Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line englische Bürgerknnde

die Stadträte, die Stadtverordnetenversammlungen und die Geineinderüte, ent¬
sprechend etwa den Tvwn-, Distrikt-und Parish-Councils, sämtlich unter frei
gewählten Obmännern, übrig blieben. Alle diese Körperschaften haben ihre
ständig angestellten Beamten, die Clerks, doch ohne eigne Machtbefugnisse,
ohne politische Verantwortung und Initiative. Die Regierung ist in den
Grafschaften nur durch die Lordleutuants und die Sheriffs vertreten, beide
unbezahlte Beamte, der Lordleutnant mit rein repräsentativen Befugnissen, der
Sheriff nebst den von ihm selbständig ernannten Untersheriffs Leiter der eigent¬
liche" Exekutivpolizei und gerichtlicher Hilfsbeamter. Alle jene Sclbstverwal-
tnngstörper stehen zwar unter der Aufsicht des Ministeriums des Innern, wenn
man das kollegial zusammengesetzte Local Board of Government, das wiederum
dem Parlament verantwortlich ist, so bezeichnen darf. Aber anch dessen Be-
fugnisse gehen nicht weiter, als allgemeine geschäftliche Regeln aufzustellen und
darüber zu wachen, daß die der Selbstverwaltung durch das Gesetz gestellte"
Aufgaben erfüllt werde". Grundsätzlich nimmt aber jeder Engländer an der
Überwachung der Verwaltuugskörperschaften teil, da er sie durch gerichtliche
Klage dazu zwingen lassen kann, ihre Schuldigkeit zu tyuu. Matten empfiehlt
freilich, zu diesem Schritt erst den Rat eines Urwalds einzuholen, und ein
vorsichtiger Anwalt werde wahrscheinlich davon abraten. "Gewöhnlich genügt
es, den Fall einer wirklichen Pflichtvernachlässigung öffentlich in den Zeitungen
zur Sprache zu bringen, um Abhilfe zu schaffen" -- eine nach deutsche,? Be¬
griffen geradezu ketzerische Ansicht, wenn man damit die Praxis des Reichs¬
gerichts in der Auslegung der "Wahrnehmung berechtigter Interessen" bei Preß-
prvzessen wegen Beamtenbeleidignng vergleicht. Matten ist übrigens keineswegs
blind gegen die gewöhnlichen Nachteile der Selbstverwaltung, den Schlendrian
der Körperschaften selbst, das Cliquenwesen und die Teilnahmlosigkeit der
Massen. Gerade dagegen anzukämpfen, in jedem einzelnen das Gefühl der
Mitverantwortlichkeit zu wecken, ist ja der Hauptzweck seines Buches. "England
und Amerika, die beiden klassischen Länder der Selbstverwaltung, leiden uuter
einem Geiste der Lässigkeit, wenn auch nicht so sehr wie andre Länder, wo
es das Volk trotz alles Geschwätzes von bürgerlicher Freiheit vorzieht, sich
von der Bureaukratie sagen zu lassen, was geschehen soll." Matten beklagt
es als einen allgemein bekannten Übelstand, wie schwer es der Polizei falle,
bei ihrem Einschreiten thätigen Beistand vom Publikum zu erlangen, und
giebt eine Art von passivem Widerstand gegen die jetzt überall mit großem
Nachdruck durchgeführte" Maßregeln zur Verbesserung des Gesundheitswesens zu.
