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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Ich behaupte: die körperlichen Strafen in der Schule sind abzuschaffen:
im Juteresse der Kinder, im Interesse der Eltern, im Interesse der Lehrer
selbst, und zwar aus Gründen der Gesundheit, der Sittlichkeit, der Erziehung
und des Unterrichts.

Sehen wir zunächst, welches Maß von Leibesstrafen in den deutschen
Schulen gestattet ist. Bekanntlich giebt es hierüber keine einheitliche Gesetz¬
gebung. In einigen Staaten und Städten bestehen eingehende Vorschriften be¬
züglich der Art und Anwendung der Schulstrafen, in andern aber sind keine
festen Grenzen gesteckt; da ist dem Ermessen des Lehrers ein weiter Spiel¬
raum gelassen und Überschreitung des Züchtigungsrechts ein sehr schwankender
Begriff. Aber auch die Festsetzung der erlaubten Körperstrafen ist praktisch
wertlos. Körperstrafen haben das Eigne und von vornherein Bedenkliche, daß
sie einer genauen Regulirung widerstehen. Bei einer Arreststrafe weiß man,
was man hat. Da kann der zornigste wie der sanfteste Richter nichts zugeben
oder abnehmen. Wie aber will man die Kraft abmessen, mit der der Lehrer
zuschlägt! Und doch ist das offenbar weit wichtiger als etwa die Anzahl der
Schläge. Man könnte höchstens zur Prngelmaschine greifen, und es ist be¬
zeichnend, daß dieser Gedanke in neuester Zeit wirklich aufgetaucht ist. Will
man etwa von Dorf zu Dorf, von Schule zu Schule laufen, um die Stöcke
abzumessen, ob sie das erlaubte Maß habe", nicht zu lang, nicht zu dick, und
ob sie aus dem gehörigen Material geschnitten sind? Oder soll jedem Schul¬
meister bei seiner Anstellung ein Normalprügelszepter von Amts wegen über¬
reicht werden? Und wie oft darf der Lehrer eine Züchtigung verhängen?
Darüber ist nirgends etwas gesagt. Es steht dem Lehrer völlig frei, einem
Kinde zehn, zwanzig, vierzig Schläge an einem Tage zu geben, ohne im min¬
desten gegen den Buchstaben der Schulordnung zu verstoßen. Die bloße Zahl
der Schläge bietet z. B. in Baiern nach der herkömmlichen Praxis überhaupt
keinen Grund zu gerichtlichem Einschreiten, wenn sich nicht schwere körperliche
Nachwirkungen gezeigt haben. Freilich soll die Körperstrafe nicht "gewohn¬
heitsmäßig" stattfinden. Aber was ist Gewohnheit? Zumal bei der schlaffen
Auslegung, wie sie die Gerichte "gewohnheitsmäßig" üben. Nicht einmal die
Vergehen, für die der Stock angewendet werden darf, find festgesetzt. "Wenn
die gelindern Strafen fruchtlos geblieben sind," heißt es. Das wird aber der
Lehrer stets behaupten, und ein andrer wird ihn darin nicht widerlegen können.
Insbesondre wegen "hartnäckiger Faulheit und ernster moralischer Vergehen."
Ließe man wenigstens das erste weg, so wäre doch einiger Anhalt gegeben,
die Rute wenigstens als Unterrichtsmittel zu verbannen, aber durch die Hinter¬
thüre der "hartnäckigen Faulheit" schleicht sie auch hier, wo sie so lähmend
und verderblich wirkt, wieder ein.

Sehen wir min auf die Zahl der Schläge. "Sechs schlüge auf die
Hände (!) oder (bei Knaben) auf das Hinterteil." So in Baiern und Württem-


Ich behaupte: die körperlichen Strafen in der Schule sind abzuschaffen:
im Juteresse der Kinder, im Interesse der Eltern, im Interesse der Lehrer
selbst, und zwar aus Gründen der Gesundheit, der Sittlichkeit, der Erziehung
und des Unterrichts.

