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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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wendig wird, und wir bestreikn nicht, daß die Notwendigkeit eingetreten ist.
Wir wünschen einen Zustand, wo die Einzelnen im freien Spiel der Kräfte
am besten gedeihen und weder der Staatshilfe noch des Zwanges bedürfen,
aber wenn es ohne beides nicht geht, dann fügen wir uns vorläufig darein.
Wir empfinden z.B. aufs schmerzlichste die Unvernunft, die darin liegt, daß
ein Mann, der ohne Schädigung seiner Gesundheit mit Vergnügen vierzehn
Stunden arbeiten würde, mit der zehnten aufzuhören gezwungen ist, und daß
man am Sonntag schon durch harmlose und gern übernommue Dienstleistungen
straffällig werden kann; aber wenn im Interesse der Volksgesundheit, um die
notwendige Erholung auch solchen Personen zu sichern, die ohne Staatszwang
keine haben würden, dergleichen Arbeiterschutzgesetze notwendig sind, dann
sträuben wir uns nicht nur nicht dagegen, sondern fordern sie. Ist das alles
svzialdemvkratisch?

Alle Schwärmereien der Halbsozialisten: Bodenbesitzrefvrm, Währungs¬
reform (die Doppelwährung, deren Einführung alle Übel noch ärger machen
würde, ist nur eine Etappe auf dem Wege zum Getreidegelde und zur Ab¬
schaffung des Geldes), Ausschaltung des Handels ans der Volkswirtschaft,
Verstaatlichung des Getreidehandels usw. weisen wir schonungslos et liminv
ab. Und da wagt man, uns Ganzsozialisten zu nennen?

Wir halten die ständische Gliederung des Volks für die allein gesunde,
glauben, daß der Kaufmannslehrling zu seinein Prinzipal und der Schnster-
gesclle zu seinem Meister gehört, nicht beide mit dem Cigarrcnarbeiter und dem
ländlichen Tagelöhner zusammen in die eine ungeheure Klasse der "Arbeiter,"
wir wünschen die vertikale Gliederung des Volks in Berufsstände, nicht die
horizontale Lagerung in die drei breiigen Schichten der Millionäre, der Leute
über und der Leute uuter zweitausend Mark Einkommen, und obwohl wir die
Notwendigkeit der Zwangsarbciterversicherung, die die Gliederung vollends zer¬
reißt und der Schichtung, dem Klassengegensatz, den gesetzlichen Stempel auf¬
drückt, anerkennen, so bedauern wir doch diese Notwendigkeit. Ist das sozial-
demokratisch ?

Die Frage der freien Arbeit haben wir stets als eine äußerst schwierige,
bis heute ungelöste bezeichnet! wir erkennen an, daß die Kultur ohne Sklaven¬
arbeit nicht hätte entstehen können, und wir bekennen, nicht zu wissen, ob sie
jemals ohne alle Sklavenarbeit wird fortbestehen können. Wir finden auch
vom sittlichen, gemütlichen und ästhetischen Standpunkte aus gegen das Ver¬
hältnis von Herr und Knecht an sich nichts einzuwenden; wir finden es, wenn
beide edel gesinnt sind, weit schöner als eine Gesellschaft von lauter Gleich¬
berechtigten, in der gemütliche und Pietätsbeziehungen gar nicht vorhanden
sind, alle Beziehungen, womöglich auch schon zwischen dem vierzehnjährigen
Jungen und seinem Vater, nach dem starren Recht in der Form von Ver¬
trägen (stempelpflichtig!) geregelt werden. Wir finden die Lage der Arbeiter


wendig wird, und wir bestreikn nicht, daß die Notwendigkeit eingetreten ist.
Wir wünschen einen Zustand, wo die Einzelnen im freien Spiel der Kräfte
am besten gedeihen und weder der Staatshilfe noch des Zwanges bedürfen,
aber wenn es ohne beides nicht geht, dann fügen wir uns vorläufig darein.
Wir empfinden z.B. aufs schmerzlichste die Unvernunft, die darin liegt, daß
ein Mann, der ohne Schädigung seiner Gesundheit mit Vergnügen vierzehn
Stunden arbeiten würde, mit der zehnten aufzuhören gezwungen ist, und daß
man am Sonntag schon durch harmlose und gern übernommue Dienstleistungen
straffällig werden kann; aber wenn im Interesse der Volksgesundheit, um die
notwendige Erholung auch solchen Personen zu sichern, die ohne Staatszwang
keine haben würden, dergleichen Arbeiterschutzgesetze notwendig sind, dann
sträuben wir uns nicht nur nicht dagegen, sondern fordern sie. Ist das alles
svzialdemvkratisch?

Alle Schwärmereien der Halbsozialisten: Bodenbesitzrefvrm, Währungs¬
reform (die Doppelwährung, deren Einführung alle Übel noch ärger machen
würde, ist nur eine Etappe auf dem Wege zum Getreidegelde und zur Ab¬
schaffung des Geldes), Ausschaltung des Handels ans der Volkswirtschaft,
Verstaatlichung des Getreidehandels usw. weisen wir schonungslos et liminv
ab. Und da wagt man, uns Ganzsozialisten zu nennen?

Wir halten die ständische Gliederung des Volks für die allein gesunde,
glauben, daß der Kaufmannslehrling zu seinein Prinzipal und der Schnster-
gesclle zu seinem Meister gehört, nicht beide mit dem Cigarrcnarbeiter und dem
ländlichen Tagelöhner zusammen in die eine ungeheure Klasse der „Arbeiter,"
wir wünschen die vertikale Gliederung des Volks in Berufsstände, nicht die
horizontale Lagerung in die drei breiigen Schichten der Millionäre, der Leute
über und der Leute uuter zweitausend Mark Einkommen, und obwohl wir die
Notwendigkeit der Zwangsarbciterversicherung, die die Gliederung vollends zer¬
reißt und der Schichtung, dem Klassengegensatz, den gesetzlichen Stempel auf¬
drückt, anerkennen, so bedauern wir doch diese Notwendigkeit. Ist das sozial-
demokratisch ?

Die Frage der freien Arbeit haben wir stets als eine äußerst schwierige,
bis heute ungelöste bezeichnet! wir erkennen an, daß die Kultur ohne Sklaven¬
arbeit nicht hätte entstehen können, und wir bekennen, nicht zu wissen, ob sie
jemals ohne alle Sklavenarbeit wird fortbestehen können. Wir finden auch
vom sittlichen, gemütlichen und ästhetischen Standpunkte aus gegen das Ver¬
hältnis von Herr und Knecht an sich nichts einzuwenden; wir finden es, wenn
beide edel gesinnt sind, weit schöner als eine Gesellschaft von lauter Gleich¬
berechtigten, in der gemütliche und Pietätsbeziehungen gar nicht vorhanden
sind, alle Beziehungen, womöglich auch schon zwischen dem vierzehnjährigen
Jungen und seinem Vater, nach dem starren Recht in der Form von Ver¬
trägen (stempelpflichtig!) geregelt werden. Wir finden die Lage der Arbeiter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/413>, abgerufen am 01.07.2024.