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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

Hunderts. Sein Vorbild, die Monodie der Italiener, entfremdete sich bald
dem Hausgesang und ging in die Kantate auf. Auch die Franzosen haben
kein Lied, sie haben nicht einmal eine Übersetzung für das Wort. Daß unser
deutsches Lied so tiefe Wurzeln im Volksgemüte schlug, daß es in schwerer
Zeit der Dichtkunst Stütze und Rettung bieten konnte, verdankt es sächsischen
Tonsetzern, die seine musikalischen Elemente aus volkstümlichen Quellen, ans
Choral und Tanz entnahmen. Mit Ausnahme des Hamburger Frank sind
alle die Musiker, die sich in der Geschichte des Liedes bis zu Hiller hin und
bis zum Auftreten der Berliner Schule ausgezeichnet haben, Sachsen. Nament¬
lich die Ausbildung des weltlichen Lieds gehört ihnen allein, und es ist nicht
schwer, in seiner Physiognomie die besondern sächsischen Züge herauszusinden.
Es sind dieselben Züge der Schlichtheit und Naivität, traulich einfacher Herz¬
lichkeit, muntern, neckischen Frohsinns, die in neuerer Zeit noch den Balladen
Karl Lvwes und den besten Erfindungen Robert Schumanns ihr Gepräge ge¬
geben haben, dieselben, denen wir in den Dichtungen Gellerts, in den Holz¬
schnitten Ludwig Richters begegnen. Aber in der Liste dieser sächsischen Lieder¬
komponisten kommen nur wenig Namen von weithin bekannten reifen Musikern
vor: Christoph Bernhard etwa, der in der Hamburger Schule mithalf, und
Johann Adam Krieger, der Dresdner Hoforganist, der als der erste Meister
die neue Gattung zur Reife brachte. In der Hauptsache ist das deutsche Lied
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ein Werk der Jugend, ins¬
besondre der akademischen Jugend. Heinrich Albert aus Lobenstein, der im
Kreise Simon Dachs die ersten Lieder neuen Stils setzte, kam nach Königs¬
berg von der Leipziger Universität, und Sperontes, der hundert Jahre nach
ihm mit seiner "Singenden Muse an der Pleiße" das Lied aus langem, todes¬
artigem Schlafe wieder erweckte, war Leipziger Student.

Es bestand in früherer Zeit, und zum Vorteil beider Teile, zwischen
höherer wissenschaftlicher Bildung und musikalischer Kunst ein engerer Bund
als heute, wie in Deutschland so auch in Frankreich und Italien. In unsern
protestantischen Ländern führte der Brauch, die Schulkcmtorate und alle wich¬
tigern musikalischen Ämter, die größern Organistenstellen eingeschlossen, wo¬
möglich mit studirten Leuten zu besetzen, der Studentenschaft musikalische Ta¬
lente und musikalische Interessen reichlich zu. In Leipzig, der Hnuptuniversitüt
des alten Kantvrei-Landes, kam dieses musikalische Element auch zu einer ge¬
wissen offiziellen Geltung. Keine zweite Universität legte bei den zahlreichen
akademischen Feierlichkeiten ein gleiches Gewicht auf musikalische Ausstattung
wie Leipzig. Die Ehren- und Prvmotionskcmtaten der Leipziger Universität
bilden uoch 1761 im Breitkopfischen Katalog einen besondern Verlagsartikel,
und ihre Festprogramme bieten ganz eigne Dinge. Lange vor dem Noussean-
Bendaschen Melodram z. B. finden wir lateinische Reden unter feierlicher
Instrumentalbegleitung gehalten. Da war es denn nicht zufällig, daß die


Sachsen in der Musikgeschichte

Hunderts. Sein Vorbild, die Monodie der Italiener, entfremdete sich bald
dem Hausgesang und ging in die Kantate auf. Auch die Franzosen haben
kein Lied, sie haben nicht einmal eine Übersetzung für das Wort. Daß unser
deutsches Lied so tiefe Wurzeln im Volksgemüte schlug, daß es in schwerer
Zeit der Dichtkunst Stütze und Rettung bieten konnte, verdankt es sächsischen
Tonsetzern, die seine musikalischen Elemente aus volkstümlichen Quellen, ans
Choral und Tanz entnahmen. Mit Ausnahme des Hamburger Frank sind
alle die Musiker, die sich in der Geschichte des Liedes bis zu Hiller hin und
bis zum Auftreten der Berliner Schule ausgezeichnet haben, Sachsen. Nament¬
lich die Ausbildung des weltlichen Lieds gehört ihnen allein, und es ist nicht
schwer, in seiner Physiognomie die besondern sächsischen Züge herauszusinden.
Es sind dieselben Züge der Schlichtheit und Naivität, traulich einfacher Herz¬
lichkeit, muntern, neckischen Frohsinns, die in neuerer Zeit noch den Balladen
Karl Lvwes und den besten Erfindungen Robert Schumanns ihr Gepräge ge¬
geben haben, dieselben, denen wir in den Dichtungen Gellerts, in den Holz¬
schnitten Ludwig Richters begegnen. Aber in der Liste dieser sächsischen Lieder¬
komponisten kommen nur wenig Namen von weithin bekannten reifen Musikern
vor: Christoph Bernhard etwa, der in der Hamburger Schule mithalf, und
Johann Adam Krieger, der Dresdner Hoforganist, der als der erste Meister
die neue Gattung zur Reife brachte. In der Hauptsache ist das deutsche Lied
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ein Werk der Jugend, ins¬
besondre der akademischen Jugend. Heinrich Albert aus Lobenstein, der im
Kreise Simon Dachs die ersten Lieder neuen Stils setzte, kam nach Königs¬
berg von der Leipziger Universität, und Sperontes, der hundert Jahre nach
ihm mit seiner „Singenden Muse an der Pleiße" das Lied aus langem, todes¬
artigem Schlafe wieder erweckte, war Leipziger Student.

