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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu solchen Stimmungszwecken oft und mannichfach. Der Widsid, eins der
ältesten und ehrwürdigsten Denkmäler altenglischer und germanischer Poesie
überhaupt, prägt sogar das bezeichnende Wort ulitesg.rü, Mvrgeudämmerungs-
kummer, und ähnliche unheimliches Grauen weckende Zusammensetzungen mit
übt kommen im Veowulf vor: 63.16 ulrtseeMig., der Schädiger zur Zeit des
Morgengrauens (für Grendel), nata ulckllo"'", (für den Drachen) u. a. Wenn
wir bedenken, wie die Bibel an der hier in Betracht kommenden Stelle die Natur
völlig teilnahmlos bleiben läßt, indem das glänzende Gestirn der Sonne an
dem fürchterlichen Zerstvrungstage gerade so hell aufgeht wie an jedem andern,
dem Gott seinen Segen giebt, wie wir in unserm deutschen Gedicht hingegen
das düstere Schreckensereignis sich voransspiegeln sehen in der teilnehmenden
Natur, wie sich der Dichter diese sür seine poetischen Zwecke dienstbar zu machen
weiß, so werden wir doch in dieser bewußten und gewiß selbständigen Zuthat
des Sängers ein beredtes Zeugnis seiner Kunst nud seines germanischen
Empfindens erblicken dürfen.

Auch die nun folgende Hinaufführung Loth durch die Engel ist ziemlich
frei gestaltet: wie in der Bibel fassen ihn die Engel bei der Hand, geleiten
ihn und seine Angehörigen vor die Stadt und heißen ihnen, sich nicht umzu¬
schauen. Dagegen bleibt Loth Gesuch, ihm statt des Gebirges lieber die nahe
Stadt Segor (Zora) anzuweisen, und alles, was sich unmittelbar daran schließt,
ganz weg. Es erschien dem für Erbauungszwecke arbeitenden Dichter als ein
Einschiebsel von rein jüdisch-geschichtlichem Werte und als ein neuer Beweis
gottlosen Unglaubens, da Lot mit diesem Ansinnen ja doch Zweifel in Gottes
unfehlbare Weisheit zu setzen schien, wie es mich die Kommentare auslegen.

Nachdem Lot mit seiner Familie geborgen ist, nimmt die Zerstörung der
Stadt ihren Anfang. Fünfzehn Verse unsrer Dichtung schildern die Katastrophe
nach den änßerst sparsamen Angaben der Genesis Kapitel 19, 24. 25. Von
den einzelnen Erscheinungen des himmlischen Strafgerichts finden sich an der
betreffenden Stelle der Bibel nur zwei aufgeführt: es fällt Schwefel und
Feuer vom Himmel, und der ganze Landstrich mit allem, was darauf ist, mit
seinem Anbau, seineu Bewohnern und seinem gesamten Pflanzenwuchs wird
um und umgekehrt. Beides hat die altsächsische Dichtung auch; außerdem
aber fügt der Dichter noch manches hinzu. Woher die einzelnen Züge ge¬
schöpft sind, läßt sich nicht feststellen, will mich für die Erkenntnis der dichte¬
rischen Eigenart des germanischen Sängers wenig bedeuten. Nur eins lehrt
uns eine Vergleichung des altsächsischen Textes mit dein der Vulgata mit Ge¬
wißheit, daß nämlich der Bearbeiter bei der Schilderung der hereinbrechenden
Zerstörung das Bedürfnis gefühlt hat, mit reichern und glühendem Farben
zu malen als seine sparsame Vorlage. Und auch das dient schon zur Kenn-
zeichnung seiner künstlerischen Persönlichkeit. Er war sich jedenfalls bewußt,
daß er sich nicht mit der Rolle des Zaunkönigs zu begnügen brauchte,


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu solchen Stimmungszwecken oft und mannichfach. Der Widsid, eins der
ältesten und ehrwürdigsten Denkmäler altenglischer und germanischer Poesie
überhaupt, prägt sogar das bezeichnende Wort ulitesg.rü, Mvrgeudämmerungs-
kummer, und ähnliche unheimliches Grauen weckende Zusammensetzungen mit
übt kommen im Veowulf vor: 63.16 ulrtseeMig., der Schädiger zur Zeit des
Morgengrauens (für Grendel), nata ulckllo«'», (für den Drachen) u. a. Wenn
wir bedenken, wie die Bibel an der hier in Betracht kommenden Stelle die Natur
völlig teilnahmlos bleiben läßt, indem das glänzende Gestirn der Sonne an
dem fürchterlichen Zerstvrungstage gerade so hell aufgeht wie an jedem andern,
dem Gott seinen Segen giebt, wie wir in unserm deutschen Gedicht hingegen
das düstere Schreckensereignis sich voransspiegeln sehen in der teilnehmenden
Natur, wie sich der Dichter diese sür seine poetischen Zwecke dienstbar zu machen
weiß, so werden wir doch in dieser bewußten und gewiß selbständigen Zuthat
des Sängers ein beredtes Zeugnis seiner Kunst nud seines germanischen
Empfindens erblicken dürfen.

Auch die nun folgende Hinaufführung Loth durch die Engel ist ziemlich
frei gestaltet: wie in der Bibel fassen ihn die Engel bei der Hand, geleiten
ihn und seine Angehörigen vor die Stadt und heißen ihnen, sich nicht umzu¬
schauen. Dagegen bleibt Loth Gesuch, ihm statt des Gebirges lieber die nahe
Stadt Segor (Zora) anzuweisen, und alles, was sich unmittelbar daran schließt,
ganz weg. Es erschien dem für Erbauungszwecke arbeitenden Dichter als ein
Einschiebsel von rein jüdisch-geschichtlichem Werte und als ein neuer Beweis
gottlosen Unglaubens, da Lot mit diesem Ansinnen ja doch Zweifel in Gottes
unfehlbare Weisheit zu setzen schien, wie es mich die Kommentare auslegen.

Nachdem Lot mit seiner Familie geborgen ist, nimmt die Zerstörung der
Stadt ihren Anfang. Fünfzehn Verse unsrer Dichtung schildern die Katastrophe
nach den änßerst sparsamen Angaben der Genesis Kapitel 19, 24. 25. Von
den einzelnen Erscheinungen des himmlischen Strafgerichts finden sich an der
betreffenden Stelle der Bibel nur zwei aufgeführt: es fällt Schwefel und
Feuer vom Himmel, und der ganze Landstrich mit allem, was darauf ist, mit
seinem Anbau, seineu Bewohnern und seinem gesamten Pflanzenwuchs wird
um und umgekehrt. Beides hat die altsächsische Dichtung auch; außerdem
aber fügt der Dichter noch manches hinzu. Woher die einzelnen Züge ge¬
schöpft sind, läßt sich nicht feststellen, will mich für die Erkenntnis der dichte¬
rischen Eigenart des germanischen Sängers wenig bedeuten. Nur eins lehrt
uns eine Vergleichung des altsächsischen Textes mit dein der Vulgata mit Ge¬
wißheit, daß nämlich der Bearbeiter bei der Schilderung der hereinbrechenden
Zerstörung das Bedürfnis gefühlt hat, mit reichern und glühendem Farben
zu malen als seine sparsame Vorlage. Und auch das dient schon zur Kenn-
zeichnung seiner künstlerischen Persönlichkeit. Er war sich jedenfalls bewußt,
daß er sich nicht mit der Rolle des Zaunkönigs zu begnügen brauchte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/200>, abgerufen am 05.02.2025.