Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Börseukrisis

drei Jahre ist verloren gegangen. Der Leser möge nun berechnen, wie es
einem "kleinen Manne" an der Börse ergangen ist: er nahm z. B. sein ganzes
für Spielzwecke verfügbares Kapital und kaufte solche Aktien, die er für gut
hielt, soviel als er bei 20 Prozent Anzahlung bezahlen konnte. Den Rest
blieb er dem Wechselkomtoirbesitzer schuldig, ließ ihm die "Stücke" in Pfand,
und der verpfändete sie wieder weiter an eine große Bank. Sobald die Aktien
um 10 Prozent gestiegen waren, verkaufte der Besitzer und kaufte mit dem
nun um 50 Prozent vergrößerten eignen Kapital soviel mehr von denselben
Aktien, als er bei 20 Prozent Anzahlung erwarten konnte, und das jedesmal,
sowie der Kurs um weitere 10 Prozent stieg. Nun hatte er rechnungsmäßig
sein ursprüngliches Kapital verfünffacht, sowie seine Aktien um 50 Prozent
im Kurse gestiegen waren. Da kracht es, die Aktien verlieren zwar nur die
Hülste des inzwischen gemachten Kursgewinns, und doch hat der kleine Ka¬
pitalist alles verloren. Ja sogar, wenn sie nur ein Viertel des erwähnten
Gewinns verloren hätten, war er doch ruinirt, denn die große Bank hätte nnn
soviel Nachzahlung verlangt, daß wieder mindestens 20 Prozent des reduzirteu
Kurswerts gedeckt waren. Der "kleine Mann" hätte aber nicht nachzählen
können, die Aktien wären exekutvrisch verkauft worden, natürlich zu Schleuder¬
preisen, der "kleine Mann" hätte auch in diesem Falle sein ganzes Kapital
verloren. In der Regel ist es noch schlimmer gewesen. Die Banken haben
eine Erhöhung des Prozentsatzes der eignen Einlage vom "Kunden" verlangt,
und wenn er, wie gewöhnlich, nicht zahlen konnte, haben sie sehr oft mit ihm
bloß "abgerechnet," d. h. sie haben die früher geleisteten Zuschüsse und die
"in Kost genommnen" Stücke behalten, und dabei ist der Kunde oft noch ihr
persönlich haftbarer Schuldner geblieben. Man nennt das "Geschäfte in sich"
machen. Die durch alle Künste einer gut bezahlten Presse, der Agenten und
Schlepper herbeigelockten "Kleinen" waren überdies schon vorher finanziell
geschwächt. Bei den monatlichen Prolongationen, oft auf kurze Fristen, stiegen
seit dem Sommer 1895 die Zinsen, die die Banken für die Vorstrcckung von
Geld auf Aktien "im Report" nahmen. Am Reportgeschäft ist feit Jahren
viel von den Banken verdient worden, denn der "Neportsatz," wie man die
Zinsen aus diesem Vorschußgeschäft auf Wertpapiere nennt, war immer be¬
deutend höher als der Diskont der Österreichisch-Ungarischen Bank und viel höher
als der der Berliner und der Pariser Bank, ans denen die großen Wiener
Banken Geld entlehnten; dazu kamen sehr niedrig verzinsliche Regierungsgelder,
die den großen Banken auch oft zuflösse", sodaß man annehmen kann, die großen
Banken haben durchschnittlich nicht mehr als 2^ bis 3 Prozent gezahlt und
das so geliehene Geld mindestens doppelt so hoch im Report genutzt. Vor fast
zwei Jahren schon soll die Kreditanstalt allein etwa vierzig Millionen Gulden,
ungefähr den Betrag ihres ganzen Grundkapitals, im Report angelegt gehabt
haben. Diese Reportsätze stiegen in letzter Zeit bedenklich, besonders seit Anfang


Die Börseukrisis

drei Jahre ist verloren gegangen. Der Leser möge nun berechnen, wie es
einem „kleinen Manne" an der Börse ergangen ist: er nahm z. B. sein ganzes
