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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Ringen so von Erfolg gekrönt, wie in der schönen Allegorie "Die Stunden,"
mehr als ein Gedicht erinnert an gewisse Experimente unsrer Pleinairisteu
(deren Einwirkungen hier überhaupt unverkennbar sind), mehr als einmal, wie
in der "Unheimlichen Stunde," übersteigert Falke den Ausdruck bis zur Wirkungs-
losigkeit, immer aber hinterläßt er doch den Eindruck eines echten Talents,
das eine gewisse Verwandtschaft mit Gottfried Keller zeigt, ohne in Nach¬
ahmung zu verfallen. Aus alledem geht hervor, daß diese Gedichte mehr
verdienen, als daß drei oder vier davon in eine künftige Anthologie übergehen.

Auch die vou K. Schrattenthal unter dem Titel Johanna Am-
brosius, eine deutsche Volksdichterin (Preßburg und Leipzig. Rudolf
Drodtloff) herausgegebne kleine Sammlung lyrischer Dichtungen einer ost-
preußischen Häuslerin Frau Johanna Voigt, geborne Ambrosius, hat das
Recht, die Teilnahme eines größern Kreises zu fordern. Die 1854 zu Leng-
wethen im Kreise Ragnit als Tochter eines Dorfhandwerkers geborne, seit
1874 an einen Bauernsohn und Häusler in Groß-Wersmeninken verheiratete
Dichterin, die ihre ganze Bildung, wie es scheint, der Lektüre der Gartenlaube
verdankt und ihr erstes Lied im Herbst des Jahres 1884, also in ihrem
dreißigsten Lebensjahre geschrieben hat, ist in der That eine merkwürdige Er¬
scheinung. Je unbefangner und kritikloser die arme Dörferin die poetischen
Versuche, die sie kennen lernte, als Muster betrachtete, um so bewundrungs-
würdiger ist es, daß sie für die Schwingungen ihrer Seele, die poetische Ver¬
klärung ihres Leids öfter ein selbständiges Bild und einen selbständigen Aus¬
druck gefunden hat. Die tiefe Einfachheit ihrer besten Gedichte, die milde Er¬
gebung in die unabwendbare Thatsache, daß ihre Muse der Schmerz sei, die
Feinfühligkeit, die sie in der Verwendung des wirklich Erlebten und An¬
geschauten offenbart, heben sich rührend von den naiven Geschmacklosigkeiten
ab, die ihr das nachgeahmte gelegentlich auferlegt. Unter allen sogenannten
Naturdichterinneu, deren wir ja seit Louise Karsch eine ganze Anzahl haben,
hat Johanna Ambrosius die Unmittelbarkeit des Gefühls und die Fähig¬
keit, ihre Stimmungen zu versinnlichen, am reinsten bewährt. Zu Nutz und
Frommen einer Anthologie nennen wir die Gedichte "Kampf und Frieden,"
"Meine Muse," "Meine Welt," "Sommernacht," "Sonne möcht' ich sein,"
"Ach bindet mir die Hände doch," die mit dem tiefern Gehalt zugleich die ge¬
lungenste Form aufweisen. Aber wir finden noch andre Dichtungen in dem
Bande, die nicht so vollständig aus einem Guß und doch für die poetische
Wiedergabe und Verklärung der engen Welt, die die Dichterin umfängt, sehr
bezeichnend sind. Zu diesen rechnen wir "Laßt sie schlafen," "Marie P" (in
den "Bildern vom Lande"). "Das Frühstücksbrot," "Mein Bub," "Die Blätter
sollen," "Ich hab gesehn das zarte blonde Kind." die alle den Gesamteindruck
der schlichten Lebensfülle dieses Talents Verstürken helfen, ohne daß sie gerade
zur Aufnahme in "Blüten und Perlen" deutscher Lyrik berechtigt wären.


Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Ringen so von Erfolg gekrönt, wie in der schönen Allegorie „Die Stunden,"
mehr als ein Gedicht erinnert an gewisse Experimente unsrer Pleinairisteu
(deren Einwirkungen hier überhaupt unverkennbar sind), mehr als einmal, wie
in der „Unheimlichen Stunde," übersteigert Falke den Ausdruck bis zur Wirkungs-
losigkeit, immer aber hinterläßt er doch den Eindruck eines echten Talents,
das eine gewisse Verwandtschaft mit Gottfried Keller zeigt, ohne in Nach¬
ahmung zu verfallen. Aus alledem geht hervor, daß diese Gedichte mehr
verdienen, als daß drei oder vier davon in eine künftige Anthologie übergehen.