Es bestand in früherer Zeit, und zum Vorteil beider Teile, zwischen
höherer wissenschaftlicher Bildung und musikalischer Kunst ein engerer Bund
als heute, wie in Deutschland so auch in Frankreich und Italien. In unsern
protestantischen Ländern führte der Brauch, die Schulkcmtorate und alle wich¬
tigern musikalischen Ämter, die größern Organistenstellen eingeschlossen, wo¬
möglich mit studirten Leuten zu besetzen, der Studentenschaft musikalische Ta¬
lente und musikalische Interessen reichlich zu. In Leipzig, der Hnuptuniversitüt
des alten Kantvrei-Landes, kam dieses musikalische Element auch zu einer ge¬
wissen offiziellen Geltung. Keine zweite Universität legte bei den zahlreichen
akademischen Feierlichkeiten ein gleiches Gewicht auf musikalische Ausstattung
wie Leipzig. Die Ehren- und Prvmotionskcmtaten der Leipziger Universität
bilden uoch 1761 im Breitkopfischen Katalog einen besondern Verlagsartikel,
und ihre Festprogramme bieten ganz eigne Dinge. Lange vor dem Noussean-
Bendaschen Melodram z. B. finden wir lateinische Reden unter feierlicher
Instrumentalbegleitung gehalten. Da war es denn nicht zufällig, daß die


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[0034] Sachsen in der Musikgeschichte Hunderts. Sein Vorbild, die Monodie der Italiener, entfremdete sich bald dem Hausgesang und ging in die Kantate auf. Auch die Franzosen haben kein Lied, sie haben nicht einmal eine Übersetzung für das Wort. Daß unser deutsches Lied so tiefe Wurzeln im Volksgemüte schlug, daß es in schwerer Zeit der Dichtkunst Stütze und Rettung bieten konnte, verdankt es sächsischen Tonsetzern, die seine musikalischen Elemente aus volkstümlichen Quellen, ans Choral und Tanz entnahmen. Mit Ausnahme des Hamburger Frank sind alle die Musiker, die sich in der Geschichte des Liedes bis zu Hiller hin und bis zum Auftreten der Berliner Schule ausgezeichnet haben, Sachsen. Nament¬ lich die Ausbildung des weltlichen Lieds gehört ihnen allein, und es ist nicht schwer, in seiner Physiognomie die besondern sächsischen Züge herauszusinden. Es sind dieselben Züge der Schlichtheit und Naivität, traulich einfacher Herz¬ lichkeit, muntern, neckischen Frohsinns, die in neuerer Zeit noch den Balladen Karl Lvwes und den besten Erfindungen Robert Schumanns ihr Gepräge ge¬ geben haben, dieselben, denen wir in den Dichtungen Gellerts, in den Holz¬ schnitten Ludwig Richters begegnen. Aber in der Liste dieser sächsischen Lieder¬ komponisten kommen nur wenig Namen von weithin bekannten reifen Musikern vor: Christoph Bernhard etwa, der in der Hamburger Schule mithalf, und Johann Adam Krieger, der Dresdner Hoforganist, der als der erste Meister die neue Gattung zur Reife brachte. In der Hauptsache ist das deutsche Lied des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ein Werk der Jugend, ins¬ besondre der akademischen Jugend. Heinrich Albert aus Lobenstein, der im Kreise Simon Dachs die ersten Lieder neuen Stils setzte, kam nach Königs¬ berg von der Leipziger Universität, und Sperontes, der hundert Jahre nach ihm mit seiner „Singenden Muse an der Pleiße" das Lied aus langem, todes¬ artigem Schlafe wieder erweckte, war Leipziger Student. Es bestand in früherer Zeit, und zum Vorteil beider Teile, zwischen höherer wissenschaftlicher Bildung und musikalischer Kunst ein engerer Bund als heute, wie in Deutschland so auch in Frankreich und Italien. In unsern protestantischen Ländern führte der Brauch, die Schulkcmtorate und alle wich¬ tigern musikalischen Ämter, die größern Organistenstellen eingeschlossen, wo¬ möglich mit studirten Leuten zu besetzen, der Studentenschaft musikalische Ta¬ lente und musikalische Interessen reichlich zu. In Leipzig, der Hnuptuniversitüt des alten Kantvrei-Landes, kam dieses musikalische Element auch zu einer ge¬ wissen offiziellen Geltung. Keine zweite Universität legte bei den zahlreichen akademischen Feierlichkeiten ein gleiches Gewicht auf musikalische Ausstattung wie Leipzig. Die Ehren- und Prvmotionskcmtaten der Leipziger Universität bilden uoch 1761 im Breitkopfischen Katalog einen besondern Verlagsartikel, und ihre Festprogramme bieten ganz eigne Dinge. Lange vor dem Noussean- Bendaschen Melodram z. B. finden wir lateinische Reden unter feierlicher Instrumentalbegleitung gehalten. Da war es denn nicht zufällig, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/34>, abgerufen am 24.07.2024.