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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sind wir Sozialdemokraten?

im Zusammenhange vorlegen. Das "unser" ist nicht so zu verstehen, als ob
jeder unsrer Mitarbeiter jedem einzelnen Satze beipflichtete, denn wir bilden
nicht eine Partei, sondern einen freien Verein von Männern, von denen jeder
nach eigner Einsicht fürs Wohl des Vaterlands arbeitet,, und da verstehen
sich Meinungsverschiedenheiten von selbst, aber in den Grundzttgen stimmen
wir überein.

Wir bekennen uns zu dem Glauben an einen persönlichen Gott und an
ein jenseitiges Ziel der unsterblichen Menschenseele. Ist das sozialdemokratisch?

Wir glauben nicht, daß die soziale oder irgend eine andre der großen
Fragen der Menschheit jemals hienieden gelöst werden wird, weil die irdische
Aufgabe der Menschheit eben in der Lösungsnrbeit besteht. Ist das sozial¬
demokratisch?

Aber die Lösungsarbeit muß eben gethan werden, und als deren nächste
Aufgabe in unsrer Zeit bezeichnen wir nicht die Vergesellschaftung der Pro¬
duktionsmittel, sondern die Vermehrung des privaten Grundeigentums. Ist das
sozialistisch?

Wir bestreikn die Interessensolidarität der Arbeiterschaft der verschiednen
Länder, erklären den Wahlspruch: Proletarier aller Länder, vereinigt euch ! für
Thorheit, glauben, daß der Arbeiterschaft eines jeden Landes nur durch Hebung
der Lage ihres eignen Volks geholfen werden könne, und lehren, daß unser
deutsches lediglich sür sich zu sorgen habe, ohne Rücksicht auf das Wohl andrer
Völker, oder nur mit so viel Rücksicht, als ihm die eigne Sicherheit und der
eigne Nutzen auflegen; wir lehren, daß, wenn das Wohl unsers eignen Volks
einen Eroberungskrieg, die Unterjochung, Verdrängung oder Vertilgung andrer
Völker fordern sollte, wir uns davon durch christliche und Hnmauitätsbedenken
nicht dürften zurückschrecken lassen; wir haben deshalb auch gegen die äußerste
Anspannung der Wehrkraft unsers Volks nichts einzuwenden, vorausgesetzt,
daß sie in absehbarer Zeit einmal zu dem Zwecke verwendet wird, für den sie
da ist. Ist das sozialdemokratisch?

Weil wir das Grundübel in dem Mißverhältnis zwischen Bevölkerung
und Boden sehen, glauben wir nicht, daß das, was man heute Sozialpolitik
nennt, gründliche Abhilfe bringen könne, und außerdem ist uns diese Sozial¬
politik, als ein System von Veschränkuugen der individuellen Freiheit, zuwider.
Denn wir sind im Grnnde des Herzens das Gegenteil von Sozialisten, näm¬
lich manchesterliche Individualisten. Von den Manchestcrleuten gewöhnlichen
Schlags unterscheiden wir uns uur durch zweierlei, nämlich durch unsre Folge¬
richtigkeit, indem wir es nicht tadeln, wenn auch die Arbeiter von der Frei¬
heit Gebrauch macheu, die das Manchestertum nur zum Scheine für alle er¬
strebt hat, mit dem heimlichen Vorbehalt, den eignen Klassengenossen deu Allein¬
genuß zu sichern, und zweitens weisen wir Eingriffe des Staats in das Wirt¬
schaftsleben und weitgehenden Zwang nicht mehr zurück, sobald beides not-


Sind wir Sozialdemokraten?

im Zusammenhange vorlegen. Das „unser" ist nicht so zu verstehen, als ob
jeder unsrer Mitarbeiter jedem einzelnen Satze beipflichtete, denn wir bilden
nicht eine Partei, sondern einen freien Verein von Männern, von denen jeder
nach eigner Einsicht fürs Wohl des Vaterlands arbeitet,, und da verstehen
sich Meinungsverschiedenheiten von selbst, aber in den Grundzttgen stimmen
wir überein.

Wir bekennen uns zu dem Glauben an einen persönlichen Gott und an
ein jenseitiges Ziel der unsterblichen Menschenseele. Ist das sozialdemokratisch?

Wir glauben nicht, daß die soziale oder irgend eine andre der großen
Fragen der Menschheit jemals hienieden gelöst werden wird, weil die irdische
Aufgabe der Menschheit eben in der Lösungsnrbeit besteht. Ist das sozial¬
demokratisch?

Aber die Lösungsarbeit muß eben gethan werden, und als deren nächste
Aufgabe in unsrer Zeit bezeichnen wir nicht die Vergesellschaftung der Pro¬
duktionsmittel, sondern die Vermehrung des privaten Grundeigentums. Ist das
sozialistisch?

