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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

Torgauer Kantorei ins Leben, die unter den Schulkantor gestellt wurde. Zehn
Jahre später erhält Oschatz mit dem aus Torgau anziehenden Superintendenten
Mag. Bucher ein ähnliches Institut, bald darauf Würzen. Noch vor dem
Ende des Jahrhunderts ist Sachsen voll solcher Zivilkantoreien. Sie sind
nicht bloß Musikvereine, sondern Sammelpunkte der besten sozialen Elemente,
Fraternitäten. Dieser soziale Charakter trug wesentlich zu ihrer großen und
schnellen Verbreitung bei. Sie überstanden leidlich den dreißigjährigen Krieg
und blühten nach seiner Beendigung von frischen! auf. Erst der Rationalismus,
der Verfall des a <ZÄxxs11g,-Stils brachten sie ins Wanken; einzelne haben noch
bis in die Mitte unsers Jahrhunderts bestanden. Heute erinnern wohl nur
noch Kantoreischmäuse und Sterbelassen unmittelbar an das ehemals so wichtige
Institut.

Ob sie, wie die Tradition sagt, der einzelne Biographen ohne weiteres
folgen, eine Schöpfung Luthers sind, läßt sich allem Anschein nach nicht akten¬
mäßig belegen. Die Statuten, die sich die einzelnen Kantoreigesellschaften in der
Regel erst uach jahrzehntelanger Wirksamkeit gaben, gehen alle auf die der Tor¬
gauer Kantorei zurück. Ju alleu lesen wir von der Lade ,vom "Willkumm," dem
bekannten Humpen, und von allerhand andern Anklängen an das Zunftwesen, in
allen von riesigen Kvnvivien, von der Erlaubnis zu einem "christlichen Tänzlein"
und vom Verbot des Spiels. Überall hören wir von Erlaß der Tranksteuer
durch den Landesherrn, von mannichfachen Zeichen des Wohlwollens von feiten
der Kirchen- und Ortsbehörde sowie vermögender Privatpersonen in Form
von Geld- und Naturalzuschüssen. Hier wird der Kantorei ein Fischereirecht
gewährt, dort nehmen ihre Mitglieder mit Uniform und Hirschfänger an den
Hofjagden teil. Überall aber dienten die Kantoreien ihrem Hauptzweck, dem
musikalischen, in einer Weise, hinter der alles, was die neuere Zeit an künst¬
lerischer Verwertung des Laientums erreicht und versucht hat, weit zurückbleibt.

Die feste Grundlage, auf der die Kantoreien standen, war der Gesang¬
unterricht in den Schulen, für den Melanchthons Lehrplan ausreichend gesorgt
hatte. Aus den Schulen kamen die Kurrendaner, der Knabenchor der Kan¬
toreien, aus den ehemaligen Kurrendanern die Adjuvanten, die mit der Lehrer¬
schaft die Männerstimmen besetzten. Nur der Eintritt in die Kantorei war
freiwillig, die Beteiligung am Dienste keineswegs, und dieser Dienst bei be¬
scheidnen Einnahmen bedeutend genug: jeden Sonntag zwei Motetten, ebenso
an den Sonnabenden und sonstigen Vespern. An achtzehn Tagen des Jahres
-- die hohen Feste eingeschlossen -- aber schwieg der Gemeindegesang, und
die Kantorei hatte den ganzen Gottesdienst vor- und nachmittags mit Figural¬
gesang zu bestreuen!

Erst aus diesen Kantoreibestimmungen ergiebt sich das wahre und voll-
stündige Bild der sächsischen Liturgie im sechzehnten Jahrhundert und die Rolle,
die den Kantoreien darin zugewiesen war. Diese Institute sollten den Katho-


Sachsen in der Musikgeschichte

Torgauer Kantorei ins Leben, die unter den Schulkantor gestellt wurde. Zehn
Jahre später erhält Oschatz mit dem aus Torgau anziehenden Superintendenten
Mag. Bucher ein ähnliches Institut, bald darauf Würzen. Noch vor dem
Ende des Jahrhunderts ist Sachsen voll solcher Zivilkantoreien. Sie sind
nicht bloß Musikvereine, sondern Sammelpunkte der besten sozialen Elemente,
Fraternitäten. Dieser soziale Charakter trug wesentlich zu ihrer großen und
schnellen Verbreitung bei. Sie überstanden leidlich den dreißigjährigen Krieg
und blühten nach seiner Beendigung von frischen! auf. Erst der Rationalismus,
der Verfall des a <ZÄxxs11g,-Stils brachten sie ins Wanken; einzelne haben noch
bis in die Mitte unsers Jahrhunderts bestanden. Heute erinnern wohl nur
noch Kantoreischmäuse und Sterbelassen unmittelbar an das ehemals so wichtige
Institut.

Ob sie, wie die Tradition sagt, der einzelne Biographen ohne weiteres
folgen, eine Schöpfung Luthers sind, läßt sich allem Anschein nach nicht akten¬
mäßig belegen. Die Statuten, die sich die einzelnen Kantoreigesellschaften in der
Regel erst uach jahrzehntelanger Wirksamkeit gaben, gehen alle auf die der Tor¬
gauer Kantorei zurück. Ju alleu lesen wir von der Lade ,vom „Willkumm," dem
bekannten Humpen, und von allerhand andern Anklängen an das Zunftwesen, in
allen von riesigen Kvnvivien, von der Erlaubnis zu einem „christlichen Tänzlein"
und vom Verbot des Spiels. Überall hören wir von Erlaß der Tranksteuer
durch den Landesherrn, von mannichfachen Zeichen des Wohlwollens von feiten
der Kirchen- und Ortsbehörde sowie vermögender Privatpersonen in Form
von Geld- und Naturalzuschüssen. Hier wird der Kantorei ein Fischereirecht
gewährt, dort nehmen ihre Mitglieder mit Uniform und Hirschfänger an den
Hofjagden teil. Überall aber dienten die Kantoreien ihrem Hauptzweck, dem
musikalischen, in einer Weise, hinter der alles, was die neuere Zeit an künst¬
lerischer Verwertung des Laientums erreicht und versucht hat, weit zurückbleibt.