Auch die vou K. Schrattenthal unter dem Titel Johanna Am-
brosius, eine deutsche Volksdichterin (Preßburg und Leipzig. Rudolf
Drodtloff) herausgegebne kleine Sammlung lyrischer Dichtungen einer ost-
preußischen Häuslerin Frau Johanna Voigt, geborne Ambrosius, hat das
Recht, die Teilnahme eines größern Kreises zu fordern. Die 1854 zu Leng-
wethen im Kreise Ragnit als Tochter eines Dorfhandwerkers geborne, seit
1874 an einen Bauernsohn und Häusler in Groß-Wersmeninken verheiratete
Dichterin, die ihre ganze Bildung, wie es scheint, der Lektüre der Gartenlaube
verdankt und ihr erstes Lied im Herbst des Jahres 1884, also in ihrem
dreißigsten Lebensjahre geschrieben hat, ist in der That eine merkwürdige Er¬
scheinung. Je unbefangner und kritikloser die arme Dörferin die poetischen
Versuche, die sie kennen lernte, als Muster betrachtete, um so bewundrungs-
würdiger ist es, daß sie für die Schwingungen ihrer Seele, die poetische Ver¬
klärung ihres Leids öfter ein selbständiges Bild und einen selbständigen Aus¬
druck gefunden hat. Die tiefe Einfachheit ihrer besten Gedichte, die milde Er¬
gebung in die unabwendbare Thatsache, daß ihre Muse der Schmerz sei, die
Feinfühligkeit, die sie in der Verwendung des wirklich Erlebten und An¬
geschauten offenbart, heben sich rührend von den naiven Geschmacklosigkeiten
ab, die ihr das nachgeahmte gelegentlich auferlegt. Unter allen sogenannten
Naturdichterinneu, deren wir ja seit Louise Karsch eine ganze Anzahl haben,
hat Johanna Ambrosius die Unmittelbarkeit des Gefühls und die Fähig¬
keit, ihre Stimmungen zu versinnlichen, am reinsten bewährt. Zu Nutz und
Frommen einer Anthologie nennen wir die Gedichte „Kampf und Frieden,"
„Meine Muse," „Meine Welt," „Sommernacht," „Sonne möcht' ich sein,"
„Ach bindet mir die Hände doch," die mit dem tiefern Gehalt zugleich die ge¬
lungenste Form aufweisen. Aber wir finden noch andre Dichtungen in dem
Bande, die nicht so vollständig aus einem Guß und doch für die poetische
Wiedergabe und Verklärung der engen Welt, die die Dichterin umfängt, sehr
bezeichnend sind. Zu diesen rechnen wir „Laßt sie schlafen," „Marie P" (in
den „Bildern vom Lande"). „Das Frühstücksbrot," „Mein Bub," „Die Blätter
sollen," „Ich hab gesehn das zarte blonde Kind." die alle den Gesamteindruck
der schlichten Lebensfülle dieses Talents Verstürken helfen, ohne daß sie gerade
zur Aufnahme in „Blüten und Perlen" deutscher Lyrik berechtigt wären.


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[0039] Beiträge zu einer künftigen Anthologie Ringen so von Erfolg gekrönt, wie in der schönen Allegorie „Die Stunden," mehr als ein Gedicht erinnert an gewisse Experimente unsrer Pleinairisteu (deren Einwirkungen hier überhaupt unverkennbar sind), mehr als einmal, wie in der „Unheimlichen Stunde," übersteigert Falke den Ausdruck bis zur Wirkungs- losigkeit, immer aber hinterläßt er doch den Eindruck eines echten Talents, das eine gewisse Verwandtschaft mit Gottfried Keller zeigt, ohne in Nach¬ ahmung zu verfallen. Aus alledem geht hervor, daß diese Gedichte mehr verdienen, als daß drei oder vier davon in eine künftige Anthologie übergehen. Auch die vou K. Schrattenthal unter dem Titel Johanna Am- brosius, eine deutsche Volksdichterin (Preßburg und Leipzig. Rudolf Drodtloff) herausgegebne kleine Sammlung lyrischer Dichtungen einer ost- preußischen Häuslerin Frau Johanna Voigt, geborne Ambrosius, hat das Recht, die Teilnahme eines größern Kreises zu fordern. Die 1854 zu Leng- wethen im Kreise Ragnit als Tochter eines Dorfhandwerkers geborne, seit 1874 an einen Bauernsohn und Häusler in Groß-Wersmeninken verheiratete Dichterin, die ihre ganze Bildung, wie es scheint, der Lektüre der Gartenlaube verdankt und ihr erstes Lied im Herbst des Jahres 1884, also in ihrem dreißigsten Lebensjahre geschrieben hat, ist in der That eine merkwürdige Er¬ scheinung. Je unbefangner und kritikloser die arme Dörferin die poetischen Versuche, die sie kennen lernte, als Muster betrachtete, um so bewundrungs- würdiger ist es, daß sie für die Schwingungen ihrer Seele, die poetische Ver¬ klärung ihres Leids öfter ein selbständiges Bild und einen selbständigen Aus¬ druck gefunden hat. Die tiefe Einfachheit ihrer besten Gedichte, die milde Er¬ gebung in die unabwendbare Thatsache, daß ihre Muse der Schmerz sei, die Feinfühligkeit, die sie in der Verwendung des wirklich Erlebten und An¬ geschauten offenbart, heben sich rührend von den naiven Geschmacklosigkeiten ab, die ihr das nachgeahmte gelegentlich auferlegt. Unter allen sogenannten Naturdichterinneu, deren wir ja seit Louise Karsch eine ganze Anzahl haben, hat Johanna Ambrosius die Unmittelbarkeit des Gefühls und die Fähig¬ keit, ihre Stimmungen zu versinnlichen, am reinsten bewährt. Zu Nutz und Frommen einer Anthologie nennen wir die Gedichte „Kampf und Frieden," „Meine Muse," „Meine Welt," „Sommernacht," „Sonne möcht' ich sein," „Ach bindet mir die Hände doch," die mit dem tiefern Gehalt zugleich die ge¬ lungenste Form aufweisen. Aber wir finden noch andre Dichtungen in dem Bande, die nicht so vollständig aus einem Guß und doch für die poetische Wiedergabe und Verklärung der engen Welt, die die Dichterin umfängt, sehr bezeichnend sind. Zu diesen rechnen wir „Laßt sie schlafen," „Marie P" (in den „Bildern vom Lande"). „Das Frühstücksbrot," „Mein Bub," „Die Blätter sollen," „Ich hab gesehn das zarte blonde Kind." die alle den Gesamteindruck der schlichten Lebensfülle dieses Talents Verstürken helfen, ohne daß sie gerade zur Aufnahme in „Blüten und Perlen" deutscher Lyrik berechtigt wären.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/39>, abgerufen am 24.07.2024.