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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

lagen der Tonkunst studiren, die Notenschrift entwickeln, die Mehrstimmigkeit
einführen, ist kein Sachse.

Erst die Reformation hat Sachsen musikalisch bedeutend gemacht, mit
einemmal an die Spitze der deutschen Musik gestellt. Und ein dieser Stelle
hat es sich fast zwei Jahrhunderte hindurch in kritischen Zeiten, höchst schwie¬
rigen Aufgaben gegenüber, durch die Kraft und den Geist und auf Grund der
Kunstanschauungeu, die es der Reformationszeit verdankte, behauptet.

Die erste musikalische Frucht der Reformation war bekanntlich der Choral.
Es ist etwas großes um die Entstehung und Einführung unsers evan¬
gelischen Kirchenlieds, etwas wunderbares, wie Laien zu Dichtern und Ton¬
setzern werden, wie ein Stück einfachster Kunst die Herzen von Hoch und Niedrig
eint und entflammt, die Begeisterung für die gereinigte Glaubenslehre trägt
und steigert, zum Herold einer neuen Zeit wird. Der Macht des Chorals
hatten sich auch die Katholiken zu beugen. Ohne Luther kein Palestrina. Und
doch dürfen wir die Bedeutung, die der Choral allein und zunächst für die
musikalische Entwicklung Sachsens gehabt hat, nicht überschätzen. Georg Rietschel
hat kürzlich darauf hingewiesen, wie sehr anfangs und lange noch der Choral¬
gesang in der protestantischen Liturgie zurücktritt. Wir haben mehr als ein
Zeugnis dafür, daß die eigentlichen Fachmusiker, die berufnen Vertreter der
kirchlichen Tonkunst, die Kantoren, den Choral von sich ab an die Kirchner, an
die Unterlehrer, an die Schülerpräfekten wiesen. Zu dieser einen Thatsache
tritt die andre, daß die übrigen evangelischen Länder, obwohl sie auch den
Choral hatten, doch nicht im entferntesten mit Sachsen in der Musik Schritt
zu halten vermochten. Daß dieses allein so weit vorauskam, war die Folge
einer besondern, einer weisen Organisation seiner musikalischen Kräfte. Auch
bei den Völkern ist der wichtigste Teil künstlerischen Talents: Fleiß und Me¬
thode. Die Schweiz, uoch vor siebzig Jahren als unmusikalisches Land be¬
rüchtigt, ist lediglich durch Nägelis Regelung des Gesangunterrichts in den
Schulen und durch die Ordnung des darauf gebauten Vereinswesens das ge¬
worden, als was sie heute in der Musik gilt. Sachsen verdankt den musikalischen
Aufschwung des sechzehnten Jahrhunderts seinen Kantoreien.

Unter Kantoreien verstand man bis zur Reformationszeit Sängerchöre
für den Dienst in der Kirche und am Hofe, aus berufsmüßigen Künstlern ge¬
bildet. Mit Ausnahme der reichen Niederlande waren sie auf die großen Re¬
sidenzen und Bischofssitze beschränkt. Auch der Kurfürst von Sachsen unter¬
hielt in Torgau eine solche Kantorei, die unter Friedrich dem Weisen, von
den Reichstagen aus, zu großem Ansetzn gelangte. Sie wurde im Jahre 1529
ausgelöst. Da entschloß sich die Stadt Torgau zu einem eignen Ersatz. Das
Beispiel von Klöstern und Schulen, der Hinblick auf die süddeutschen Meister-
süngergilden, vor allem aber das frische protestantische Vertrauen auf die Laien¬
kraft rief im Jahre 1530 eine neue, aus Schülern und Bürgersleuten gebildete


Sachsen in der Musikgeschichte

lagen der Tonkunst studiren, die Notenschrift entwickeln, die Mehrstimmigkeit
einführen, ist kein Sachse.

Erst die Reformation hat Sachsen musikalisch bedeutend gemacht, mit
einemmal an die Spitze der deutschen Musik gestellt. Und ein dieser Stelle
hat es sich fast zwei Jahrhunderte hindurch in kritischen Zeiten, höchst schwie¬
rigen Aufgaben gegenüber, durch die Kraft und den Geist und auf Grund der
Kunstanschauungeu, die es der Reformationszeit verdankte, behauptet.

Die erste musikalische Frucht der Reformation war bekanntlich der Choral.
Es ist etwas großes um die Entstehung und Einführung unsers evan¬
gelischen Kirchenlieds, etwas wunderbares, wie Laien zu Dichtern und Ton¬
setzern werden, wie ein Stück einfachster Kunst die Herzen von Hoch und Niedrig
eint und entflammt, die Begeisterung für die gereinigte Glaubenslehre trägt
und steigert, zum Herold einer neuen Zeit wird. Der Macht des Chorals
hatten sich auch die Katholiken zu beugen. Ohne Luther kein Palestrina. Und
doch dürfen wir die Bedeutung, die der Choral allein und zunächst für die
musikalische Entwicklung Sachsens gehabt hat, nicht überschätzen. Georg Rietschel
hat kürzlich darauf hingewiesen, wie sehr anfangs und lange noch der Choral¬
gesang in der protestantischen Liturgie zurücktritt. Wir haben mehr als ein
Zeugnis dafür, daß die eigentlichen Fachmusiker, die berufnen Vertreter der
kirchlichen Tonkunst, die Kantoren, den Choral von sich ab an die Kirchner, an
die Unterlehrer, an die Schülerpräfekten wiesen. Zu dieser einen Thatsache
tritt die andre, daß die übrigen evangelischen Länder, obwohl sie auch den
Choral hatten, doch nicht im entferntesten mit Sachsen in der Musik Schritt
zu halten vermochten. Daß dieses allein so weit vorauskam, war die Folge
einer besondern, einer weisen Organisation seiner musikalischen Kräfte. Auch
bei den Völkern ist der wichtigste Teil künstlerischen Talents: Fleiß und Me¬
thode. Die Schweiz, uoch vor siebzig Jahren als unmusikalisches Land be¬
rüchtigt, ist lediglich durch Nägelis Regelung des Gesangunterrichts in den
Schulen und durch die Ordnung des darauf gebauten Vereinswesens das ge¬
worden, als was sie heute in der Musik gilt. Sachsen verdankt den musikalischen
Aufschwung des sechzehnten Jahrhunderts seinen Kantoreien.

Unter Kantoreien verstand man bis zur Reformationszeit Sängerchöre
für den Dienst in der Kirche und am Hofe, aus berufsmüßigen Künstlern ge¬
bildet. Mit Ausnahme der reichen Niederlande waren sie auf die großen Re¬
sidenzen und Bischofssitze beschränkt. Auch der Kurfürst von Sachsen unter¬
hielt in Torgau eine solche Kantorei, die unter Friedrich dem Weisen, von
den Reichstagen aus, zu großem Ansetzn gelangte. Sie wurde im Jahre 1529
ausgelöst. Da entschloß sich die Stadt Torgau zu einem eignen Ersatz. Das
Beispiel von Klöstern und Schulen, der Hinblick auf die süddeutschen Meister-
süngergilden, vor allem aber das frische protestantische Vertrauen auf die Laien¬
kraft rief im Jahre 1530 eine neue, aus Schülern und Bürgersleuten gebildete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/29>, abgerufen am 27.06.2024.