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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

lizismus musikalisch weit überholen und schlagen. Die Erbauung aus den
Meisterwerken der Rüster sacra, die auf der römischen Seite nur einer Minder¬
heit zu teil wurde, sollte ein Gemeingut aller evangelischen Christen werden,
der Figuralgesang sollte in jeder Kirche so bestimmt zu finden sein, wie Altar¬
gerät und Glockengeläute. Denn auch in sächsischen Dörfern gab es Kan¬
toreien.

Dieser kühne, jedenfalls in Luthers Geiste gedachte Plan ist niemals
vollständig ausgeführt worden. Der Norden versagte von vornherein oder
hörte bald wieder auf. Heute versteht in Hannover, Mecklenburg, Pommern,
der Mark kaum jemand den Namen der Kantoreien. Besser gediehen sie im
Thüringischen, im Anhaltischen, in Reichsstädten wie Memmingen, Augsburg,
Nürnberg. In Sachsen müssen sie ihrem Ziele jedenfalls sehr nahe gekommen
sein. Archivverzeichnisfe, die noch zahlreich erhalten find, und die Musikreste
alter Kirchenbibliotheken zeigen uus, wie während des sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhunderts die niederländischen Meister des a Laxxslla-Stils in ganz
Sachsen verbreitet waren. Orlando ti Lasso, um den heute selbst die großen
Chvrinstitute scheu herumgehen, fehlte in keiner Kantorei. Palestrina, der
auch in den Hofkapellcn ziemlich fremd blieb, kommt nirgends vor. Erst mit
den beiden Gabrielis und dem Hervortreten der Venezianischen Schule rücken
die Italiener in die sächsischen Kirchen ein. Aber mit den ersten Schritten
der sächsischen Kantoreien wird auch die deutsche Komposition mobil. Sie,
die -- bis zu Luthers Tode den bildenden Künsten nichts weniger als eben¬
bürtig -- nur in Jsaak und Senfsl allgemein bekannte Namen hatte, stellt
Vertreter um Vertreter. Jakob Gallus, der so anheimelnd den deutschen Liederton
in seine Kirchenmusik zu mischen weiß, ist sofort der allgemeine Liebling der
sächsischen Kantoreien. Noch vor dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts sind
wir in Passion und Motette vom Ausland unabhängig und werden es schnell
auch auf andern Gebieten. Als das weltliche Chorlicd zuerst in Deutschland
bekannt wurde, kauften die sächsischen Kantoreien die Madrigale des Engländers
Mortes. Das zweite Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts war noch nicht
vorüber, da hatten wir in dem Leipziger Hermann Schein und in dem eben¬
falls in sächsischen Diensten stehenden Hans Leo Haßler klassische Vertreter
dieses Kunstzweigs im eignen Lande. Und mehr noch: auf sächsischem Boden
entwickelte sich jetzt ein ganz neuer musikalischer Kunstzweig von ausgeprägt
protestantischen Charakter: die Choralbearbeitung. Diese Kunst beginnt noch
vor Johannes Eccard bei sächsischen Kantoren, wie dem Zwickauer Cornelius
Freund. Sie übertrugen zuerst die Choralmelodien in den imitirenden Mo¬
tettenstil. Dann kommen die Organisten der Scheidtschen Schule mit den poe¬
tischen Variationen der Liederverse, denen die Gemeinden, still im Gesangbuch
nachlesend, verständnisvoll lauschten. Und wie sie auch weiter geht bis zu
den großartigen Formen der Bachschen Kantaten und Passionen, immer bleibt


Sachsen in der Musikgeschichte

lizismus musikalisch weit überholen und schlagen. Die Erbauung aus den
Meisterwerken der Rüster sacra, die auf der römischen Seite nur einer Minder¬
heit zu teil wurde, sollte ein Gemeingut aller evangelischen Christen werden,
der Figuralgesang sollte in jeder Kirche so bestimmt zu finden sein, wie Altar¬
gerät und Glockengeläute. Denn auch in sächsischen Dörfern gab es Kan¬
toreien.

