Karl Emil Franzos
in Berlin, selbst Mitarbeiter ist. Wir dürfen uns durch den Titel nicht zu
dem Glauben verleiten lassen, daß hier die Schicksale eines bedeutenden Erst¬
lingswerks von verschiednen Literarhistorikern geschildert und beleuchtet werden
sollten. Nein, verschiedne Dichter der Gegenwart, darunter auch Karl Emil
Franzos, sind der Einladung gefolgt, zu berichten, wie ihr erstes Werk ent¬
standen ist.

Ob solche authentische Darstellungen gerade "einem dringenden Bedürfnis


Litterarische Industrie

Um die angebliche Pietät für Verstorbne steht es mitunter recht bedenklich.
Villroth, der berühmte Professor der Chirurgie in Wien, hatte kaum die Augen
geschlossen, als schon ein „Freund" die an ihn gerichteten Briefe Billroths
drucken ließ, und zwar in einer Einkleidung, die verriet, daß der Schatz schon
längst druckfertig gemacht sein mußte. Hoffentlich haben die Hinterbliebnen
wenigstens ihre Zustimmung zu einer Publikation gegeben, die den Arzt nur
von einer Seite, nämlich als Mnsikkenner zeigt. Aber die Frage nach den
Grenzen des Eigentumsrechts an Briefen verdiente wohl einmal untersucht zu
werden. Wie das Beispiel Berthold Auerbachs lehrt, kann es allerdings vor¬
kommen, daß sich jemand beim Vriefschreiben stets die künftige Veröffentlichung
vor Augen hält, doch bildet das eine seltne Ausnahme. In der Regel werden
Erlebnisse, Empfindungen, Absichten, Urteile über Menschen und Dinge usw.
einer bestimmten Person anvertraut; daher würde der Briefschreiber manches
verschweigen, manches anders fassen, wenn er sich vorstellen müßte, daß eine
Menge fremder Menschen dem Empfänger der Briefe über die Schulter blickte.
Erhält man überhaupt durch den Empfang eines Briefes unbedingtes Ver-
fügungsrecht über dessen Inhalt, wenigstens nach des Schreibers Tod? Ein
Brief ist doch nicht einer Publikation gleichzuachten, und wenn das wäre, ließe
sich dafür die dreißigjährige Schutzfrist anrufen. Wir wissen nicht, ob sich
die Rechtswissenschaft schon mit der gewiß schwierigen Frage befaßt hat, es
war dazu wohl früher keine Veranlassung; jetzt scheint aber eine solche vor¬
zuliegen.

Nicht zu dieser Spezies, aber auch zur litterarischen Industrie gehört
endlich ein ebenfalls „modernes" Verfahren. Sobald eine neue oder eine wieder
ausgegrabue alte Frage die öffentliche Meinung beschäftigt, erlassen findige
Redakteure Aufforderungen an alle, die sie für Autoritäten auf dem betreffenden
Gebiete halten, ihre Ansicht über die Sache mitzuteilen. Die noch nicht ge¬
witzigt sind, folgen der Aufforderung, die meisten, weil sie sich verpflichtet fühlen,
zur Belehrung und Aufklärung beizutragen, andre, weil sie sich gern in guter
Gesellschaft genannt sehen. Die Ansichten und Urteile erscheinen in der Zeit¬
schrift, und wenn eine genügende Anzahl eingelaufen ist, als Buch, als „Werk"
des findigen Redakteurs. Ein uns kürzlich in die Hände gekommues Buch
dieser Art nennt sich Die Geschichte des Erstlingswerks, unterscheidet
sich aber dadurch von andern, daß der Herausgeber, Karl Emil Franzos
in Berlin, selbst Mitarbeiter ist. Wir dürfen uns durch den Titel nicht zu
dem Glauben verleiten lassen, daß hier die Schicksale eines bedeutenden Erst¬
lingswerks von verschiednen Literarhistorikern geschildert und beleuchtet werden
sollten. Nein, verschiedne Dichter der Gegenwart, darunter auch Karl Emil
Franzos, sind der Einladung gefolgt, zu berichten, wie ihr erstes Werk ent¬
standen ist.