Die menschliche Natur ist "selbst in England" unvollkommen, und für das
öffentliche Unterrichtswesen ist der Zwang, wenn auch ergänzt durch Privat-
schulen, ganz unentbehrlich. Die Schotten verdanken ihre anerkannte Über¬
legenheit als Geschäftsleute, als Arbeiter, als erfolgreiche Pioniere in den
Kolonien vor allem ihrem guten Elementarschulwesen. Einstweilen hat zwar


Line englische Bürgerknnde

die Stadträte, die Stadtverordnetenversammlungen und die Geineinderüte, ent¬
sprechend etwa den Tvwn-, Distrikt-und Parish-Councils, sämtlich unter frei
gewählten Obmännern, übrig blieben. Alle diese Körperschaften haben ihre
ständig angestellten Beamten, die Clerks, doch ohne eigne Machtbefugnisse,
ohne politische Verantwortung und Initiative. Die Regierung ist in den
Grafschaften nur durch die Lordleutuants und die Sheriffs vertreten, beide
unbezahlte Beamte, der Lordleutnant mit rein repräsentativen Befugnissen, der
Sheriff nebst den von ihm selbständig ernannten Untersheriffs Leiter der eigent¬
liche» Exekutivpolizei und gerichtlicher Hilfsbeamter. Alle jene Sclbstverwal-
tnngstörper stehen zwar unter der Aufsicht des Ministeriums des Innern, wenn
man das kollegial zusammengesetzte Local Board of Government, das wiederum
dem Parlament verantwortlich ist, so bezeichnen darf. Aber anch dessen Be-
fugnisse gehen nicht weiter, als allgemeine geschäftliche Regeln aufzustellen und
darüber zu wachen, daß die der Selbstverwaltung durch das Gesetz gestellte»
Aufgaben erfüllt werde«. Grundsätzlich nimmt aber jeder Engländer an der
Überwachung der Verwaltuugskörperschaften teil, da er sie durch gerichtliche
Klage dazu zwingen lassen kann, ihre Schuldigkeit zu tyuu. Matten empfiehlt
freilich, zu diesem Schritt erst den Rat eines Urwalds einzuholen, und ein
vorsichtiger Anwalt werde wahrscheinlich davon abraten. „Gewöhnlich genügt
es, den Fall einer wirklichen Pflichtvernachlässigung öffentlich in den Zeitungen
zur Sprache zu bringen, um Abhilfe zu schaffen" — eine nach deutsche,? Be¬
griffen geradezu ketzerische Ansicht, wenn man damit die Praxis des Reichs¬
gerichts in der Auslegung der „Wahrnehmung berechtigter Interessen" bei Preß-
prvzessen wegen Beamtenbeleidignng vergleicht. Matten ist übrigens keineswegs
blind gegen die gewöhnlichen Nachteile der Selbstverwaltung, den Schlendrian
der Körperschaften selbst, das Cliquenwesen und die Teilnahmlosigkeit der
Massen. Gerade dagegen anzukämpfen, in jedem einzelnen das Gefühl der
Mitverantwortlichkeit zu wecken, ist ja der Hauptzweck seines Buches. „England
und Amerika, die beiden klassischen Länder der Selbstverwaltung, leiden uuter
einem Geiste der Lässigkeit, wenn auch nicht so sehr wie andre Länder, wo
es das Volk trotz alles Geschwätzes von bürgerlicher Freiheit vorzieht, sich
von der Bureaukratie sagen zu lassen, was geschehen soll." Matten beklagt
es als einen allgemein bekannten Übelstand, wie schwer es der Polizei falle,
bei ihrem Einschreiten thätigen Beistand vom Publikum zu erlangen, und
giebt eine Art von passivem Widerstand gegen die jetzt überall mit großem
Nachdruck durchgeführte» Maßregeln zur Verbesserung des Gesundheitswesens zu.
