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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

diese Choralbearbeitung gesund und einfach, in der Wirkung ein merkwürdiges
Beispiel sür die Verschmelzung volkstümlicher und höherer Kunst. Kaum hätte
sie sich in einem andern protestantischen Lande so entwickeln können wie in
Sachsen. Denn nur hier war das Kirchenliede mit dem Volkslied, dem alten
Bergreihen so eng verwachsen, nur hier in demselben Grade zu einem Stück
Heimat, zu einem Denkmal ruhmreicher Zeit geworden, an dem Reich und
Arm, Gelehrt und Umgekehrt mit gleicher Liebe hingen, und das, wie Händel
zeigt, in keiner Fremde vergessen wurde.

Die Kunst der Choralbearbeitung gab den sächsischen Komponisten ihr
Selbstbewußtsein, ihren Eifer und ihre rätselhafte Fruchtbarkeit. Die fünf
Jahrgänge Bachscher Kirchenkantaten sind keine Ansnahmerscheinung, sondern
ein Durchschnittspensum, dem die sächsischen Kantoren, große und kleine, bis
auf Homilius und Tag, also bis in unser Jahrhundert herein, in der Mehr¬
zahl gerecht zu werden pflegten.

Mit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts tritt die sächsische Musik
aus dem Zeichen der Reformation heraus und mit der ganzen deutschen Musik
unter das der Renaissance. Die Italiener hatten endlich auch ihre Tonkunst
mit dem Maß der Antike gemessen und waren dabei zu einer vermeintlich ganz
neuen Musik gekommen. Sie nannten sie wenigstens stolz eine vuovs inasieds.
Ihr formelles Hauptelement lag in der Einführung des begleiteten Solo¬
gesangs, ihr geistiges Ziel in der größern Freiheit und Anschaulichkeit des
Ausdrucks. Zu diesen Vorlagen mußte die deutsche Musik Stellung nehmen,
und das gelang ihr verhältnismäßig schnell dank der Führung der Sachsen,
die jetzt ihre schöpferische Kraft im Vermitteln und Unbilden glänzend be¬
währten. Zuerst in der Kirchenmusik. In ihr gewannen wir den Italienern
sofort einen bedeutenden Vorsprung ab. Während die ihrige, trotz Carisstmis
Einschreiten, an dem Gegensatz zwischen alter und neuer Kunst dahinsiechte,
und die weltliche Musik schließlich mit ins Verderben zog, bewies Schütz, der
mit dem Thüringer Prätorius und dem Zittauer Andreas Hcnnmerschmidt das
"geistliche Konzert" ins Leben rief, daß sich der alte Kontrapunkt und der
neue Solostil sehr gut mit einander vertrugen. Um was für eine Art er¬
habenster von den Italienern nnr in den Werken Monteverdis erreichter Kunst
es sich bei diesem geistlichen Konzert Schützers handelt, weiß jeder, der davon
nur Stücke wie "Sauls Vision" und "Davids Klage um Absalon" kennt.

Das Glanzstück der italienischen Musikrevolution war jedoch die Einfüh¬
rung der Oper. Diese ließ sich allerdings dem deutschen Kunstleben nicht so
leicht einfügen. Immerhin wurde in Sachsen sofort ein Versuch gemacht.
Schütz schrieb schon im Jahre 1627, also zu einer Zeit, wo selbst Venedig,
Rom und Neapel noch keine Opernbühnen hatten, für eine Torgauer Hoffest¬
lichkeit eine deutsche Oper. Der Versuch scheiterte nicht bloß an der Not des
dreißigjährigen Kriegs. Wir hatten keine Sänger wie die Italiener, wir hatten


Sachsen in der Musikgeschichte

diese Choralbearbeitung gesund und einfach, in der Wirkung ein merkwürdiges
Beispiel sür die Verschmelzung volkstümlicher und höherer Kunst. Kaum hätte
sie sich in einem andern protestantischen Lande so entwickeln können wie in
Sachsen. Denn nur hier war das Kirchenliede mit dem Volkslied, dem alten
Bergreihen so eng verwachsen, nur hier in demselben Grade zu einem Stück
Heimat, zu einem Denkmal ruhmreicher Zeit geworden, an dem Reich und
Arm, Gelehrt und Umgekehrt mit gleicher Liebe hingen, und das, wie Händel
zeigt, in keiner Fremde vergessen wurde.

Die Kunst der Choralbearbeitung gab den sächsischen Komponisten ihr
Selbstbewußtsein, ihren Eifer und ihre rätselhafte Fruchtbarkeit. Die fünf
Jahrgänge Bachscher Kirchenkantaten sind keine Ansnahmerscheinung, sondern
ein Durchschnittspensum, dem die sächsischen Kantoren, große und kleine, bis
auf Homilius und Tag, also bis in unser Jahrhundert herein, in der Mehr¬
zahl gerecht zu werden pflegten.

