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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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eines Jndustriepatriarchen wie Krupp oder Stumm weit angenehmer und
menschenwürdiger als die des vogelfreien Arbeiters, der ein paar Wochen auf
eintägige Kündigung arbeitet und dann wieder ein paar Wochen bummelt.
Wir finden, daß die politischen Rechte ohne die Grundlage einer sichern wirt¬
schaftlichen Existenz nur geringen Wert haben, daß die politische Gleichberech¬
tigung aller ungeflügelten Zweifüßler den Spott verdient, mit dem sie Justus
Möser überschüttet hat, und daß vernünftigerweise immer nur die Besitzenden
Vollbürger sein können. Wir haben öfter den Gedanken ausgesprochen, daß
der gegenwärtige Zustand, wo man den Besitzlosen das Wahlrecht zu den gesetz¬
gebenden Körperschaften durch die Verfassung einräumt, durch allerlei gesetz¬
widrige Kunstgriffe und Zwangsmittel aber soweit beschränkt, daß sie niemals
eine ausschlaggebende Fraktion bilden können, obwohl sie schon die Hälfte der
Bevölkerung bilden, daß dieser Zustand höchst unerfreulich und auf die Dauer
unerträglich sei; es wäre besser, wenn man ihnen dieses Wahlrecht nähme,
dafür aber sie alljährlich ganz frei Abgeordnete aus ihrer Mitte wühlen ließe,
die vor der gesetzgebenden Versammlung die Beschwerden, Wünsche und Forde¬
rungen des Standes der besitzlosen Lohnarbeiter vorzutragen hätten. Ist das
alles sozialistisch? Allerdings haben wir, worin doch wahrhaftig kein dem
Sozialismus gemachtes Zugeständnis liegt, zur notwendigen Ergänzung dieser
Ansicht hervorgehoben, daß wir auf eine derartige Umgestaltung des Rechts
vor der Hand wenig Aussicht haben, daß das Erstreben des Ziels auf Schleich¬
wegen (indem Polizei und Strafrecht die Herrschenden und die Beherrschten
ungleich behandeln, ohne daß vorher die formelle Rechtsgleichheit abgeschafft
worden wäre) höchst gefährlich ist, weil ein beständiger Widerspruch zwischen
Recht und Praxis auflösend wirkt, daß die Brotherren, wenn sie die alten
Herrenrechte wieder haben wollen, auch die alte Herrenpflicht der lebensläng¬
lichen Versorgung des Knechts und feiner Familie wieder auf sich nehmen
müssen, und daß neun Zehntel aller Herren, auch wenn sie die Einsicht und
den guten Willen hätten, gar nicht die Mittel haben würden, ihren Arbeitern
dasselbe zu gewahren wie Krupp und Stumm.

Das also sind die Grundzüge unsrer Sozial- und Wirtschaftspolitik; ein
großer Teil des gebildeten Deutschlands kennt sie, der andre Teil braucht nur
nach den grünen Heften zu greifen, um sie kennen zu lernen, und nnn lassen
wir den Herren, die uns als Sozialdemokraten verschreien, die Wahl, ob sie
widerrufen oder ob sie den Vorwurf der fahrlässigen oder der böswilligen
Verleumdung auf sich sitzen lassen wollen.

Auch der Blinde sieht ein, daß man uns zwar mit einigem Recht feudale
Reaktionäre oder Manchesterleute schelten könnte (in der Vereinigung dieser
Vorwürfe würde kein Widerspruch liegen; sind doch lange Zeit hindurch die
adlichen Grundbesitzer die Träger des Manchestertums gewesen, und vermag
doch überhaupt nnr der echte Aristokrat -- in heutiger Zeit leider eine mrissimg,


eines Jndustriepatriarchen wie Krupp oder Stumm weit angenehmer und
menschenwürdiger als die des vogelfreien Arbeiters, der ein paar Wochen auf
eintägige Kündigung arbeitet und dann wieder ein paar Wochen bummelt.
Wir finden, daß die politischen Rechte ohne die Grundlage einer sichern wirt¬
schaftlichen Existenz nur geringen Wert haben, daß die politische Gleichberech¬
tigung aller ungeflügelten Zweifüßler den Spott verdient, mit dem sie Justus
Möser überschüttet hat, und daß vernünftigerweise immer nur die Besitzenden
Vollbürger sein können. Wir haben öfter den Gedanken ausgesprochen, daß
der gegenwärtige Zustand, wo man den Besitzlosen das Wahlrecht zu den gesetz¬
gebenden Körperschaften durch die Verfassung einräumt, durch allerlei gesetz¬
widrige Kunstgriffe und Zwangsmittel aber soweit beschränkt, daß sie niemals
eine ausschlaggebende Fraktion bilden können, obwohl sie schon die Hälfte der
Bevölkerung bilden, daß dieser Zustand höchst unerfreulich und auf die Dauer
unerträglich sei; es wäre besser, wenn man ihnen dieses Wahlrecht nähme,
dafür aber sie alljährlich ganz frei Abgeordnete aus ihrer Mitte wühlen ließe,
die vor der gesetzgebenden Versammlung die Beschwerden, Wünsche und Forde¬
rungen des Standes der besitzlosen Lohnarbeiter vorzutragen hätten. Ist das
alles sozialistisch? Allerdings haben wir, worin doch wahrhaftig kein dem
Sozialismus gemachtes Zugeständnis liegt, zur notwendigen Ergänzung dieser
Ansicht hervorgehoben, daß wir auf eine derartige Umgestaltung des Rechts
vor der Hand wenig Aussicht haben, daß das Erstreben des Ziels auf Schleich¬
wegen (indem Polizei und Strafrecht die Herrschenden und die Beherrschten
ungleich behandeln, ohne daß vorher die formelle Rechtsgleichheit abgeschafft
worden wäre) höchst gefährlich ist, weil ein beständiger Widerspruch zwischen
Recht und Praxis auflösend wirkt, daß die Brotherren, wenn sie die alten
Herrenrechte wieder haben wollen, auch die alte Herrenpflicht der lebensläng¬
lichen Versorgung des Knechts und feiner Familie wieder auf sich nehmen
müssen, und daß neun Zehntel aller Herren, auch wenn sie die Einsicht und
den guten Willen hätten, gar nicht die Mittel haben würden, ihren Arbeitern
dasselbe zu gewahren wie Krupp und Stumm.

Das also sind die Grundzüge unsrer Sozial- und Wirtschaftspolitik; ein
großer Teil des gebildeten Deutschlands kennt sie, der andre Teil braucht nur
nach den grünen Heften zu greifen, um sie kennen zu lernen, und nnn lassen
wir den Herren, die uns als Sozialdemokraten verschreien, die Wahl, ob sie
widerrufen oder ob sie den Vorwurf der fahrlässigen oder der böswilligen
Verleumdung auf sich sitzen lassen wollen.

Auch der Blinde sieht ein, daß man uns zwar mit einigem Recht feudale
Reaktionäre oder Manchesterleute schelten könnte (in der Vereinigung dieser
Vorwürfe würde kein Widerspruch liegen; sind doch lange Zeit hindurch die
adlichen Grundbesitzer die Träger des Manchestertums gewesen, und vermag
doch überhaupt nnr der echte Aristokrat — in heutiger Zeit leider eine mrissimg,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/414>, abgerufen am 04.07.2024.