Die menschliche Natur ist „selbst in England" unvollkommen, und für das
öffentliche Unterrichtswesen ist der Zwang, wenn auch ergänzt durch Privat-
schulen, ganz unentbehrlich. Die Schotten verdanken ihre anerkannte Über¬
legenheit als Geschäftsleute, als Arbeiter, als erfolgreiche Pioniere in den
Kolonien vor allem ihrem guten Elementarschulwesen. Einstweilen hat zwar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221197"/>
          <fw type="header" place="top"> Line englische Bürgerknnde</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_664" prev="#ID_663" next="#ID_665"> die Stadträte, die Stadtverordnetenversammlungen und die Geineinderüte, ent¬<lb/>
sprechend etwa den Tvwn-, Distrikt-und Parish-Councils, sämtlich unter frei<lb/>
gewählten Obmännern, übrig blieben.  Alle diese Körperschaften haben ihre<lb/>
ständig angestellten Beamten, die Clerks, doch ohne eigne Machtbefugnisse,<lb/>
ohne politische Verantwortung und Initiative.  Die Regierung ist in den<lb/>
Grafschaften nur durch die Lordleutuants und die Sheriffs vertreten, beide<lb/>
unbezahlte Beamte, der Lordleutnant mit rein repräsentativen Befugnissen, der<lb/>
Sheriff nebst den von ihm selbständig ernannten Untersheriffs Leiter der eigent¬<lb/>
liche» Exekutivpolizei und gerichtlicher Hilfsbeamter.  Alle jene Sclbstverwal-<lb/>
tnngstörper stehen zwar unter der Aufsicht des Ministeriums des Innern, wenn<lb/>
man das kollegial zusammengesetzte Local Board of Government, das wiederum<lb/>
dem Parlament verantwortlich ist, so bezeichnen darf. Aber anch dessen Be-<lb/>
fugnisse gehen nicht weiter, als allgemeine geschäftliche Regeln aufzustellen und<lb/>
darüber zu wachen, daß die der Selbstverwaltung durch das Gesetz gestellte»<lb/>
Aufgaben erfüllt werde«.  Grundsätzlich nimmt aber jeder Engländer an der<lb/>
Überwachung der Verwaltuugskörperschaften teil, da er sie durch gerichtliche<lb/>
Klage dazu zwingen lassen kann, ihre Schuldigkeit zu tyuu. Matten empfiehlt<lb/>
freilich, zu diesem Schritt erst den Rat eines Urwalds einzuholen, und ein<lb/>
vorsichtiger Anwalt werde wahrscheinlich davon abraten. &#x201E;Gewöhnlich genügt<lb/>
es, den Fall einer wirklichen Pflichtvernachlässigung öffentlich in den Zeitungen<lb/>
zur Sprache zu bringen, um Abhilfe zu schaffen" &#x2014; eine nach deutsche,? Be¬<lb/>
griffen geradezu ketzerische Ansicht, wenn man damit die Praxis des Reichs¬<lb/>
gerichts in der Auslegung der &#x201E;Wahrnehmung berechtigter Interessen" bei Preß-<lb/>
prvzessen wegen Beamtenbeleidignng vergleicht. Matten ist übrigens keineswegs<lb/>
blind gegen die gewöhnlichen Nachteile der Selbstverwaltung, den Schlendrian<lb/>
der Körperschaften selbst, das Cliquenwesen und die Teilnahmlosigkeit der<lb/>
Massen.  Gerade dagegen anzukämpfen, in jedem einzelnen das Gefühl der<lb/>
Mitverantwortlichkeit zu wecken, ist ja der Hauptzweck seines Buches. &#x201E;England<lb/>
und Amerika, die beiden klassischen Länder der Selbstverwaltung, leiden uuter<lb/>
einem Geiste der Lässigkeit, wenn auch nicht so sehr wie andre Länder, wo<lb/>
es das Volk trotz alles Geschwätzes von bürgerlicher Freiheit vorzieht, sich<lb/>
von der Bureaukratie sagen zu lassen, was geschehen soll."  Matten beklagt<lb/>
es als einen allgemein bekannten Übelstand, wie schwer es der Polizei falle,<lb/>
bei ihrem Einschreiten thätigen Beistand vom Publikum zu erlangen, und<lb/>
giebt eine Art von passivem Widerstand gegen die jetzt überall mit großem<lb/>
Nachdruck durchgeführte» Maßregeln zur Verbesserung des Gesundheitswesens zu.<lb/>
Die menschliche Natur ist &#x201E;selbst in England" unvollkommen, und für das<lb/>