Wir bestreikn die Interessensolidarität der Arbeiterschaft der verschiednen
Länder, erklären den Wahlspruch: Proletarier aller Länder, vereinigt euch ! für
Thorheit, glauben, daß der Arbeiterschaft eines jeden Landes nur durch Hebung
der Lage ihres eignen Volks geholfen werden könne, und lehren, daß unser
deutsches lediglich sür sich zu sorgen habe, ohne Rücksicht auf das Wohl andrer
Völker, oder nur mit so viel Rücksicht, als ihm die eigne Sicherheit und der
eigne Nutzen auflegen; wir lehren, daß, wenn das Wohl unsers eignen Volks
einen Eroberungskrieg, die Unterjochung, Verdrängung oder Vertilgung andrer
Völker fordern sollte, wir uns davon durch christliche und Hnmauitätsbedenken
nicht dürften zurückschrecken lassen; wir haben deshalb auch gegen die äußerste
Anspannung der Wehrkraft unsers Volks nichts einzuwenden, vorausgesetzt,
daß sie in absehbarer Zeit einmal zu dem Zwecke verwendet wird, für den sie
da ist. Ist das sozialdemokratisch?

Weil wir das Grundübel in dem Mißverhältnis zwischen Bevölkerung
und Boden sehen, glauben wir nicht, daß das, was man heute Sozialpolitik
nennt, gründliche Abhilfe bringen könne, und außerdem ist uns diese Sozial¬
politik, als ein System von Veschränkuugen der individuellen Freiheit, zuwider.
Denn wir sind im Grnnde des Herzens das Gegenteil von Sozialisten, näm¬
lich manchesterliche Individualisten. Von den Manchestcrleuten gewöhnlichen
Schlags unterscheiden wir uns uur durch zweierlei, nämlich durch unsre Folge¬
richtigkeit, indem wir es nicht tadeln, wenn auch die Arbeiter von der Frei¬
heit Gebrauch macheu, die das Manchestertum nur zum Scheine für alle er¬
strebt hat, mit dem heimlichen Vorbehalt, den eignen Klassengenossen deu Allein¬
genuß zu sichern, und zweitens weisen wir Eingriffe des Staats in das Wirt¬
schaftsleben und weitgehenden Zwang nicht mehr zurück, sobald beides not-


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[0412] Sind wir Sozialdemokraten? im Zusammenhange vorlegen. Das „unser" ist nicht so zu verstehen, als ob jeder unsrer Mitarbeiter jedem einzelnen Satze beipflichtete, denn wir bilden nicht eine Partei, sondern einen freien Verein von Männern, von denen jeder nach eigner Einsicht fürs Wohl des Vaterlands arbeitet,, und da verstehen sich Meinungsverschiedenheiten von selbst, aber in den Grundzttgen stimmen wir überein. Wir bekennen uns zu dem Glauben an einen persönlichen Gott und an ein jenseitiges Ziel der unsterblichen Menschenseele. Ist das sozialdemokratisch? Wir glauben nicht, daß die soziale oder irgend eine andre der großen Fragen der Menschheit jemals hienieden gelöst werden wird, weil die irdische Aufgabe der Menschheit eben in der Lösungsnrbeit besteht. Ist das sozial¬ demokratisch? Aber die Lösungsarbeit muß eben gethan werden, und als deren nächste Aufgabe in unsrer Zeit bezeichnen wir nicht die Vergesellschaftung der Pro¬ duktionsmittel, sondern die Vermehrung des privaten Grundeigentums. Ist das sozialistisch? Wir bestreikn die Interessensolidarität der Arbeiterschaft der verschiednen Länder, erklären den Wahlspruch: Proletarier aller Länder, vereinigt euch ! für Thorheit, glauben, daß der Arbeiterschaft eines jeden Landes nur durch Hebung der Lage ihres eignen Volks geholfen werden könne, und lehren, daß unser deutsches lediglich sür sich zu sorgen habe, ohne Rücksicht auf das Wohl andrer Völker, oder nur mit so viel Rücksicht, als ihm die eigne Sicherheit und der eigne Nutzen auflegen; wir lehren, daß, wenn das Wohl unsers eignen Volks einen Eroberungskrieg, die Unterjochung, Verdrängung oder Vertilgung andrer Völker fordern sollte, wir uns davon durch christliche und Hnmauitätsbedenken nicht dürften zurückschrecken lassen; wir haben deshalb auch gegen die äußerste Anspannung der Wehrkraft unsers Volks nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß sie in absehbarer Zeit einmal zu dem Zwecke verwendet wird, für den sie da ist. Ist das sozialdemokratisch? Weil wir das Grundübel in dem Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Boden sehen, glauben wir nicht, daß das, was man heute Sozialpolitik nennt, gründliche Abhilfe bringen könne, und außerdem ist uns diese Sozial¬ politik, als ein System von Veschränkuugen der individuellen Freiheit, zuwider. Denn wir sind im Grnnde des Herzens das Gegenteil von Sozialisten, näm¬ lich manchesterliche Individualisten. Von den Manchestcrleuten gewöhnlichen Schlags unterscheiden wir uns uur durch zweierlei, nämlich durch unsre Folge¬ richtigkeit, indem wir es nicht tadeln, wenn auch die Arbeiter von der Frei¬ heit Gebrauch macheu, die das Manchestertum nur zum Scheine für alle er¬ strebt hat, mit dem heimlichen Vorbehalt, den eignen Klassengenossen deu Allein¬ genuß zu sichern, und zweitens weisen wir Eingriffe des Staats in das Wirt¬ schaftsleben und weitgehenden Zwang nicht mehr zurück, sobald beides not-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/412>, abgerufen am 29.06.2024.