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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Eine dritte Sammlung, die ein ganz entgegengesetztes Leben spiegelt, ans
der sich leicht ein paar wahrhaft schöne Gedichte herausheben lassen, deren
ganze Art aber die Teilnahme an der Erscheinung und Entwicklung ihres
Verfassers fordert, liegt uns in den unter dem Titel Sommer erschienenen
neuen Gedichten von Wilhelm Weigand (München, G. Frcmzsche Hofbuch¬
handlung, 1894) vor. Ein größerer Gegensatz als zwischen der ostpreußischen
Häuslerin, die nur ihre Heimat gesehen und kaum ein paar Bücher gelesen
hat, und dem jungen modernen Dichter, der seinen Prolog aus dem Campo
Santo von Pisa datirt, der alle Herrlichkeiten der Welt und der Kunst ge¬
nossen, alle Geistesschätze kritisch durchmustert hat, zwischen der demütigen
Bescheidung und schlichten Nuhesehnsucht der einen und dem leidenschaftlichen
Drange, dem trotzigen Aufbäumen des andern ist nicht denkbar. Die an
wenige Erlebnisse gclmndne Betrachtung der ungebildeten Frau und die weit¬
ausgreifende büchergenährte pessimistische Reflexion des hochgebildeten jüngern
Mannes sind himmelweit von einander entfernt, und doch klingen gewisse
lyrische Stimmungen, Gedichte, die ein Hauch des Unendlichen im Endlichen
belebt, wunderbar zusammen. Die Gestirne sind auch durch unermeßliche
Räume von einander getrennt, aber wenn sie zu glänzen beginnen, scheinen sie
dicht beisammen zu stehen. In Weigands Liedern, von denen sich kein Sammler
"Hochsvmmernacht," "Mittagsrast," "Rachegefühl," "Abendgang," "stillste
Stunde" entgehen lassen sollte, lebt eine Verklärung, die seinen Reflexions¬
gedichten nicht eigen ist. Da ist viel Gährung, viel Trübung durch den Eigen¬
sinn, sich nicht bloß mit dem neuen Ausdruck des Gefühls, sondern mit dem
Gefühl selbst auch da absehe", überheben zu wollen, wo doch der Dichter in
Leid und Freud das uralte Schicksal des Menschen teilt, viel Niederschlag der
verworrnen geistigen Bewegungen der Gegenwart, die sich weder gestalten,
uoch in innerliche Erlebnisse wandeln lassen. Dennoch ist der Sinn und Zug
da, der sich von all diesen Gespenstern befreien wird; wer so empfindet, wie
es das Gedicht "Im Tingeltangel" klar und rein ausdrückt, der wird auch
siegreich über den öden Wirrwarr dieser Tage emporsteigen, und schon seinem
Wege wird es nicht an Teilnahme fehlen.

Doch der künftige Anthvlogieherausgeber kann solche Abschweifungen über
Dichter und dichterische Lebensläufe für seiue Schreibtafel nicht brauchen. Er
will und wünscht ja nur zu erfahren, was aus der ganzen Hekatombe für ihn
selbst als Opfer ausgelesen werden kann. Und in vielen Fällen ist es jn
leicht genug, diesem Verlangen zu genüge". Nehmen wir die Gedichtsamm¬
lungen Im Morgenlicht von Wilhelm Laugewiesche (Leipzig, H. Haessel),
Wildwuchs von Hans Eschelbach (Köln, Paul Neubner), Lieder eines
Einsamen von Heinrich Couvroux (Braunschweig, Rauert und Rocco, 1894)
und Lieder eines Elsässers (Berlin, Hans Lüstenöder), verschiede" in ihrem
Umfang, i" ihrer Grundstimmung, in ihrem Durchschnittswert, so läßt sich


Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Eine dritte Sammlung, die ein ganz entgegengesetztes Leben spiegelt, ans
der sich leicht ein paar wahrhaft schöne Gedichte herausheben lassen, deren
ganze Art aber die Teilnahme an der Erscheinung und Entwicklung ihres
Verfassers fordert, liegt uns in den unter dem Titel Sommer erschienenen
neuen Gedichten von Wilhelm Weigand (München, G. Frcmzsche Hofbuch¬
handlung, 1894) vor. Ein größerer Gegensatz als zwischen der ostpreußischen
Häuslerin, die nur ihre Heimat gesehen und kaum ein paar Bücher gelesen
hat, und dem jungen modernen Dichter, der seinen Prolog aus dem Campo
Santo von Pisa datirt, der alle Herrlichkeiten der Welt und der Kunst ge¬
nossen, alle Geistesschätze kritisch durchmustert hat, zwischen der demütigen
Bescheidung und schlichten Nuhesehnsucht der einen und dem leidenschaftlichen
Drange, dem trotzigen Aufbäumen des andern ist nicht denkbar. Die an
wenige Erlebnisse gclmndne Betrachtung der ungebildeten Frau und die weit¬
ausgreifende büchergenährte pessimistische Reflexion des hochgebildeten jüngern
Mannes sind himmelweit von einander entfernt, und doch klingen gewisse
lyrische Stimmungen, Gedichte, die ein Hauch des Unendlichen im Endlichen
belebt, wunderbar zusammen. Die Gestirne sind auch durch unermeßliche
Räume von einander getrennt, aber wenn sie zu glänzen beginnen, scheinen sie
dicht beisammen zu stehen. In Weigands Liedern, von denen sich kein Sammler
„Hochsvmmernacht," „Mittagsrast," „Rachegefühl," „Abendgang," „stillste
Stunde" entgehen lassen sollte, lebt eine Verklärung, die seinen Reflexions¬
gedichten nicht eigen ist. Da ist viel Gährung, viel Trübung durch den Eigen¬
sinn, sich nicht bloß mit dem neuen Ausdruck des Gefühls, sondern mit dem
Gefühl selbst auch da absehe«, überheben zu wollen, wo doch der Dichter in
Leid und Freud das uralte Schicksal des Menschen teilt, viel Niederschlag der
verworrnen geistigen Bewegungen der Gegenwart, die sich weder gestalten,
uoch in innerliche Erlebnisse wandeln lassen. Dennoch ist der Sinn und Zug
da, der sich von all diesen Gespenstern befreien wird; wer so empfindet, wie
es das Gedicht „Im Tingeltangel" klar und rein ausdrückt, der wird auch
siegreich über den öden Wirrwarr dieser Tage emporsteigen, und schon seinem
Wege wird es nicht an Teilnahme fehlen.

Doch der künftige Anthvlogieherausgeber kann solche Abschweifungen über
Dichter und dichterische Lebensläufe für seiue Schreibtafel nicht brauchen. Er
will und wünscht ja nur zu erfahren, was aus der ganzen Hekatombe für ihn
selbst als Opfer ausgelesen werden kann. Und in vielen Fällen ist es jn
leicht genug, diesem Verlangen zu genüge». Nehmen wir die Gedichtsamm¬
lungen Im Morgenlicht von Wilhelm Laugewiesche (Leipzig, H. Haessel),
Wildwuchs von Hans Eschelbach (Köln, Paul Neubner), Lieder eines
Einsamen von Heinrich Couvroux (Braunschweig, Rauert und Rocco, 1894)
und Lieder eines Elsässers (Berlin, Hans Lüstenöder), verschiede» in ihrem
Umfang, i» ihrer Grundstimmung, in ihrem Durchschnittswert, so läßt sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/40>, abgerufen am 25.07.2024.