öffentliche Unterrichtswesen ist der Zwang, wenn auch ergänzt durch Privat-<lb/>
schulen, ganz unentbehrlich.  Die Schotten verdanken ihre anerkannte Über¬<lb/>
legenheit als Geschäftsleute, als Arbeiter, als erfolgreiche Pioniere in den<lb/>
Kolonien vor allem ihrem guten Elementarschulwesen.  Einstweilen hat zwar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0221] Line englische Bürgerknnde die Stadträte, die Stadtverordnetenversammlungen und die Geineinderüte, ent¬ sprechend etwa den Tvwn-, Distrikt-und Parish-Councils, sämtlich unter frei gewählten Obmännern, übrig blieben. Alle diese Körperschaften haben ihre ständig angestellten Beamten, die Clerks, doch ohne eigne Machtbefugnisse, ohne politische Verantwortung und Initiative. Die Regierung ist in den Grafschaften nur durch die Lordleutuants und die Sheriffs vertreten, beide unbezahlte Beamte, der Lordleutnant mit rein repräsentativen Befugnissen, der Sheriff nebst den von ihm selbständig ernannten Untersheriffs Leiter der eigent¬ liche» Exekutivpolizei und gerichtlicher Hilfsbeamter. Alle jene Sclbstverwal- tnngstörper stehen zwar unter der Aufsicht des Ministeriums des Innern, wenn man das kollegial zusammengesetzte Local Board of Government, das wiederum dem Parlament verantwortlich ist, so bezeichnen darf. Aber anch dessen Be- fugnisse gehen nicht weiter, als allgemeine geschäftliche Regeln aufzustellen und darüber zu wachen, daß die der Selbstverwaltung durch das Gesetz gestellte» Aufgaben erfüllt werde«. Grundsätzlich nimmt aber jeder Engländer an der Überwachung der Verwaltuugskörperschaften teil, da er sie durch gerichtliche Klage dazu zwingen lassen kann, ihre Schuldigkeit zu tyuu. Matten empfiehlt freilich, zu diesem Schritt erst den Rat eines Urwalds einzuholen, und ein vorsichtiger Anwalt werde wahrscheinlich davon abraten. „Gewöhnlich genügt es, den Fall einer wirklichen Pflichtvernachlässigung öffentlich in den Zeitungen zur Sprache zu bringen, um Abhilfe zu schaffen" — eine nach deutsche,? Be¬ griffen geradezu ketzerische Ansicht, wenn man damit die Praxis des Reichs¬ gerichts in der Auslegung der „Wahrnehmung berechtigter Interessen" bei Preß- prvzessen wegen Beamtenbeleidignng vergleicht. Matten ist übrigens keineswegs blind gegen die gewöhnlichen Nachteile der Selbstverwaltung, den Schlendrian der Körperschaften selbst, das Cliquenwesen und die Teilnahmlosigkeit der Massen. Gerade dagegen anzukämpfen, in jedem einzelnen das Gefühl der Mitverantwortlichkeit zu wecken, ist ja der Hauptzweck seines Buches. „England und Amerika, die beiden klassischen Länder der Selbstverwaltung, leiden uuter einem Geiste der Lässigkeit, wenn auch nicht so sehr wie andre Länder, wo es das Volk trotz alles Geschwätzes von bürgerlicher Freiheit vorzieht, sich von der Bureaukratie sagen zu lassen, was geschehen soll." Matten beklagt es als einen allgemein bekannten Übelstand, wie schwer es der Polizei falle, bei ihrem Einschreiten thätigen Beistand vom Publikum zu erlangen, und giebt eine Art von passivem Widerstand gegen die jetzt überall mit großem Nachdruck durchgeführte» Maßregeln zur Verbesserung des Gesundheitswesens zu. Die menschliche Natur ist „selbst in England" unvollkommen, und für das öffentliche Unterrichtswesen ist der Zwang, wenn auch ergänzt durch Privat- schulen, ganz unentbehrlich. Die Schotten verdanken ihre anerkannte Über¬ legenheit als Geschäftsleute, als Arbeiter, als erfolgreiche Pioniere in den Kolonien vor allem ihrem guten Elementarschulwesen. Einstweilen hat zwar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/221>, abgerufen am 24.07.2024.