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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

bis auf die einzelnen Phrasen der Redner. Man könnte aus diesem Zusammen¬
stimmen den Schluß ziehen, daß das deutsche Volk deu im Interesse der Reichs-
eiuheit wünschenswerten nationalen Charakter endlich gewonnen habe, und das
ist ja auch mehr der Fall, als z. B. die süddeutsche Demokratie glauben machen
möchte. Zum Teil spielt da aber mich die Phantasielosigkeit des heutigen
Geschlechts mit, die das Bier bei den heutigen Feste" zur Hauptsache gemacht
hat und nichts andres mehr kennt als "Kommerse." Wenn wir die nationalen
Feste nur freudig begeistert feiern, so ist es gleich, wie wir sie feiern, und
man könnte wohl auch bei ihnen der heimischen Besonderheit bis zu einem be¬
stimmten Grade Rechnung tragen. Nicht umsonst hat Fürst Vismarck bei seinen
Besuchen aus den verschiednen deutscheu Landen stets das Stammesgefühl an¬
gerufen; nur dann kann das Vaterlandsgefühl stark und gesund sein, wenn es
auf starkem Stammes- und Heimatsgefühl gegründet ist; denn nicht für eine
Grenze und ein staatliches Gebilde zieht der Krieger freudig ins Felo, sondern
für Heimat und Herd. Für die Empfindung müssen die Begriffe Heimat,
Volkstum und Baterland eins sein; eine starke Liebe, ein freudiger Stolz,
das ist das Rechte.

Im übrigen spiegelt sich ja das Volkstum, seine beste Kraft und Art
weniger in den Sitten, als in der Sitte, nicht in dem, was man gewohnheits¬
müßig thut, sondern in dem, was man darf; mögen die Sitten aussterben,
die Sitte läßt sich erhalten. Verschwenderische Bauernhochzeiten sind unserm
Volke nicht so notwendig, wohl aber ist es gut, wenn ein Vauernmüdcheu
genau weiß, wie es sich Verhalten muß, wenn es den Ruf eines ehren- nud
tugendhaften Mädchens bewahren will. Das ist das Gebiet, auf dem der
Geistliche den größten Einfluß hat, und ich halte es gar uicht für so schlimm,
wenn er seines Amtes auch einmal nach Zensorenart waltet, vorausgesetzt, daß
er sich nur die Mühe giebt, die volkstümliche Überlieferung kennen zu lernen,
und sie nach Möglichkeit berücksichtigt. Die Freiheit der Persönlichkeit ist frei¬
lich eine schöne Sache, aber man darf doch uicht übersehen, daß sich uuter
diesem Namen oft böse Selbstsucht und eine Fülle schlechter Neigungen ver¬
steckt, lind außerdem leben wir nicht mehr im Jnquisitionszeitalter; wo sich ein
wahrhaft freier Geist, eine wirkliche Energie Bahn brechen will, da werden
Rigorismus und Beschränktheit schwer etwas ausrichten können.

Schlimm steht es gegenwärtig vielleicht mit den rechtlichen und staatlichen
Anschauungen des Volks, da hier die alten Überlieferungen völlig zu Grunde
gegangen sind, und der Überfluß parteipolitischer Weisheit, mit der man das
Land überschwemmt hat, nirgends Wurzel gefaßt hat. Mein Landsmann
A. U. Hansen hat in seinen "Charakterbildern" ein großes Kapitel "Ans dem
Gebiet des Rechts in Staat, Kirche und was dem anhängig" geschrieben, aber
Praktisch ist daraus heute natürlich nur noch wenig brauchbar, so interessant
auch alles für den Gebildeten ist. Hier wird man in volkstümlicher Form


Heimat und volkstum

bis auf die einzelnen Phrasen der Redner. Man könnte aus diesem Zusammen¬
stimmen den Schluß ziehen, daß das deutsche Volk deu im Interesse der Reichs-
eiuheit wünschenswerten nationalen Charakter endlich gewonnen habe, und das
ist ja auch mehr der Fall, als z. B. die süddeutsche Demokratie glauben machen
möchte. Zum Teil spielt da aber mich die Phantasielosigkeit des heutigen
Geschlechts mit, die das Bier bei den heutigen Feste» zur Hauptsache gemacht
hat und nichts andres mehr kennt als „Kommerse." Wenn wir die nationalen
Feste nur freudig begeistert feiern, so ist es gleich, wie wir sie feiern, und
man könnte wohl auch bei ihnen der heimischen Besonderheit bis zu einem be¬
stimmten Grade Rechnung tragen. Nicht umsonst hat Fürst Vismarck bei seinen
Besuchen aus den verschiednen deutscheu Landen stets das Stammesgefühl an¬
gerufen; nur dann kann das Vaterlandsgefühl stark und gesund sein, wenn es
auf starkem Stammes- und Heimatsgefühl gegründet ist; denn nicht für eine
Grenze und ein staatliches Gebilde zieht der Krieger freudig ins Felo, sondern
für Heimat und Herd. Für die Empfindung müssen die Begriffe Heimat,
Volkstum und Baterland eins sein; eine starke Liebe, ein freudiger Stolz,
das ist das Rechte.