Die feste Grundlage, auf der die Kantoreien standen, war der Gesang¬
unterricht in den Schulen, für den Melanchthons Lehrplan ausreichend gesorgt
hatte. Aus den Schulen kamen die Kurrendaner, der Knabenchor der Kan¬
toreien, aus den ehemaligen Kurrendanern die Adjuvanten, die mit der Lehrer¬
schaft die Männerstimmen besetzten. Nur der Eintritt in die Kantorei war
freiwillig, die Beteiligung am Dienste keineswegs, und dieser Dienst bei be¬
scheidnen Einnahmen bedeutend genug: jeden Sonntag zwei Motetten, ebenso
an den Sonnabenden und sonstigen Vespern. An achtzehn Tagen des Jahres
— die hohen Feste eingeschlossen — aber schwieg der Gemeindegesang, und
die Kantorei hatte den ganzen Gottesdienst vor- und nachmittags mit Figural¬
gesang zu bestreuen!

Erst aus diesen Kantoreibestimmungen ergiebt sich das wahre und voll-
stündige Bild der sächsischen Liturgie im sechzehnten Jahrhundert und die Rolle,
die den Kantoreien darin zugewiesen war. Diese Institute sollten den Katho-


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[0030] Sachsen in der Musikgeschichte Torgauer Kantorei ins Leben, die unter den Schulkantor gestellt wurde. Zehn Jahre später erhält Oschatz mit dem aus Torgau anziehenden Superintendenten Mag. Bucher ein ähnliches Institut, bald darauf Würzen. Noch vor dem Ende des Jahrhunderts ist Sachsen voll solcher Zivilkantoreien. Sie sind nicht bloß Musikvereine, sondern Sammelpunkte der besten sozialen Elemente, Fraternitäten. Dieser soziale Charakter trug wesentlich zu ihrer großen und schnellen Verbreitung bei. Sie überstanden leidlich den dreißigjährigen Krieg und blühten nach seiner Beendigung von frischen! auf. Erst der Rationalismus, der Verfall des a <ZÄxxs11g,-Stils brachten sie ins Wanken; einzelne haben noch bis in die Mitte unsers Jahrhunderts bestanden. Heute erinnern wohl nur noch Kantoreischmäuse und Sterbelassen unmittelbar an das ehemals so wichtige Institut. Ob sie, wie die Tradition sagt, der einzelne Biographen ohne weiteres folgen, eine Schöpfung Luthers sind, läßt sich allem Anschein nach nicht akten¬ mäßig belegen. Die Statuten, die sich die einzelnen Kantoreigesellschaften in der Regel erst uach jahrzehntelanger Wirksamkeit gaben, gehen alle auf die der Tor¬ gauer Kantorei zurück. Ju alleu lesen wir von der Lade ,vom „Willkumm," dem bekannten Humpen, und von allerhand andern Anklängen an das Zunftwesen, in allen von riesigen Kvnvivien, von der Erlaubnis zu einem „christlichen Tänzlein" und vom Verbot des Spiels. Überall hören wir von Erlaß der Tranksteuer durch den Landesherrn, von mannichfachen Zeichen des Wohlwollens von feiten der Kirchen- und Ortsbehörde sowie vermögender Privatpersonen in Form von Geld- und Naturalzuschüssen. Hier wird der Kantorei ein Fischereirecht gewährt, dort nehmen ihre Mitglieder mit Uniform und Hirschfänger an den Hofjagden teil. Überall aber dienten die Kantoreien ihrem Hauptzweck, dem musikalischen, in einer Weise, hinter der alles, was die neuere Zeit an künst¬ lerischer Verwertung des Laientums erreicht und versucht hat, weit zurückbleibt. Die feste Grundlage, auf der die Kantoreien standen, war der Gesang¬ unterricht in den Schulen, für den Melanchthons Lehrplan ausreichend gesorgt hatte. Aus den Schulen kamen die Kurrendaner, der Knabenchor der Kan¬ toreien, aus den ehemaligen Kurrendanern die Adjuvanten, die mit der Lehrer¬ schaft die Männerstimmen besetzten. Nur der Eintritt in die Kantorei war freiwillig, die Beteiligung am Dienste keineswegs, und dieser Dienst bei be¬ scheidnen Einnahmen bedeutend genug: jeden Sonntag zwei Motetten, ebenso an den Sonnabenden und sonstigen Vespern. An achtzehn Tagen des Jahres — die hohen Feste eingeschlossen — aber schwieg der Gemeindegesang, und die Kantorei hatte den ganzen Gottesdienst vor- und nachmittags mit Figural¬ gesang zu bestreuen! Erst aus diesen Kantoreibestimmungen ergiebt sich das wahre und voll- stündige Bild der sächsischen Liturgie im sechzehnten Jahrhundert und die Rolle, die den Kantoreien darin zugewiesen war. Diese Institute sollten den Katho-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/30>, abgerufen am 30.06.2024.