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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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zur See für England heute Lebensfrage im eigentlichsten Sinne des Wortes
geworden ist. Er ist sich völlig klar darüber, daß England, selbst ohne In¬
vasion, zu der demütigster Unterwerfung gezwungen wäre, wenn ihm der
Bezug der Lebensmittel und der Rohmaterialien für seine Industrie auch nur
auf drei Monate abgeschnitten werden würde. Doch sei nicht zu befürchten,
daß es England jemals an Schiffen und an Besatzung für sie fehlen werde.
Immerhin wird das Zugeständnis gemacht, daß England notgedrungen heute
äußerst friedfertig geworden sei. Wären die Ansichten über Krieg und Frieden
noch heute so wie vor hundert Jahren, so würde es sich wahrscheinlich noch
in dem letzten Jahrzehnt nicht bedacht haben, mit andern europäischen Mächten
Krieg zu beginnen.

Matten sieht den Grund der englischen Erfolge in der innern Tüchtigkeit
der angelsächsischen Nasse. Er rühmt von ihr, daß es ihr trotz vieler schmerz¬
lichen Fehler und großer Irrtümer dennoch gelungen sei, in ihrer Regierungs-
form das beste Beispiel der Vereinigung von Freiheit und Ordnung ausfindig
zu machen und aufrecht zu erhalten, das die Welt je gesehen habe. Theoretisch
ist das Parlament im Verein mit der Krone (Lrovu in?in->minore) allmächtig,
es hat selbst die Gewalt, jedermann Leben und Eigentum zu nehmen. Praktisch
steht diese Gewalt sogar bei dem Hanse der Gemeinen. Denn auch die Lords
können sich auf die Dauer nicht weigern, ihre Zustimmung zu wichtigern
Gesetzvvrschlägen zu geben, auf denen die Gemeinen bestehen, und für die sich
zugleich die öffentliche Meinung des Landes mit Entschiedenheit ausgesprochen
hat. Über die Krone wird kühl bemerkt, daß sie heutzutage durch ihre Mi¬
nister handle und eine eigne Politik überhaupt nicht habe. Trotzdem ist sie
nicht bloß ein Ornament am Gebälk der Verfassung. Sie übt, über den Par¬
teien stehend, auf sie einen mäßigenden Einfluß und gleicht -- dem Unpar¬
teiischen beim Kricket, der nicht eine einzige der Spielregeln andern kann,
aber den Spielern jederzeit sagen kann, wenn sie dagegen verstoßen. Er hebt
das Spiel auf, wenn die Spieler nicht hören wollen, und kann erklären,
daß -- es von neuem beginnen solle. "Wir müssen lohal sein gegen die Krone,
denn sie ist loyal gegen uns, und sie ist die Personifikation unsrer Verfassung
und unsers Gesetzes."

Um den Unterschied zwischen dem festländischen bürokratischen Vcr-
waltnngsshstem und dem englischen Selfgovernment deutlicher hervortreten zu
lassen, wären dem deutscheu Leser "och genauere Aufschlüsse über das Verhältnis
der örtlichen Verwaltungskörper zu der obersten Staatsbehörde erwünscht.
Wollen wir uns vom Selfgovernment einen Begriff macheu, so müssen wir
uns beispielsweise die Oberpräsidieu mitsamt den Prvvinzialausschüssen, ferner
die Regierungspräsidenten mit ihren Beamtenkollegien und selbst die Landräte
einfach wegdenken, sodaß nur die Bezirksausschüsse und Kreisausschüsse mit
den Kreistagen, entsprechend etwa den Grafschaftsräten, County Councils, und


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zur See für England heute Lebensfrage im eigentlichsten Sinne des Wortes
geworden ist. Er ist sich völlig klar darüber, daß England, selbst ohne In¬
vasion, zu der demütigster Unterwerfung gezwungen wäre, wenn ihm der
Bezug der Lebensmittel und der Rohmaterialien für seine Industrie auch nur
auf drei Monate abgeschnitten werden würde. Doch sei nicht zu befürchten,
daß es England jemals an Schiffen und an Besatzung für sie fehlen werde.
Immerhin wird das Zugeständnis gemacht, daß England notgedrungen heute
äußerst friedfertig geworden sei. Wären die Ansichten über Krieg und Frieden
noch heute so wie vor hundert Jahren, so würde es sich wahrscheinlich noch
in dem letzten Jahrzehnt nicht bedacht haben, mit andern europäischen Mächten
Krieg zu beginnen.