Mit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts tritt die sächsische Musik
aus dem Zeichen der Reformation heraus und mit der ganzen deutschen Musik
unter das der Renaissance. Die Italiener hatten endlich auch ihre Tonkunst
mit dem Maß der Antike gemessen und waren dabei zu einer vermeintlich ganz
neuen Musik gekommen. Sie nannten sie wenigstens stolz eine vuovs inasieds.
Ihr formelles Hauptelement lag in der Einführung des begleiteten Solo¬
gesangs, ihr geistiges Ziel in der größern Freiheit und Anschaulichkeit des
Ausdrucks. Zu diesen Vorlagen mußte die deutsche Musik Stellung nehmen,
und das gelang ihr verhältnismäßig schnell dank der Führung der Sachsen,
die jetzt ihre schöpferische Kraft im Vermitteln und Unbilden glänzend be¬
währten. Zuerst in der Kirchenmusik. In ihr gewannen wir den Italienern
sofort einen bedeutenden Vorsprung ab. Während die ihrige, trotz Carisstmis
Einschreiten, an dem Gegensatz zwischen alter und neuer Kunst dahinsiechte,
und die weltliche Musik schließlich mit ins Verderben zog, bewies Schütz, der
mit dem Thüringer Prätorius und dem Zittauer Andreas Hcnnmerschmidt das
„geistliche Konzert" ins Leben rief, daß sich der alte Kontrapunkt und der
neue Solostil sehr gut mit einander vertrugen. Um was für eine Art er¬
habenster von den Italienern nnr in den Werken Monteverdis erreichter Kunst
es sich bei diesem geistlichen Konzert Schützers handelt, weiß jeder, der davon
nur Stücke wie „Sauls Vision" und „Davids Klage um Absalon" kennt.

Das Glanzstück der italienischen Musikrevolution war jedoch die Einfüh¬
rung der Oper. Diese ließ sich allerdings dem deutschen Kunstleben nicht so
leicht einfügen. Immerhin wurde in Sachsen sofort ein Versuch gemacht.
Schütz schrieb schon im Jahre 1627, also zu einer Zeit, wo selbst Venedig,
Rom und Neapel noch keine Opernbühnen hatten, für eine Torgauer Hoffest¬
lichkeit eine deutsche Oper. Der Versuch scheiterte nicht bloß an der Not des
dreißigjährigen Kriegs. Wir hatten keine Sänger wie die Italiener, wir hatten


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[0032] Sachsen in der Musikgeschichte diese Choralbearbeitung gesund und einfach, in der Wirkung ein merkwürdiges Beispiel sür die Verschmelzung volkstümlicher und höherer Kunst. Kaum hätte sie sich in einem andern protestantischen Lande so entwickeln können wie in Sachsen. Denn nur hier war das Kirchenliede mit dem Volkslied, dem alten Bergreihen so eng verwachsen, nur hier in demselben Grade zu einem Stück Heimat, zu einem Denkmal ruhmreicher Zeit geworden, an dem Reich und Arm, Gelehrt und Umgekehrt mit gleicher Liebe hingen, und das, wie Händel zeigt, in keiner Fremde vergessen wurde. Die Kunst der Choralbearbeitung gab den sächsischen Komponisten ihr Selbstbewußtsein, ihren Eifer und ihre rätselhafte Fruchtbarkeit. Die fünf Jahrgänge Bachscher Kirchenkantaten sind keine Ansnahmerscheinung, sondern ein Durchschnittspensum, dem die sächsischen Kantoren, große und kleine, bis auf Homilius und Tag, also bis in unser Jahrhundert herein, in der Mehr¬ zahl gerecht zu werden pflegten. Mit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts tritt die sächsische Musik aus dem Zeichen der Reformation heraus und mit der ganzen deutschen Musik unter das der Renaissance. Die Italiener hatten endlich auch ihre Tonkunst mit dem Maß der Antike gemessen und waren dabei zu einer vermeintlich ganz neuen Musik gekommen. Sie nannten sie wenigstens stolz eine vuovs inasieds. Ihr formelles Hauptelement lag in der Einführung des begleiteten Solo¬ gesangs, ihr geistiges Ziel in der größern Freiheit und Anschaulichkeit des Ausdrucks. Zu diesen Vorlagen mußte die deutsche Musik Stellung nehmen, und das gelang ihr verhältnismäßig schnell dank der Führung der Sachsen, die jetzt ihre schöpferische Kraft im Vermitteln und Unbilden glänzend be¬ währten. Zuerst in der Kirchenmusik. In ihr gewannen wir den Italienern sofort einen bedeutenden Vorsprung ab. Während die ihrige, trotz Carisstmis Einschreiten, an dem Gegensatz zwischen alter und neuer Kunst dahinsiechte, und die weltliche Musik schließlich mit ins Verderben zog, bewies Schütz, der mit dem Thüringer Prätorius und dem Zittauer Andreas Hcnnmerschmidt das „geistliche Konzert" ins Leben rief, daß sich der alte Kontrapunkt und der neue Solostil sehr gut mit einander vertrugen. Um was für eine Art er¬ habenster von den Italienern nnr in den Werken Monteverdis erreichter Kunst es sich bei diesem geistlichen Konzert Schützers handelt, weiß jeder, der davon nur Stücke wie „Sauls Vision" und „Davids Klage um Absalon" kennt. Das Glanzstück der italienischen Musikrevolution war jedoch die Einfüh¬ rung der Oper. Diese ließ sich allerdings dem deutschen Kunstleben nicht so leicht einfügen. Immerhin wurde in Sachsen sofort ein Versuch gemacht. Schütz schrieb schon im Jahre 1627, also zu einer Zeit, wo selbst Venedig, Rom und Neapel noch keine Opernbühnen hatten, für eine Torgauer Hoffest¬ lichkeit eine deutsche Oper. Der Versuch scheiterte nicht bloß an der Not des dreißigjährigen Kriegs. Wir hatten keine Sänger wie die Italiener, wir hatten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/32>, abgerufen am 04.07.2024.