Ob solche authentische Darstellungen gerade „einem dringenden Bedürfnis


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0485" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221459"/>
          <fw type="header" place="top"> Litterarische Industrie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1614"> Um die angebliche Pietät für Verstorbne steht es mitunter recht bedenklich.<lb/>
Villroth, der berühmte Professor der Chirurgie in Wien, hatte kaum die Augen<lb/>
geschlossen, als schon ein &#x201E;Freund" die an ihn gerichteten Briefe Billroths<lb/>
drucken ließ, und zwar in einer Einkleidung, die verriet, daß der Schatz schon<lb/>
längst druckfertig gemacht sein mußte. Hoffentlich haben die Hinterbliebnen<lb/>
wenigstens ihre Zustimmung zu einer Publikation gegeben, die den Arzt nur<lb/>
von einer Seite, nämlich als Mnsikkenner zeigt. Aber die Frage nach den<lb/>
Grenzen des Eigentumsrechts an Briefen verdiente wohl einmal untersucht zu<lb/>
werden. Wie das Beispiel Berthold Auerbachs lehrt, kann es allerdings vor¬<lb/>
kommen, daß sich jemand beim Vriefschreiben stets die künftige Veröffentlichung<lb/>
vor Augen hält, doch bildet das eine seltne Ausnahme. In der Regel werden<lb/>
Erlebnisse, Empfindungen, Absichten, Urteile über Menschen und Dinge usw.<lb/>
einer bestimmten Person anvertraut; daher würde der Briefschreiber manches<lb/>
verschweigen, manches anders fassen, wenn er sich vorstellen müßte, daß eine<lb/>
Menge fremder Menschen dem Empfänger der Briefe über die Schulter blickte.<lb/>
Erhält man überhaupt durch den Empfang eines Briefes unbedingtes Ver-<lb/>
fügungsrecht über dessen Inhalt, wenigstens nach des Schreibers Tod? Ein<lb/>
Brief ist doch nicht einer Publikation gleichzuachten, und wenn das wäre, ließe<lb/>
sich dafür die dreißigjährige Schutzfrist anrufen. Wir wissen nicht, ob sich<lb/>
die Rechtswissenschaft schon mit der gewiß schwierigen Frage befaßt hat, es<lb/>
war dazu wohl früher keine Veranlassung; jetzt scheint aber eine solche vor¬<lb/>
zuliegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1615"> Nicht zu dieser Spezies, aber auch zur litterarischen Industrie gehört<lb/>
endlich ein ebenfalls &#x201E;modernes" Verfahren. Sobald eine neue oder eine wieder<lb/>
ausgegrabue alte Frage die öffentliche Meinung beschäftigt, erlassen findige<lb/>
Redakteure Aufforderungen an alle, die sie für Autoritäten auf dem betreffenden<lb/>
Gebiete halten, ihre Ansicht über die Sache mitzuteilen. Die noch nicht ge¬<lb/>
witzigt sind, folgen der Aufforderung, die meisten, weil sie sich verpflichtet fühlen,<lb/>
zur Belehrung und Aufklärung beizutragen, andre, weil sie sich gern in guter<lb/>
Gesellschaft genannt sehen. Die Ansichten und Urteile erscheinen in der Zeit¬<lb/>
schrift, und wenn eine genügende Anzahl eingelaufen ist, als Buch, als &#x201E;Werk"<lb/>
des findigen Redakteurs. Ein uns kürzlich in die Hände gekommues Buch<lb/>
dieser Art nennt sich Die Geschichte des Erstlingswerks, unterscheidet<lb/>
sich aber dadurch von andern, daß der Herausgeber, Karl Emil Franzos<lb/>
in Berlin, selbst Mitarbeiter ist. Wir dürfen uns durch den Titel nicht zu<lb/>
dem Glauben verleiten lassen, daß hier die Schicksale eines bedeutenden Erst¬<lb/>
lingswerks von verschiednen Literarhistorikern geschildert und beleuchtet werden<lb/>
sollten. Nein, verschiedne Dichter der Gegenwart, darunter auch Karl Emil<lb/>