Matten sieht den Grund der englischen Erfolge in der innern Tüchtigkeit
der angelsächsischen Nasse. Er rühmt von ihr, daß es ihr trotz vieler schmerz¬
lichen Fehler und großer Irrtümer dennoch gelungen sei, in ihrer Regierungs-
form das beste Beispiel der Vereinigung von Freiheit und Ordnung ausfindig
zu machen und aufrecht zu erhalten, das die Welt je gesehen habe. Theoretisch
ist das Parlament im Verein mit der Krone (Lrovu in?in->minore) allmächtig,
es hat selbst die Gewalt, jedermann Leben und Eigentum zu nehmen. Praktisch
steht diese Gewalt sogar bei dem Hanse der Gemeinen. Denn auch die Lords
können sich auf die Dauer nicht weigern, ihre Zustimmung zu wichtigern
Gesetzvvrschlägen zu geben, auf denen die Gemeinen bestehen, und für die sich
zugleich die öffentliche Meinung des Landes mit Entschiedenheit ausgesprochen
hat. Über die Krone wird kühl bemerkt, daß sie heutzutage durch ihre Mi¬
nister handle und eine eigne Politik überhaupt nicht habe. Trotzdem ist sie
nicht bloß ein Ornament am Gebälk der Verfassung. Sie übt, über den Par¬
teien stehend, auf sie einen mäßigenden Einfluß und gleicht — dem Unpar¬
teiischen beim Kricket, der nicht eine einzige der Spielregeln andern kann,
aber den Spielern jederzeit sagen kann, wenn sie dagegen verstoßen. Er hebt
das Spiel auf, wenn die Spieler nicht hören wollen, und kann erklären,
daß — es von neuem beginnen solle. „Wir müssen lohal sein gegen die Krone,
denn sie ist loyal gegen uns, und sie ist die Personifikation unsrer Verfassung
und unsers Gesetzes."

Um den Unterschied zwischen dem festländischen bürokratischen Vcr-
waltnngsshstem und dem englischen Selfgovernment deutlicher hervortreten zu
lassen, wären dem deutscheu Leser »och genauere Aufschlüsse über das Verhältnis
der örtlichen Verwaltungskörper zu der obersten Staatsbehörde erwünscht.
Wollen wir uns vom Selfgovernment einen Begriff macheu, so müssen wir
uns beispielsweise die Oberpräsidieu mitsamt den Prvvinzialausschüssen, ferner
die Regierungspräsidenten mit ihren Beamtenkollegien und selbst die Landräte
einfach wegdenken, sodaß nur die Bezirksausschüsse und Kreisausschüsse mit
den Kreistagen, entsprechend etwa den Grafschaftsräten, County Councils, und


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[0220] Line englische Bnrgerkunde zur See für England heute Lebensfrage im eigentlichsten Sinne des Wortes geworden ist. Er ist sich völlig klar darüber, daß England, selbst ohne In¬ vasion, zu der demütigster Unterwerfung gezwungen wäre, wenn ihm der Bezug der Lebensmittel und der Rohmaterialien für seine Industrie auch nur auf drei Monate abgeschnitten werden würde. Doch sei nicht zu befürchten, daß es England jemals an Schiffen und an Besatzung für sie fehlen werde. Immerhin wird das Zugeständnis gemacht, daß England notgedrungen heute äußerst friedfertig geworden sei. Wären die Ansichten über Krieg und Frieden noch heute so wie vor hundert Jahren, so würde es sich wahrscheinlich noch in dem letzten Jahrzehnt nicht bedacht haben, mit andern europäischen Mächten Krieg zu beginnen. Matten sieht den Grund der englischen Erfolge in der innern Tüchtigkeit der angelsächsischen Nasse. Er rühmt von ihr, daß es ihr trotz vieler schmerz¬ lichen Fehler und großer Irrtümer dennoch gelungen sei, in ihrer Regierungs- form das beste Beispiel der Vereinigung von Freiheit und Ordnung ausfindig zu machen und aufrecht zu erhalten, das die Welt je gesehen habe. Theoretisch ist das Parlament im Verein mit der Krone (Lrovu in?in->minore) allmächtig, es hat selbst die Gewalt, jedermann Leben und Eigentum zu nehmen. Praktisch steht diese Gewalt sogar bei dem Hanse der Gemeinen. Denn auch die Lords können sich auf die Dauer nicht weigern, ihre Zustimmung zu wichtigern Gesetzvvrschlägen zu geben, auf denen die Gemeinen bestehen, und für die sich zugleich die öffentliche Meinung des Landes mit Entschiedenheit ausgesprochen hat. Über die Krone wird kühl bemerkt, daß sie heutzutage durch ihre Mi¬ nister handle und eine eigne Politik überhaupt nicht habe. Trotzdem ist sie nicht bloß ein Ornament am Gebälk der Verfassung. Sie übt, über den Par¬ teien stehend, auf sie einen mäßigenden Einfluß und gleicht — dem Unpar¬ teiischen beim Kricket, der nicht eine einzige der Spielregeln andern kann, aber den Spielern jederzeit sagen kann, wenn sie dagegen verstoßen. Er hebt das Spiel auf, wenn die Spieler nicht hören wollen, und kann erklären, daß — es von neuem beginnen solle. „Wir müssen lohal sein gegen die Krone, denn sie ist loyal gegen uns, und sie ist die Personifikation unsrer Verfassung und unsers Gesetzes." Um den Unterschied zwischen dem festländischen bürokratischen Vcr- waltnngsshstem und dem englischen Selfgovernment deutlicher hervortreten zu lassen, wären dem deutscheu Leser »och genauere Aufschlüsse über das Verhältnis der örtlichen Verwaltungskörper zu der obersten Staatsbehörde erwünscht. Wollen wir uns vom Selfgovernment einen Begriff macheu, so müssen wir uns beispielsweise die Oberpräsidieu mitsamt den Prvvinzialausschüssen, ferner die Regierungspräsidenten mit ihren Beamtenkollegien und selbst die Landräte einfach wegdenken, sodaß nur die Bezirksausschüsse und Kreisausschüsse mit den Kreistagen, entsprechend etwa den Grafschaftsräten, County Councils, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/220>, abgerufen am 04.07.2024.