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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Volksfeste

die Pflanzstätte jenes öden Kastengeistes, den dann Amt und Würden weiter
entwickeln, und der wie ein drückender Nebel auf unserm öffentlichen Leben
liegt. Worin hat das seinen Grund? Und giebt es kein Mittel, es dahin zu
bringen, daß unsre Jugend von der Schule jenen Gemeinsinn mit fortnimmt
und das stolze Homo "um über alle Vorurteile des Standes und Berufes
hinaus für sein ganzes Leben lang treu und fest bewahrt?

In der That giebt es ein solches Mittel, wenn auch nicht, oder doch nur
verkümmert, auf der Schule, wie sie heute ist: das ist die der geistigen gleich¬
gestellte körperliche Erziehung. Die Schützung der allgemeinen "Bildung"
wird in Deutschland ungeheuerlich übertrieben, da man sie ganz einseitig als
das Ergebnis des auf der Schule gelernten auffaßt. Wissen ist aber durch¬
aus nicht gleichbedeutend mit Bildung, und ein Mensch, der sehr viel gelernt
hat, kann seiner Gesinnung nach ein höchst unentwickeltes Geschöpf sein, während
der Bauer hinteren Pflug und der Arbeiter in der Werkstütte alle die Eigen¬
schaften des "ganzen Mannes" in sich vereinigen kann, die der Engländer dem
AgntlsinÄn im edeln Sinne des Wortes zuerkennt. Heutzutage ist ja jeder
Städter mehr oder weniger "gebildet," und man sollte doch endlich einmal
einsehen, wie herzlich wenig darauf ankommt, ob der eine die Mittel zum
Abiturientenexamen hat, der andre nicht. Nicht darauf kommt es an im Lebe",
vielerlei zu wissen, sondern zu wissen, was man kann. Wie anders denkt der
lebensstarke Engländer hierüber! Herbert Spencer verlangt als erstes nicht
eine allgemeine Schulbildung, sondern meint, daß man vor allen Dingen A Uova
ii-nimiü sein müsse, um Erfolg zu haben. Achtung vor dem Körper nennt er
seine physische Moral; auf ihr beruht nicht nur Kraft und Tüchtigkeit im
materiellen, sondern auch die Gesittung im geselligen Leben. Einst deckten sich
auch i" Deutschland, in Preußen, Bildung des Geistes und Pflege des Körpers:
so bei dem Landedelmann, der die Grundlage des Offizierkorps bildete, so auch
bei dem Beamten, dessen Söhne sich der Verwaltung widmeten. Seitdem ist
die einseitige Bevorzugung geistiger Bildung ausschließlich in den Vordergrund
getreten. Will man dem wirksam entgegengearbeiten, so müßten unsre Schulen
von der Einrichtung befreit werden, die "die allgemeine Bildung" zuerst und
in sehr ausgiebiger Weise mit besondern Vorrechten ausgestattet, sie sozusagen
"prämiirt" hat: die Einjührigenprüfung müßte fallen; jeder Deutsche hätte
zwei Jahre zu dienen, und die Schulen könnten sich wieder auf das besinnen,
wozu sie allein bestimmt sind: auf die Gesamterziehung unsrer Jugend. Hierzu
rechnen wir nicht bloß geistige Schulung, sondern -- dem deutschen Wesen
entsprechend -- eine gleichwertige körperliche Erziehung. Nicht mehr das "Ge¬
lernte" allein darf maßgebend sein für den Wert des Deutschen, sondern der
ganze Mann, der geistig und körperlich am besten gebildete, der harmonische
Mensch im Sinne der Kalokagathia der Alten, die das Endziel aller idealen
Erziehung bleiben wird. Auch die Schule muß heute in die freie Luft, wie


Unsre Volksfeste

die Pflanzstätte jenes öden Kastengeistes, den dann Amt und Würden weiter
entwickeln, und der wie ein drückender Nebel auf unserm öffentlichen Leben
liegt. Worin hat das seinen Grund? Und giebt es kein Mittel, es dahin zu
bringen, daß unsre Jugend von der Schule jenen Gemeinsinn mit fortnimmt
und das stolze Homo «um über alle Vorurteile des Standes und Berufes
hinaus für sein ganzes Leben lang treu und fest bewahrt?