Franzos, sind der Einladung gefolgt, zu berichten, wie ihr erstes Werk ent¬<lb/>
standen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1616" next="#ID_1617"> Ob solche authentische Darstellungen gerade &#x201E;einem dringenden Bedürfnis</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0485] Litterarische Industrie Um die angebliche Pietät für Verstorbne steht es mitunter recht bedenklich. Villroth, der berühmte Professor der Chirurgie in Wien, hatte kaum die Augen geschlossen, als schon ein „Freund" die an ihn gerichteten Briefe Billroths drucken ließ, und zwar in einer Einkleidung, die verriet, daß der Schatz schon längst druckfertig gemacht sein mußte. Hoffentlich haben die Hinterbliebnen wenigstens ihre Zustimmung zu einer Publikation gegeben, die den Arzt nur von einer Seite, nämlich als Mnsikkenner zeigt. Aber die Frage nach den Grenzen des Eigentumsrechts an Briefen verdiente wohl einmal untersucht zu werden. Wie das Beispiel Berthold Auerbachs lehrt, kann es allerdings vor¬ kommen, daß sich jemand beim Vriefschreiben stets die künftige Veröffentlichung vor Augen hält, doch bildet das eine seltne Ausnahme. In der Regel werden Erlebnisse, Empfindungen, Absichten, Urteile über Menschen und Dinge usw. einer bestimmten Person anvertraut; daher würde der Briefschreiber manches verschweigen, manches anders fassen, wenn er sich vorstellen müßte, daß eine Menge fremder Menschen dem Empfänger der Briefe über die Schulter blickte. Erhält man überhaupt durch den Empfang eines Briefes unbedingtes Ver- fügungsrecht über dessen Inhalt, wenigstens nach des Schreibers Tod? Ein Brief ist doch nicht einer Publikation gleichzuachten, und wenn das wäre, ließe sich dafür die dreißigjährige Schutzfrist anrufen. Wir wissen nicht, ob sich die Rechtswissenschaft schon mit der gewiß schwierigen Frage befaßt hat, es war dazu wohl früher keine Veranlassung; jetzt scheint aber eine solche vor¬ zuliegen. Nicht zu dieser Spezies, aber auch zur litterarischen Industrie gehört endlich ein ebenfalls „modernes" Verfahren. Sobald eine neue oder eine wieder ausgegrabue alte Frage die öffentliche Meinung beschäftigt, erlassen findige Redakteure Aufforderungen an alle, die sie für Autoritäten auf dem betreffenden Gebiete halten, ihre Ansicht über die Sache mitzuteilen. Die noch nicht ge¬ witzigt sind, folgen der Aufforderung, die meisten, weil sie sich verpflichtet fühlen, zur Belehrung und Aufklärung beizutragen, andre, weil sie sich gern in guter Gesellschaft genannt sehen. Die Ansichten und Urteile erscheinen in der Zeit¬ schrift, und wenn eine genügende Anzahl eingelaufen ist, als Buch, als „Werk" des findigen Redakteurs. Ein uns kürzlich in die Hände gekommues Buch dieser Art nennt sich Die Geschichte des Erstlingswerks, unterscheidet sich aber dadurch von andern, daß der Herausgeber, Karl Emil Franzos in Berlin, selbst Mitarbeiter ist. Wir dürfen uns durch den Titel nicht zu dem Glauben verleiten lassen, daß hier die Schicksale eines bedeutenden Erst¬ lingswerks von verschiednen Literarhistorikern geschildert und beleuchtet werden sollten. Nein, verschiedne Dichter der Gegenwart, darunter auch Karl Emil Franzos, sind der Einladung gefolgt, zu berichten, wie ihr erstes Werk ent¬ standen ist. Ob solche authentische Darstellungen gerade „einem dringenden Bedürfnis

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/485
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/485>, abgerufen am 25.07.2024.