für Spielzwecke verfügbares Kapital und kaufte solche Aktien, die er für gut
hielt, soviel als er bei 20 Prozent Anzahlung bezahlen konnte. Den Rest
blieb er dem Wechselkomtoirbesitzer schuldig, ließ ihm die „Stücke" in Pfand,
und der verpfändete sie wieder weiter an eine große Bank. Sobald die Aktien
um 10 Prozent gestiegen waren, verkaufte der Besitzer und kaufte mit dem
nun um 50 Prozent vergrößerten eignen Kapital soviel mehr von denselben
Aktien, als er bei 20 Prozent Anzahlung erwarten konnte, und das jedesmal,
sowie der Kurs um weitere 10 Prozent stieg. Nun hatte er rechnungsmäßig
sein ursprüngliches Kapital verfünffacht, sowie seine Aktien um 50 Prozent
im Kurse gestiegen waren. Da kracht es, die Aktien verlieren zwar nur die
Hülste des inzwischen gemachten Kursgewinns, und doch hat der kleine Ka¬
pitalist alles verloren. Ja sogar, wenn sie nur ein Viertel des erwähnten
Gewinns verloren hätten, war er doch ruinirt, denn die große Bank hätte nnn
soviel Nachzahlung verlangt, daß wieder mindestens 20 Prozent des reduzirteu
Kurswerts gedeckt waren. Der „kleine Mann" hätte aber nicht nachzählen
können, die Aktien wären exekutvrisch verkauft worden, natürlich zu Schleuder¬
preisen, der „kleine Mann" hätte auch in diesem Falle sein ganzes Kapital
verloren. In der Regel ist es noch schlimmer gewesen. Die Banken haben
eine Erhöhung des Prozentsatzes der eignen Einlage vom „Kunden" verlangt,
und wenn er, wie gewöhnlich, nicht zahlen konnte, haben sie sehr oft mit ihm
bloß „abgerechnet," d. h. sie haben die früher geleisteten Zuschüsse und die
„in Kost genommnen" Stücke behalten, und dabei ist der Kunde oft noch ihr
persönlich haftbarer Schuldner geblieben. Man nennt das „Geschäfte in sich"
machen. Die durch alle Künste einer gut bezahlten Presse, der Agenten und
Schlepper herbeigelockten „Kleinen" waren überdies schon vorher finanziell
geschwächt. Bei den monatlichen Prolongationen, oft auf kurze Fristen, stiegen
seit dem Sommer 1895 die Zinsen, die die Banken für die Vorstrcckung von
Geld auf Aktien „im Report" nahmen. Am Reportgeschäft ist feit Jahren
viel von den Banken verdient worden, denn der „Neportsatz," wie man die
Zinsen aus diesem Vorschußgeschäft auf Wertpapiere nennt, war immer be¬
deutend höher als der Diskont der Österreichisch-Ungarischen Bank und viel höher
als der der Berliner und der Pariser Bank, ans denen die großen Wiener
Banken Geld entlehnten; dazu kamen sehr niedrig verzinsliche Regierungsgelder,
die den großen Banken auch oft zuflösse», sodaß man annehmen kann, die großen
Banken haben durchschnittlich nicht mehr als 2^ bis 3 Prozent gezahlt und
das so geliehene Geld mindestens doppelt so hoch im Report genutzt. Vor fast
zwei Jahren schon soll die Kreditanstalt allein etwa vierzig Millionen Gulden,
ungefähr den Betrag ihres ganzen Grundkapitals, im Report angelegt gehabt
haben. Diese Reportsätze stiegen in letzter Zeit bedenklich, besonders seit Anfang


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221452"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Börseukrisis</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1593" prev="#ID_1592" next="#ID_1594"> drei Jahre ist verloren gegangen. Der Leser möge nun berechnen, wie es<lb/>