In der That giebt es ein solches Mittel, wenn auch nicht, oder doch nur
verkümmert, auf der Schule, wie sie heute ist: das ist die der geistigen gleich¬
gestellte körperliche Erziehung. Die Schützung der allgemeinen „Bildung"
wird in Deutschland ungeheuerlich übertrieben, da man sie ganz einseitig als
das Ergebnis des auf der Schule gelernten auffaßt. Wissen ist aber durch¬
aus nicht gleichbedeutend mit Bildung, und ein Mensch, der sehr viel gelernt
hat, kann seiner Gesinnung nach ein höchst unentwickeltes Geschöpf sein, während
der Bauer hinteren Pflug und der Arbeiter in der Werkstütte alle die Eigen¬
schaften des „ganzen Mannes" in sich vereinigen kann, die der Engländer dem
AgntlsinÄn im edeln Sinne des Wortes zuerkennt. Heutzutage ist ja jeder
Städter mehr oder weniger „gebildet," und man sollte doch endlich einmal
einsehen, wie herzlich wenig darauf ankommt, ob der eine die Mittel zum
Abiturientenexamen hat, der andre nicht. Nicht darauf kommt es an im Lebe»,
vielerlei zu wissen, sondern zu wissen, was man kann. Wie anders denkt der
lebensstarke Engländer hierüber! Herbert Spencer verlangt als erstes nicht
eine allgemeine Schulbildung, sondern meint, daß man vor allen Dingen A Uova
ii-nimiü sein müsse, um Erfolg zu haben. Achtung vor dem Körper nennt er
seine physische Moral; auf ihr beruht nicht nur Kraft und Tüchtigkeit im
materiellen, sondern auch die Gesittung im geselligen Leben. Einst deckten sich
auch i« Deutschland, in Preußen, Bildung des Geistes und Pflege des Körpers:
so bei dem Landedelmann, der die Grundlage des Offizierkorps bildete, so auch
bei dem Beamten, dessen Söhne sich der Verwaltung widmeten. Seitdem ist
die einseitige Bevorzugung geistiger Bildung ausschließlich in den Vordergrund
getreten. Will man dem wirksam entgegengearbeiten, so müßten unsre Schulen
von der Einrichtung befreit werden, die „die allgemeine Bildung" zuerst und
in sehr ausgiebiger Weise mit besondern Vorrechten ausgestattet, sie sozusagen
„prämiirt" hat: die Einjührigenprüfung müßte fallen; jeder Deutsche hätte
zwei Jahre zu dienen, und die Schulen könnten sich wieder auf das besinnen,
wozu sie allein bestimmt sind: auf die Gesamterziehung unsrer Jugend. Hierzu
rechnen wir nicht bloß geistige Schulung, sondern — dem deutschen Wesen
entsprechend — eine gleichwertige körperliche Erziehung. Nicht mehr das „Ge¬
lernte" allein darf maßgebend sein für den Wert des Deutschen, sondern der
ganze Mann, der geistig und körperlich am besten gebildete, der harmonische
Mensch im Sinne der Kalokagathia der Alten, die das Endziel aller idealen
Erziehung bleiben wird. Auch die Schule muß heute in die freie Luft, wie


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[0440] Unsre Volksfeste die Pflanzstätte jenes öden Kastengeistes, den dann Amt und Würden weiter entwickeln, und der wie ein drückender Nebel auf unserm öffentlichen Leben liegt. Worin hat das seinen Grund? Und giebt es kein Mittel, es dahin zu bringen, daß unsre Jugend von der Schule jenen Gemeinsinn mit fortnimmt und das stolze Homo «um über alle Vorurteile des Standes und Berufes hinaus für sein ganzes Leben lang treu und fest bewahrt? In der That giebt es ein solches Mittel, wenn auch nicht, oder doch nur verkümmert, auf der Schule, wie sie heute ist: das ist die der geistigen gleich¬ gestellte körperliche Erziehung. Die Schützung der allgemeinen „Bildung" wird in Deutschland ungeheuerlich übertrieben, da man sie ganz einseitig als das Ergebnis des auf der Schule gelernten auffaßt. Wissen ist aber durch¬ aus nicht gleichbedeutend mit Bildung, und ein Mensch, der sehr viel gelernt hat, kann seiner Gesinnung nach ein höchst unentwickeltes Geschöpf sein, während der Bauer hinteren Pflug und der Arbeiter in der Werkstütte alle die Eigen¬ schaften des „ganzen Mannes" in sich vereinigen kann, die der Engländer dem AgntlsinÄn im edeln Sinne des Wortes zuerkennt. Heutzutage ist ja jeder Städter mehr oder weniger „gebildet," und man sollte doch endlich einmal einsehen, wie herzlich wenig darauf ankommt, ob der eine die Mittel zum Abiturientenexamen hat, der andre nicht. Nicht darauf kommt es an im Lebe», vielerlei zu wissen, sondern zu wissen, was man kann. Wie anders denkt der lebensstarke Engländer hierüber! Herbert Spencer verlangt als erstes nicht eine allgemeine Schulbildung, sondern meint, daß man vor allen Dingen A Uova ii-nimiü sein müsse, um Erfolg zu haben. Achtung vor dem Körper nennt er seine physische Moral; auf ihr beruht nicht nur Kraft und Tüchtigkeit im materiellen, sondern auch die Gesittung im geselligen Leben. Einst deckten sich auch i« Deutschland, in Preußen, Bildung des Geistes und Pflege des Körpers: so bei dem Landedelmann, der die Grundlage des Offizierkorps bildete, so auch bei dem Beamten, dessen Söhne sich der Verwaltung widmeten. Seitdem ist die einseitige Bevorzugung geistiger Bildung ausschließlich in den Vordergrund getreten. Will man dem wirksam entgegengearbeiten, so müßten unsre Schulen von der Einrichtung befreit werden, die „die allgemeine Bildung" zuerst und in sehr ausgiebiger Weise mit besondern Vorrechten ausgestattet, sie sozusagen „prämiirt" hat: die Einjührigenprüfung müßte fallen; jeder Deutsche hätte zwei Jahre zu dienen, und die Schulen könnten sich wieder auf das besinnen, wozu sie allein bestimmt sind: auf die Gesamterziehung unsrer Jugend. Hierzu rechnen wir nicht bloß geistige Schulung, sondern — dem deutschen Wesen entsprechend — eine gleichwertige körperliche Erziehung. Nicht mehr das „Ge¬ lernte" allein darf maßgebend sein für den Wert des Deutschen, sondern der ganze Mann, der geistig und körperlich am besten gebildete, der harmonische Mensch im Sinne der Kalokagathia der Alten, die das Endziel aller idealen Erziehung bleiben wird. Auch die Schule muß heute in die freie Luft, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/440>, abgerufen am 24.07.2024.