Sehen wir zunächst, welches Maß von Leibesstrafen in den deutschen
Schulen gestattet ist. Bekanntlich giebt es hierüber keine einheitliche Gesetz¬
gebung. In einigen Staaten und Städten bestehen eingehende Vorschriften be¬
züglich der Art und Anwendung der Schulstrafen, in andern aber sind keine
festen Grenzen gesteckt; da ist dem Ermessen des Lehrers ein weiter Spiel¬
raum gelassen und Überschreitung des Züchtigungsrechts ein sehr schwankender
Begriff. Aber auch die Festsetzung der erlaubten Körperstrafen ist praktisch
wertlos. Körperstrafen haben das Eigne und von vornherein Bedenkliche, daß
sie einer genauen Regulirung widerstehen. Bei einer Arreststrafe weiß man,
was man hat. Da kann der zornigste wie der sanfteste Richter nichts zugeben
oder abnehmen. Wie aber will man die Kraft abmessen, mit der der Lehrer
zuschlägt! Und doch ist das offenbar weit wichtiger als etwa die Anzahl der
Schläge. Man könnte höchstens zur Prngelmaschine greifen, und es ist be¬
zeichnend, daß dieser Gedanke in neuester Zeit wirklich aufgetaucht ist. Will
man etwa von Dorf zu Dorf, von Schule zu Schule laufen, um die Stöcke
abzumessen, ob sie das erlaubte Maß habe», nicht zu lang, nicht zu dick, und
ob sie aus dem gehörigen Material geschnitten sind? Oder soll jedem Schul¬
meister bei seiner Anstellung ein Normalprügelszepter von Amts wegen über¬
reicht werden? Und wie oft darf der Lehrer eine Züchtigung verhängen?
Darüber ist nirgends etwas gesagt. Es steht dem Lehrer völlig frei, einem
Kinde zehn, zwanzig, vierzig Schläge an einem Tage zu geben, ohne im min¬
desten gegen den Buchstaben der Schulordnung zu verstoßen. Die bloße Zahl
der Schläge bietet z. B. in Baiern nach der herkömmlichen Praxis überhaupt
keinen Grund zu gerichtlichem Einschreiten, wenn sich nicht schwere körperliche
Nachwirkungen gezeigt haben. Freilich soll die Körperstrafe nicht „gewohn¬
heitsmäßig" stattfinden. Aber was ist Gewohnheit? Zumal bei der schlaffen
Auslegung, wie sie die Gerichte „gewohnheitsmäßig" üben. Nicht einmal die
Vergehen, für die der Stock angewendet werden darf, find festgesetzt. „Wenn
die gelindern Strafen fruchtlos geblieben sind," heißt es. Das wird aber der
Lehrer stets behaupten, und ein andrer wird ihn darin nicht widerlegen können.
Insbesondre wegen „hartnäckiger Faulheit und ernster moralischer Vergehen."
Ließe man wenigstens das erste weg, so wäre doch einiger Anhalt gegeben,
die Rute wenigstens als Unterrichtsmittel zu verbannen, aber durch die Hinter¬
thüre der „hartnäckigen Faulheit" schleicht sie auch hier, wo sie so lähmend
und verderblich wirkt, wieder ein.

Sehen wir min auf die Zahl der Schläge. „Sechs schlüge auf die
Hände (!) oder (bei Knaben) auf das Hinterteil." So in Baiern und Württem-


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[0022] Ich behaupte: die körperlichen Strafen in der Schule sind abzuschaffen: im Juteresse der Kinder, im Interesse der Eltern, im Interesse der Lehrer selbst, und zwar aus Gründen der Gesundheit, der Sittlichkeit, der Erziehung und des Unterrichts. Sehen wir zunächst, welches Maß von Leibesstrafen in den deutschen Schulen gestattet ist. Bekanntlich giebt es hierüber keine einheitliche Gesetz¬ gebung. In einigen Staaten und Städten bestehen eingehende Vorschriften be¬ züglich der Art und Anwendung der Schulstrafen, in andern aber sind keine festen Grenzen gesteckt; da ist dem Ermessen des Lehrers ein weiter Spiel¬ raum gelassen und Überschreitung des Züchtigungsrechts ein sehr schwankender Begriff. Aber auch die Festsetzung der erlaubten Körperstrafen ist praktisch wertlos. Körperstrafen haben das Eigne und von vornherein Bedenkliche, daß sie einer genauen Regulirung widerstehen. Bei einer Arreststrafe weiß man, was man hat. Da kann der zornigste wie der sanfteste Richter nichts zugeben oder abnehmen. Wie aber will man die Kraft abmessen, mit der der Lehrer zuschlägt! Und doch ist das offenbar weit wichtiger als etwa die Anzahl der Schläge. Man könnte höchstens zur Prngelmaschine greifen, und es ist be¬ zeichnend, daß dieser Gedanke in neuester Zeit wirklich aufgetaucht ist. Will man etwa von Dorf zu Dorf, von Schule zu Schule laufen, um die Stöcke abzumessen, ob sie das erlaubte Maß habe», nicht zu lang, nicht zu dick, und ob sie aus dem gehörigen Material geschnitten sind? Oder soll jedem Schul¬ meister bei seiner Anstellung ein Normalprügelszepter von Amts wegen über¬ reicht werden? Und wie oft darf der Lehrer eine Züchtigung verhängen? Darüber ist nirgends etwas gesagt. Es steht dem Lehrer völlig frei, einem Kinde zehn, zwanzig, vierzig Schläge an einem Tage zu geben, ohne im min¬ desten gegen den Buchstaben der Schulordnung zu verstoßen. Die bloße Zahl der Schläge bietet z. B. in Baiern nach der herkömmlichen Praxis überhaupt keinen Grund zu gerichtlichem Einschreiten, wenn sich nicht schwere körperliche Nachwirkungen gezeigt haben. Freilich soll die Körperstrafe nicht „gewohn¬ heitsmäßig" stattfinden. Aber was ist Gewohnheit? Zumal bei der schlaffen Auslegung, wie sie die Gerichte „gewohnheitsmäßig" üben. Nicht einmal die Vergehen, für die der Stock angewendet werden darf, find festgesetzt. „Wenn die gelindern Strafen fruchtlos geblieben sind," heißt es. Das wird aber der Lehrer stets behaupten, und ein andrer wird ihn darin nicht widerlegen können. Insbesondre wegen „hartnäckiger Faulheit und ernster moralischer Vergehen." Ließe man wenigstens das erste weg, so wäre doch einiger Anhalt gegeben, die Rute wenigstens als Unterrichtsmittel zu verbannen, aber durch die Hinter¬ thüre der „hartnäckigen Faulheit" schleicht sie auch hier, wo sie so lähmend und verderblich wirkt, wieder ein. Sehen wir min auf die Zahl der Schläge. „Sechs schlüge auf die Hände (!) oder (bei Knaben) auf das Hinterteil." So in Baiern und Württem-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/22>, abgerufen am 25.08.2024.