einem &#x201E;kleinen Manne" an der Börse ergangen ist: er nahm z. B. sein ganzes<lb/>
für Spielzwecke verfügbares Kapital und kaufte solche Aktien, die er für gut<lb/>
hielt, soviel als er bei 20 Prozent Anzahlung bezahlen konnte. Den Rest<lb/>
blieb er dem Wechselkomtoirbesitzer schuldig, ließ ihm die &#x201E;Stücke" in Pfand,<lb/>
und der verpfändete sie wieder weiter an eine große Bank. Sobald die Aktien<lb/>
um 10 Prozent gestiegen waren, verkaufte der Besitzer und kaufte mit dem<lb/>
nun um 50 Prozent vergrößerten eignen Kapital soviel mehr von denselben<lb/>
Aktien, als er bei 20 Prozent Anzahlung erwarten konnte, und das jedesmal,<lb/>
sowie der Kurs um weitere 10 Prozent stieg. Nun hatte er rechnungsmäßig<lb/>
sein ursprüngliches Kapital verfünffacht, sowie seine Aktien um 50 Prozent<lb/>
im Kurse gestiegen waren. Da kracht es, die Aktien verlieren zwar nur die<lb/>
Hülste des inzwischen gemachten Kursgewinns, und doch hat der kleine Ka¬<lb/>
pitalist alles verloren. Ja sogar, wenn sie nur ein Viertel des erwähnten<lb/>
Gewinns verloren hätten, war er doch ruinirt, denn die große Bank hätte nnn<lb/>
soviel Nachzahlung verlangt, daß wieder mindestens 20 Prozent des reduzirteu<lb/>
Kurswerts gedeckt waren. Der &#x201E;kleine Mann" hätte aber nicht nachzählen<lb/>
können, die Aktien wären exekutvrisch verkauft worden, natürlich zu Schleuder¬<lb/>
preisen, der &#x201E;kleine Mann" hätte auch in diesem Falle sein ganzes Kapital<lb/>
verloren. In der Regel ist es noch schlimmer gewesen. Die Banken haben<lb/>
eine Erhöhung des Prozentsatzes der eignen Einlage vom &#x201E;Kunden" verlangt,<lb/>
und wenn er, wie gewöhnlich, nicht zahlen konnte, haben sie sehr oft mit ihm<lb/>
bloß &#x201E;abgerechnet," d. h. sie haben die früher geleisteten Zuschüsse und die<lb/>
&#x201E;in Kost genommnen" Stücke behalten, und dabei ist der Kunde oft noch ihr<lb/>
persönlich haftbarer Schuldner geblieben. Man nennt das &#x201E;Geschäfte in sich"<lb/>
machen. Die durch alle Künste einer gut bezahlten Presse, der Agenten und<lb/>
Schlepper herbeigelockten &#x201E;Kleinen" waren überdies schon vorher finanziell<lb/>
geschwächt. Bei den monatlichen Prolongationen, oft auf kurze Fristen, stiegen<lb/>
seit dem Sommer 1895 die Zinsen, die die Banken für die Vorstrcckung von<lb/>
Geld auf Aktien &#x201E;im Report" nahmen. Am Reportgeschäft ist feit Jahren<lb/>
viel von den Banken verdient worden, denn der &#x201E;Neportsatz," wie man die<lb/>
Zinsen aus diesem Vorschußgeschäft auf Wertpapiere nennt, war immer be¬<lb/>
deutend höher als der Diskont der Österreichisch-Ungarischen Bank und viel höher<lb/>
als der der Berliner und der Pariser Bank, ans denen die großen Wiener<lb/>
Banken Geld entlehnten; dazu kamen sehr niedrig verzinsliche Regierungsgelder,<lb/>
die den großen Banken auch oft zuflösse», sodaß man annehmen kann, die großen<lb/>
Banken haben durchschnittlich nicht mehr als 2^ bis 3 Prozent gezahlt und<lb/>
das so geliehene Geld mindestens doppelt so hoch im Report genutzt. Vor fast<lb/>
zwei Jahren schon soll die Kreditanstalt allein etwa vierzig Millionen Gulden,<lb/>
ungefähr den Betrag ihres ganzen Grundkapitals, im Report angelegt gehabt<lb/>