Dieser kühne, jedenfalls in Luthers Geiste gedachte Plan ist niemals
vollständig ausgeführt worden. Der Norden versagte von vornherein oder
hörte bald wieder auf. Heute versteht in Hannover, Mecklenburg, Pommern,
der Mark kaum jemand den Namen der Kantoreien. Besser gediehen sie im
Thüringischen, im Anhaltischen, in Reichsstädten wie Memmingen, Augsburg,
Nürnberg. In Sachsen müssen sie ihrem Ziele jedenfalls sehr nahe gekommen
sein. Archivverzeichnisfe, die noch zahlreich erhalten find, und die Musikreste
alter Kirchenbibliotheken zeigen uus, wie während des sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhunderts die niederländischen Meister des a Laxxslla-Stils in ganz
Sachsen verbreitet waren. Orlando ti Lasso, um den heute selbst die großen
Chvrinstitute scheu herumgehen, fehlte in keiner Kantorei. Palestrina, der
auch in den Hofkapellcn ziemlich fremd blieb, kommt nirgends vor. Erst mit
den beiden Gabrielis und dem Hervortreten der Venezianischen Schule rücken
die Italiener in die sächsischen Kirchen ein. Aber mit den ersten Schritten
der sächsischen Kantoreien wird auch die deutsche Komposition mobil. Sie,
die — bis zu Luthers Tode den bildenden Künsten nichts weniger als eben¬
bürtig — nur in Jsaak und Senfsl allgemein bekannte Namen hatte, stellt
Vertreter um Vertreter. Jakob Gallus, der so anheimelnd den deutschen Liederton
in seine Kirchenmusik zu mischen weiß, ist sofort der allgemeine Liebling der
sächsischen Kantoreien. Noch vor dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts sind
wir in Passion und Motette vom Ausland unabhängig und werden es schnell
auch auf andern Gebieten. Als das weltliche Chorlicd zuerst in Deutschland
bekannt wurde, kauften die sächsischen Kantoreien die Madrigale des Engländers
Mortes. Das zweite Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts war noch nicht
vorüber, da hatten wir in dem Leipziger Hermann Schein und in dem eben¬
falls in sächsischen Diensten stehenden Hans Leo Haßler klassische Vertreter
dieses Kunstzweigs im eignen Lande. Und mehr noch: auf sächsischem Boden
entwickelte sich jetzt ein ganz neuer musikalischer Kunstzweig von ausgeprägt
protestantischen Charakter: die Choralbearbeitung. Diese Kunst beginnt noch
vor Johannes Eccard bei sächsischen Kantoren, wie dem Zwickauer Cornelius
Freund. Sie übertrugen zuerst die Choralmelodien in den imitirenden Mo¬
tettenstil. Dann kommen die Organisten der Scheidtschen Schule mit den poe¬
tischen Variationen der Liederverse, denen die Gemeinden, still im Gesangbuch
nachlesend, verständnisvoll lauschten. Und wie sie auch weiter geht bis zu
den großartigen Formen der Bachschen Kantaten und Passionen, immer bleibt


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[0031] Sachsen in der Musikgeschichte lizismus musikalisch weit überholen und schlagen. Die Erbauung aus den Meisterwerken der Rüster sacra, die auf der römischen Seite nur einer Minder¬ heit zu teil wurde, sollte ein Gemeingut aller evangelischen Christen werden, der Figuralgesang sollte in jeder Kirche so bestimmt zu finden sein, wie Altar¬ gerät und Glockengeläute. Denn auch in sächsischen Dörfern gab es Kan¬ toreien. Dieser kühne, jedenfalls in Luthers Geiste gedachte Plan ist niemals vollständig ausgeführt worden. Der Norden versagte von vornherein oder hörte bald wieder auf. Heute versteht in Hannover, Mecklenburg, Pommern, der Mark kaum jemand den Namen der Kantoreien. Besser gediehen sie im Thüringischen, im Anhaltischen, in Reichsstädten wie Memmingen, Augsburg, Nürnberg. In Sachsen müssen sie ihrem Ziele jedenfalls sehr nahe gekommen sein. Archivverzeichnisfe, die noch zahlreich erhalten find, und die Musikreste alter Kirchenbibliotheken zeigen uus, wie während des sechzehnten und sieb¬ zehnten Jahrhunderts die niederländischen Meister des a Laxxslla-Stils in ganz Sachsen verbreitet waren. Orlando ti Lasso, um den heute selbst die großen Chvrinstitute scheu herumgehen, fehlte in keiner Kantorei. Palestrina, der auch in den Hofkapellcn ziemlich fremd blieb, kommt nirgends vor. Erst mit den beiden Gabrielis und dem Hervortreten der Venezianischen Schule rücken die Italiener in die sächsischen Kirchen ein. Aber mit den ersten Schritten der sächsischen Kantoreien wird auch die deutsche Komposition mobil. Sie, die — bis zu Luthers Tode den bildenden Künsten nichts weniger als eben¬ bürtig — nur in Jsaak und Senfsl allgemein bekannte Namen hatte, stellt Vertreter um Vertreter. Jakob Gallus, der so anheimelnd den deutschen Liederton in seine Kirchenmusik zu mischen weiß, ist sofort der allgemeine Liebling der sächsischen Kantoreien. Noch vor dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts sind wir in Passion und Motette vom Ausland unabhängig und werden es schnell auch auf andern Gebieten. Als das weltliche Chorlicd zuerst in Deutschland bekannt wurde, kauften die sächsischen Kantoreien die Madrigale des Engländers Mortes. Das zweite Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts war noch nicht vorüber, da hatten wir in dem Leipziger Hermann Schein und in dem eben¬ falls in sächsischen Diensten stehenden Hans Leo Haßler klassische Vertreter dieses Kunstzweigs im eignen Lande. Und mehr noch: auf sächsischem Boden entwickelte sich jetzt ein ganz neuer musikalischer Kunstzweig von ausgeprägt protestantischen Charakter: die Choralbearbeitung. Diese Kunst beginnt noch vor Johannes Eccard bei sächsischen Kantoren, wie dem Zwickauer Cornelius Freund. Sie übertrugen zuerst die Choralmelodien in den imitirenden Mo¬ tettenstil. Dann kommen die Organisten der Scheidtschen Schule mit den poe¬ tischen Variationen der Liederverse, denen die Gemeinden, still im Gesangbuch nachlesend, verständnisvoll lauschten. Und wie sie auch weiter geht bis zu den großartigen Formen der Bachschen Kantaten und Passionen, immer bleibt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/31>, abgerufen am 02.07.2024.