Im übrigen spiegelt sich ja das Volkstum, seine beste Kraft und Art
weniger in den Sitten, als in der Sitte, nicht in dem, was man gewohnheits¬
müßig thut, sondern in dem, was man darf; mögen die Sitten aussterben,
die Sitte läßt sich erhalten. Verschwenderische Bauernhochzeiten sind unserm
Volke nicht so notwendig, wohl aber ist es gut, wenn ein Vauernmüdcheu
genau weiß, wie es sich Verhalten muß, wenn es den Ruf eines ehren- nud
tugendhaften Mädchens bewahren will. Das ist das Gebiet, auf dem der
Geistliche den größten Einfluß hat, und ich halte es gar uicht für so schlimm,
wenn er seines Amtes auch einmal nach Zensorenart waltet, vorausgesetzt, daß
er sich nur die Mühe giebt, die volkstümliche Überlieferung kennen zu lernen,
und sie nach Möglichkeit berücksichtigt. Die Freiheit der Persönlichkeit ist frei¬
lich eine schöne Sache, aber man darf doch uicht übersehen, daß sich uuter
diesem Namen oft böse Selbstsucht und eine Fülle schlechter Neigungen ver¬
steckt, lind außerdem leben wir nicht mehr im Jnquisitionszeitalter; wo sich ein
wahrhaft freier Geist, eine wirkliche Energie Bahn brechen will, da werden
Rigorismus und Beschränktheit schwer etwas ausrichten können.

Schlimm steht es gegenwärtig vielleicht mit den rechtlichen und staatlichen
Anschauungen des Volks, da hier die alten Überlieferungen völlig zu Grunde
gegangen sind, und der Überfluß parteipolitischer Weisheit, mit der man das
Land überschwemmt hat, nirgends Wurzel gefaßt hat. Mein Landsmann
A. U. Hansen hat in seinen „Charakterbildern" ein großes Kapitel „Ans dem
Gebiet des Rechts in Staat, Kirche und was dem anhängig" geschrieben, aber
Praktisch ist daraus heute natürlich nur noch wenig brauchbar, so interessant
auch alles für den Gebildeten ist. Hier wird man in volkstümlicher Form


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[0285] Heimat und volkstum bis auf die einzelnen Phrasen der Redner. Man könnte aus diesem Zusammen¬ stimmen den Schluß ziehen, daß das deutsche Volk deu im Interesse der Reichs- eiuheit wünschenswerten nationalen Charakter endlich gewonnen habe, und das ist ja auch mehr der Fall, als z. B. die süddeutsche Demokratie glauben machen möchte. Zum Teil spielt da aber mich die Phantasielosigkeit des heutigen Geschlechts mit, die das Bier bei den heutigen Feste» zur Hauptsache gemacht hat und nichts andres mehr kennt als „Kommerse." Wenn wir die nationalen Feste nur freudig begeistert feiern, so ist es gleich, wie wir sie feiern, und man könnte wohl auch bei ihnen der heimischen Besonderheit bis zu einem be¬ stimmten Grade Rechnung tragen. Nicht umsonst hat Fürst Vismarck bei seinen Besuchen aus den verschiednen deutscheu Landen stets das Stammesgefühl an¬ gerufen; nur dann kann das Vaterlandsgefühl stark und gesund sein, wenn es auf starkem Stammes- und Heimatsgefühl gegründet ist; denn nicht für eine Grenze und ein staatliches Gebilde zieht der Krieger freudig ins Felo, sondern für Heimat und Herd. Für die Empfindung müssen die Begriffe Heimat, Volkstum und Baterland eins sein; eine starke Liebe, ein freudiger Stolz, das ist das Rechte. Im übrigen spiegelt sich ja das Volkstum, seine beste Kraft und Art weniger in den Sitten, als in der Sitte, nicht in dem, was man gewohnheits¬ müßig thut, sondern in dem, was man darf; mögen die Sitten aussterben, die Sitte läßt sich erhalten. Verschwenderische Bauernhochzeiten sind unserm Volke nicht so notwendig, wohl aber ist es gut, wenn ein Vauernmüdcheu genau weiß, wie es sich Verhalten muß, wenn es den Ruf eines ehren- nud tugendhaften Mädchens bewahren will. Das ist das Gebiet, auf dem der Geistliche den größten Einfluß hat, und ich halte es gar uicht für so schlimm, wenn er seines Amtes auch einmal nach Zensorenart waltet, vorausgesetzt, daß er sich nur die Mühe giebt, die volkstümliche Überlieferung kennen zu lernen, und sie nach Möglichkeit berücksichtigt. Die Freiheit der Persönlichkeit ist frei¬ lich eine schöne Sache, aber man darf doch uicht übersehen, daß sich uuter diesem Namen oft böse Selbstsucht und eine Fülle schlechter Neigungen ver¬ steckt, lind außerdem leben wir nicht mehr im Jnquisitionszeitalter; wo sich ein wahrhaft freier Geist, eine wirkliche Energie Bahn brechen will, da werden Rigorismus und Beschränktheit schwer etwas ausrichten können. Schlimm steht es gegenwärtig vielleicht mit den rechtlichen und staatlichen Anschauungen des Volks, da hier die alten Überlieferungen völlig zu Grunde gegangen sind, und der Überfluß parteipolitischer Weisheit, mit der man das Land überschwemmt hat, nirgends Wurzel gefaßt hat. Mein Landsmann A. U. Hansen hat in seinen „Charakterbildern" ein großes Kapitel „Ans dem Gebiet des Rechts in Staat, Kirche und was dem anhängig" geschrieben, aber Praktisch ist daraus heute natürlich nur noch wenig brauchbar, so interessant auch alles für den Gebildeten ist. Hier wird man in volkstümlicher Form

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/285>, abgerufen am 30.06.2024.