haben. Diese Reportsätze stiegen in letzter Zeit bedenklich, besonders seit Anfang</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0478] Die Börseukrisis drei Jahre ist verloren gegangen. Der Leser möge nun berechnen, wie es einem „kleinen Manne" an der Börse ergangen ist: er nahm z. B. sein ganzes für Spielzwecke verfügbares Kapital und kaufte solche Aktien, die er für gut hielt, soviel als er bei 20 Prozent Anzahlung bezahlen konnte. Den Rest blieb er dem Wechselkomtoirbesitzer schuldig, ließ ihm die „Stücke" in Pfand, und der verpfändete sie wieder weiter an eine große Bank. Sobald die Aktien um 10 Prozent gestiegen waren, verkaufte der Besitzer und kaufte mit dem nun um 50 Prozent vergrößerten eignen Kapital soviel mehr von denselben Aktien, als er bei 20 Prozent Anzahlung erwarten konnte, und das jedesmal, sowie der Kurs um weitere 10 Prozent stieg. Nun hatte er rechnungsmäßig sein ursprüngliches Kapital verfünffacht, sowie seine Aktien um 50 Prozent im Kurse gestiegen waren. Da kracht es, die Aktien verlieren zwar nur die Hülste des inzwischen gemachten Kursgewinns, und doch hat der kleine Ka¬ pitalist alles verloren. Ja sogar, wenn sie nur ein Viertel des erwähnten Gewinns verloren hätten, war er doch ruinirt, denn die große Bank hätte nnn soviel Nachzahlung verlangt, daß wieder mindestens 20 Prozent des reduzirteu Kurswerts gedeckt waren. Der „kleine Mann" hätte aber nicht nachzählen können, die Aktien wären exekutvrisch verkauft worden, natürlich zu Schleuder¬ preisen, der „kleine Mann" hätte auch in diesem Falle sein ganzes Kapital verloren. In der Regel ist es noch schlimmer gewesen. Die Banken haben eine Erhöhung des Prozentsatzes der eignen Einlage vom „Kunden" verlangt, und wenn er, wie gewöhnlich, nicht zahlen konnte, haben sie sehr oft mit ihm bloß „abgerechnet," d. h. sie haben die früher geleisteten Zuschüsse und die „in Kost genommnen" Stücke behalten, und dabei ist der Kunde oft noch ihr persönlich haftbarer Schuldner geblieben. Man nennt das „Geschäfte in sich" machen. Die durch alle Künste einer gut bezahlten Presse, der Agenten und Schlepper herbeigelockten „Kleinen" waren überdies schon vorher finanziell geschwächt. Bei den monatlichen Prolongationen, oft auf kurze Fristen, stiegen seit dem Sommer 1895 die Zinsen, die die Banken für die Vorstrcckung von Geld auf Aktien „im Report" nahmen. Am Reportgeschäft ist feit Jahren viel von den Banken verdient worden, denn der „Neportsatz," wie man die Zinsen aus diesem Vorschußgeschäft auf Wertpapiere nennt, war immer be¬ deutend höher als der Diskont der Österreichisch-Ungarischen Bank und viel höher als der der Berliner und der Pariser Bank, ans denen die großen Wiener Banken Geld entlehnten; dazu kamen sehr niedrig verzinsliche Regierungsgelder, die den großen Banken auch oft zuflösse», sodaß man annehmen kann, die großen Banken haben durchschnittlich nicht mehr als 2^ bis 3 Prozent gezahlt und das so geliehene Geld mindestens doppelt so hoch im Report genutzt. Vor fast zwei Jahren schon soll die Kreditanstalt allein etwa vierzig Millionen Gulden, ungefähr den Betrag ihres ganzen Grundkapitals, im Report angelegt gehabt haben. Diese Reportsätze stiegen in letzter Zeit bedenklich, besonders seit Anfang

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/478
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/478>, abgerufen am 30.06.2024.