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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Reform der Arbeiterversicherung

triebe umfaßten, deren Beiträge ja -- je nach der Gefährlichkeit der Betriebe --
verschieden bemessen sein könnten, so würden sich die Berwaltungskvsten sicher¬
lich wesentlich geringer stellen.

Viel allgemeiner aber noch sind die Klagen über das Jnvaliditäts- und
Altersversichernngsgcsetz. Nur mit Widerstreben werden hier die Beiträge ent¬
richtet. Die Vorteile, die die Jnvaliditäts- und Altersversicherung, wie sie
zur Zeit besteht, gewährt, erscheinen dem Arbeiter zu unsicher. Der Gedanke,
daß er auch in jttngern Jahren eine so bedeutende Einbuße an Erwerbsfähig¬
keit erleiden könne, wie sie das Gesetz als Voraussetzung für Gewährung einer
Invalidenrente festsetzt, liegt ihm fern, er denkt nnr an die Altersrente und
glaubt, daß er vou Jugend auf zu einer Steuer gezwungen sei, um eine Rente
zu erhalten in einem Alter, das die wenigsten erreichen. Gewiß liegt hierin
ein Irrtum, denn schon jetzt beziehen mehr als 295000 Personen Renten, und
nach fünfzig Jahren werden nach den angestellten Ermittlungen auf Grund
des Juvaliditätsgesetzes jährlich etwa 314 Millionen Mark an Renten zu
zahlen sein, die sich auf 1311000 Jnvalidenrentenempfänger und 138000
Altersrentenempfänger verteilen. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß auch
heute noch nach fast fünfjährigem Bestehen eine allgemeine Abneigung gegen
dieses Gesetz vorhanden ist, und daß jede Ausdehnung -- wie z. B. die auf
die Hausweber --, statt vou deu Versicherten mit Freuden begrüßt zu werden
auf allgemeinen Widerstand stößt. Daß auch die Vetriebsunternehmer die neue
Last als drückend empfinden, ist um so natürlicher, weil das Gesetz trotz der
großen Belastung der Unternehmer zu Gunsten der Arbeiter bisher nicht den
sozialen Frieden gefördert, sondern nur zur Vermehrung der Unzufriedenheit
beigetragen hat und überdies gegen die Art der Beitragserhebung, insbesondre
gegen das Einkleben der Marken ein allgemeiner Unwille herrscht.

Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten Arbeiterversichernngswcsens
ließe sich meiner Ansicht nach ohne große Schwierigkeiten in der Weise erreichen,
daß die Berufsgenossenschaften beseitigt, der Unterschied zwischen Unfall- und In¬
validenrente aufgehoben, an ihrer Stelle eine einzige Invalidenrente eingeführt
und die ganze Ausführung der Versicherungsgesetze den Krankenkassen und Ver¬
sicherungsanstalten übertragen würde. Die Ausführung dieses Vorschlags denke
ich mir in folgender Weise.

Die Grundlagen des Krankenversicherungsgesetzes bleiben aufrecht erhalten,
nur werden die Gemeindekrankenversicherungen beseitigt, und um ihre Stelle treten
leistungsfähigere größere Krankenkassen, deren Verpflichtungen dahin zu erweitern
sind, daß den Kassenmitgliedern allgemein auch freie ärztliche Behandlung und freie
Heilmittel für ihre Familienangehörigen und im Falle des Todes der Ehefrau oder
eines Kindes ein Sterbegeld gewährt wird (vergl. 8 (i Ur. 5 und 7 des Kranken¬
versicherungsgesetzes).

Um die weitere Ausdehnung der Krankenversicherung zu erleichtern, insbesondre
auch die Heranziehung der Dienstboten und der kleinern Betriebsunternehmer zu


Zur Reform der Arbeiterversicherung

triebe umfaßten, deren Beiträge ja — je nach der Gefährlichkeit der Betriebe —
verschieden bemessen sein könnten, so würden sich die Berwaltungskvsten sicher¬
lich wesentlich geringer stellen.

Viel allgemeiner aber noch sind die Klagen über das Jnvaliditäts- und
Altersversichernngsgcsetz. Nur mit Widerstreben werden hier die Beiträge ent¬
richtet. Die Vorteile, die die Jnvaliditäts- und Altersversicherung, wie sie
zur Zeit besteht, gewährt, erscheinen dem Arbeiter zu unsicher. Der Gedanke,
daß er auch in jttngern Jahren eine so bedeutende Einbuße an Erwerbsfähig¬
keit erleiden könne, wie sie das Gesetz als Voraussetzung für Gewährung einer
Invalidenrente festsetzt, liegt ihm fern, er denkt nnr an die Altersrente und
glaubt, daß er vou Jugend auf zu einer Steuer gezwungen sei, um eine Rente
zu erhalten in einem Alter, das die wenigsten erreichen. Gewiß liegt hierin
ein Irrtum, denn schon jetzt beziehen mehr als 295000 Personen Renten, und
nach fünfzig Jahren werden nach den angestellten Ermittlungen auf Grund
des Juvaliditätsgesetzes jährlich etwa 314 Millionen Mark an Renten zu
zahlen sein, die sich auf 1311000 Jnvalidenrentenempfänger und 138000
Altersrentenempfänger verteilen. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß auch
heute noch nach fast fünfjährigem Bestehen eine allgemeine Abneigung gegen
dieses Gesetz vorhanden ist, und daß jede Ausdehnung — wie z. B. die auf
die Hausweber —, statt vou deu Versicherten mit Freuden begrüßt zu werden
auf allgemeinen Widerstand stößt. Daß auch die Vetriebsunternehmer die neue
Last als drückend empfinden, ist um so natürlicher, weil das Gesetz trotz der
großen Belastung der Unternehmer zu Gunsten der Arbeiter bisher nicht den
sozialen Frieden gefördert, sondern nur zur Vermehrung der Unzufriedenheit
beigetragen hat und überdies gegen die Art der Beitragserhebung, insbesondre
gegen das Einkleben der Marken ein allgemeiner Unwille herrscht.

Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten Arbeiterversichernngswcsens
ließe sich meiner Ansicht nach ohne große Schwierigkeiten in der Weise erreichen,
daß die Berufsgenossenschaften beseitigt, der Unterschied zwischen Unfall- und In¬
validenrente aufgehoben, an ihrer Stelle eine einzige Invalidenrente eingeführt
und die ganze Ausführung der Versicherungsgesetze den Krankenkassen und Ver¬
sicherungsanstalten übertragen würde. Die Ausführung dieses Vorschlags denke
ich mir in folgender Weise.

Die Grundlagen des Krankenversicherungsgesetzes bleiben aufrecht erhalten,
nur werden die Gemeindekrankenversicherungen beseitigt, und um ihre Stelle treten
leistungsfähigere größere Krankenkassen, deren Verpflichtungen dahin zu erweitern
sind, daß den Kassenmitgliedern allgemein auch freie ärztliche Behandlung und freie
Heilmittel für ihre Familienangehörigen und im Falle des Todes der Ehefrau oder
eines Kindes ein Sterbegeld gewährt wird (vergl. 8 (i Ur. 5 und 7 des Kranken¬
versicherungsgesetzes).

Um die weitere Ausdehnung der Krankenversicherung zu erleichtern, insbesondre
auch die Heranziehung der Dienstboten und der kleinern Betriebsunternehmer zu


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[0365] Zur Reform der Arbeiterversicherung triebe umfaßten, deren Beiträge ja — je nach der Gefährlichkeit der Betriebe — verschieden bemessen sein könnten, so würden sich die Berwaltungskvsten sicher¬ lich wesentlich geringer stellen. Viel allgemeiner aber noch sind die Klagen über das Jnvaliditäts- und Altersversichernngsgcsetz. Nur mit Widerstreben werden hier die Beiträge ent¬ richtet. Die Vorteile, die die Jnvaliditäts- und Altersversicherung, wie sie zur Zeit besteht, gewährt, erscheinen dem Arbeiter zu unsicher. Der Gedanke, daß er auch in jttngern Jahren eine so bedeutende Einbuße an Erwerbsfähig¬ keit erleiden könne, wie sie das Gesetz als Voraussetzung für Gewährung einer Invalidenrente festsetzt, liegt ihm fern, er denkt nnr an die Altersrente und glaubt, daß er vou Jugend auf zu einer Steuer gezwungen sei, um eine Rente zu erhalten in einem Alter, das die wenigsten erreichen. Gewiß liegt hierin ein Irrtum, denn schon jetzt beziehen mehr als 295000 Personen Renten, und nach fünfzig Jahren werden nach den angestellten Ermittlungen auf Grund des Juvaliditätsgesetzes jährlich etwa 314 Millionen Mark an Renten zu zahlen sein, die sich auf 1311000 Jnvalidenrentenempfänger und 138000 Altersrentenempfänger verteilen. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß auch heute noch nach fast fünfjährigem Bestehen eine allgemeine Abneigung gegen dieses Gesetz vorhanden ist, und daß jede Ausdehnung — wie z. B. die auf die Hausweber —, statt vou deu Versicherten mit Freuden begrüßt zu werden auf allgemeinen Widerstand stößt. Daß auch die Vetriebsunternehmer die neue Last als drückend empfinden, ist um so natürlicher, weil das Gesetz trotz der großen Belastung der Unternehmer zu Gunsten der Arbeiter bisher nicht den sozialen Frieden gefördert, sondern nur zur Vermehrung der Unzufriedenheit beigetragen hat und überdies gegen die Art der Beitragserhebung, insbesondre gegen das Einkleben der Marken ein allgemeiner Unwille herrscht. Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten Arbeiterversichernngswcsens ließe sich meiner Ansicht nach ohne große Schwierigkeiten in der Weise erreichen, daß die Berufsgenossenschaften beseitigt, der Unterschied zwischen Unfall- und In¬ validenrente aufgehoben, an ihrer Stelle eine einzige Invalidenrente eingeführt und die ganze Ausführung der Versicherungsgesetze den Krankenkassen und Ver¬ sicherungsanstalten übertragen würde. Die Ausführung dieses Vorschlags denke ich mir in folgender Weise. Die Grundlagen des Krankenversicherungsgesetzes bleiben aufrecht erhalten, nur werden die Gemeindekrankenversicherungen beseitigt, und um ihre Stelle treten leistungsfähigere größere Krankenkassen, deren Verpflichtungen dahin zu erweitern sind, daß den Kassenmitgliedern allgemein auch freie ärztliche Behandlung und freie Heilmittel für ihre Familienangehörigen und im Falle des Todes der Ehefrau oder eines Kindes ein Sterbegeld gewährt wird (vergl. 8 (i Ur. 5 und 7 des Kranken¬ versicherungsgesetzes). Um die weitere Ausdehnung der Krankenversicherung zu erleichtern, insbesondre auch die Heranziehung der Dienstboten und der kleinern Betriebsunternehmer zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/365>, abgerufen am 27.06.2024.