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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

"Fidelio" jedermann vor Augen liegen -- wo ist die Schule, die dergleichen
Themata gestellt hätte! Nur die musikalische Ortsgeschichte ist während der
letzten Jahrzehnte, besonders in Italien und Deutschland, planmäßiger bebaut
worden. Die Heimathliebe führte hier die Mitarbeiter zahlreicher herbei;
natürlich auch manche ungeeignete.

Die musikalische Ortsgeschichte unterliegt derselben Gefahr der Isolirung
wie die Biographie; musikalische Landesgeschichte muß ihr zur Seite gehen.
An Arbeiten der letztern Art sind wir jedoch zur Zeit noch sehr arm. Deutsch¬
land ist nur vertreten mit Dörings "Beiträgen zur Geschichte der Musik in
Preußen" und mit Mettenleiters "Musikgeschichte der Oberpfalz." Die Ober¬
pfalz ist die Heimat Glucks; Preußen ist nur durch Königsberg und durch
die kurze Zeitspanne, in der hier Eccard, Albert und Sebastiani wirkten,
wichtig. Besonders musikalisch ergiebig sind beide nicht, auf keinen Fall können
sie sich mit der Bedeutung der österreichischen Kronlande oder Sachsens
messen.

Die Stellung Sachsens in der Musikgeschichte zu verfolgen sind wir durch
eine ausreichende Anzahl tüchtiger Vorarbeiten in den Stand gesetzt. Die
wichtigsten rühren von Moritz Fürstenau her; seine "Geschichte der Musik und
des Theaters am Hofe zu Dresden" ist unter ihnen das Hauptstück. Weitere
größere Beiträge bilden Katch Monographie über Le Maistre, Alfred Dörffels
Geschichte der Gewandhauskonzerte in Leipzig, Karl Helds Arbeit über das
Kreuzkantvrat zu Dresden. Die größere Menge des in Betracht kommenden
Materials ist in Zeitschriften zerstreut. Unter ihnen sind Eitners Monatshefte
für Musikgeschichte und die periodischen Veröffentlichungen der verschiednen
sächsischen und thüringischen Geschichts- und Altertumsvereine an erster Stelle
zu nennen. Es gilt, die Ergebnisse dieser Arbeiten in einer Skizze zu ver¬
einigen und durch sie die Unterlage zu weitern Forschungen und zur Aus¬
führung eines vollständigem Bildes zu bieten.

Wenn> man bei einem Volk überhaupt von natürlicher musikalischer An¬
lage sprechen darf, so sind sür Sachsen durch mildes Klima, gebirgsreichen
Boden, Rassenmischung der Bevölkerung günstige Bedingungen gegeben. So sehlt
es denn schon bei Dietrich von Merseburg und im Sachsenspiegel nicht an musi¬
kalischen Lebenszeichen unsers Landes. Unter den Minnesingern erscheinen
sächsische und thüringische Adelsnamen, die Wartburg spielt eine Rolle. Mit
dem Aufblühen des Bergbaues wächst die Lust am Gesang, das geschichtliche
und das geistliche Lied gedeihen bei uns hervorragend gut. Ein Markgraf
von Meißen wird vom Papst als Komponist gelobt. Noch vor dem Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts haben wir Schulchöre, von denen einzelne noch
heute bestehen. Aber der Hauptstrom deutscher Musik läuft doch weit ab von
unsern Grenzen. Unter den Theoretikern, die am Rhein, in Hessen, am
Bodensee an den Stätten alter Kultur den Boetius und die antiken Grund-


Sachsen in der Musikgeschichte

„Fidelio" jedermann vor Augen liegen — wo ist die Schule, die dergleichen
Themata gestellt hätte! Nur die musikalische Ortsgeschichte ist während der
letzten Jahrzehnte, besonders in Italien und Deutschland, planmäßiger bebaut
worden. Die Heimathliebe führte hier die Mitarbeiter zahlreicher herbei;
natürlich auch manche ungeeignete.

Die musikalische Ortsgeschichte unterliegt derselben Gefahr der Isolirung
wie die Biographie; musikalische Landesgeschichte muß ihr zur Seite gehen.
An Arbeiten der letztern Art sind wir jedoch zur Zeit noch sehr arm. Deutsch¬
land ist nur vertreten mit Dörings „Beiträgen zur Geschichte der Musik in
Preußen" und mit Mettenleiters „Musikgeschichte der Oberpfalz." Die Ober¬
pfalz ist die Heimat Glucks; Preußen ist nur durch Königsberg und durch
die kurze Zeitspanne, in der hier Eccard, Albert und Sebastiani wirkten,
wichtig. Besonders musikalisch ergiebig sind beide nicht, auf keinen Fall können
sie sich mit der Bedeutung der österreichischen Kronlande oder Sachsens
messen.

Die Stellung Sachsens in der Musikgeschichte zu verfolgen sind wir durch
eine ausreichende Anzahl tüchtiger Vorarbeiten in den Stand gesetzt. Die
wichtigsten rühren von Moritz Fürstenau her; seine „Geschichte der Musik und
des Theaters am Hofe zu Dresden" ist unter ihnen das Hauptstück. Weitere
größere Beiträge bilden Katch Monographie über Le Maistre, Alfred Dörffels
Geschichte der Gewandhauskonzerte in Leipzig, Karl Helds Arbeit über das
Kreuzkantvrat zu Dresden. Die größere Menge des in Betracht kommenden
Materials ist in Zeitschriften zerstreut. Unter ihnen sind Eitners Monatshefte
für Musikgeschichte und die periodischen Veröffentlichungen der verschiednen
sächsischen und thüringischen Geschichts- und Altertumsvereine an erster Stelle
zu nennen. Es gilt, die Ergebnisse dieser Arbeiten in einer Skizze zu ver¬
einigen und durch sie die Unterlage zu weitern Forschungen und zur Aus¬
führung eines vollständigem Bildes zu bieten.

Wenn> man bei einem Volk überhaupt von natürlicher musikalischer An¬
lage sprechen darf, so sind sür Sachsen durch mildes Klima, gebirgsreichen
Boden, Rassenmischung der Bevölkerung günstige Bedingungen gegeben. So sehlt
es denn schon bei Dietrich von Merseburg und im Sachsenspiegel nicht an musi¬
kalischen Lebenszeichen unsers Landes. Unter den Minnesingern erscheinen
sächsische und thüringische Adelsnamen, die Wartburg spielt eine Rolle. Mit
dem Aufblühen des Bergbaues wächst die Lust am Gesang, das geschichtliche
und das geistliche Lied gedeihen bei uns hervorragend gut. Ein Markgraf
von Meißen wird vom Papst als Komponist gelobt. Noch vor dem Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts haben wir Schulchöre, von denen einzelne noch
heute bestehen. Aber der Hauptstrom deutscher Musik läuft doch weit ab von
unsern Grenzen. Unter den Theoretikern, die am Rhein, in Hessen, am
Bodensee an den Stätten alter Kultur den Boetius und die antiken Grund-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/28>, abgerufen am 21.06.2024.