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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu tilgen, dürfte der Sänger, dessen Volke alles, was weibliche Zucht und
häusliche Sitte hieß, heilig und unverletzlich war, Wohl die Motivirung und
Charakteristik einigermaßen Einbuße erleiden lassen.

Wie schön und anschaulich ist aber nun wieder gegenüber der knappen
Zeitbestimmung der Vulgata (pun<ins v880t ahmt: dn es Tag wurde) die
Stimmung des anbrechenden Morgens getroffen:

Eine ähnliche Rolle spielt der Hahn auch bei der Schilderung des Weltunter¬
gangs in der Völuspa. einem Seherliede der Edda. Auf dem Hügel von
Jötunheim (Riesenheim) sitzt Eggther, der srohe Wächter, und schlägt die Harfe.
Dann heißt es: "Über ihm sang im Vogelholze ein schön roter Hahn, Fialarr
genannt. Sang ob den Asen Gnllinkambi (Gvldkmnm): der weckt die Männer
in Heervaters Hanse. Aber ein andrer singt unter der Erde unten, ein ru߬
roter Hahn in den Sälen der Hel." Dann bellt laut der Höllenhund Garmr,
der gefesselte Fenrir reißt sich los. Auch unter den Menschen sind alle Bande
gelöst, die ganze Natur bebt, die Esche Mgdrasil zittert, die Götter stürme"
zum Kampfe, die Ragnarök (Göttergeschick) brechen herein, dann erlischt auch
das Sonnenlicht, die Erde sinkt ins Meer, und die Lohe schlägt bis in den
Himmel: das ist der Muspell, die Weltvernichtnng. Litterarische Benutzung
dieser Stelle ist ausgeschlossen; denn jenes Eddalied wurde erst im dreizehnte"
Jahrhundert niedergeschrieben. Aber entstände" sein kau" es mit der alt-
sächsischen Heiland- und Gcuesisdichtuug ""gefahr gleichzeitig. Und wenn man
auch erst für Gedichte des zehnten Jahrhunderts Verwertung der Völuspa
nachgewiesen hat, so könnte die angeführte Stelle doch wohl die Geläufigkeit
des von unsrer Genesisstelle verwendeten Naturbildes in der germanischen Vor¬
stellungswelt verbürgen. Damit halte ich aber den mythischen und poetischen
Wert der altsächsischen Morgenschildernng noch nicht für erschöpft. Otto
Lüning (Die Natur, ihre Auffassung und poetische Verwendung in der alt¬
germanischen und mittelhochdeutschen Epik bis zum Abschlüsse der Blütezeit,
1889) hat mit Hilfe einer reichen Sammlung von Belegstoffen die ullts, die
"Vormorgendämmerung," in der altgermnnischen Poesie als eine Weckerin trüber
Gedanken und Verkündigerin schlimmer Ereignisse erwiesen. Namentlich die
angelsächsische Dichtung, die ja in düster" Bildern -- hierin eine Vvrläuferin
der sogenannte" Ossianischen Lieder - förmlich schwelgt, verwendet die ullo


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu tilgen, dürfte der Sänger, dessen Volke alles, was weibliche Zucht und
häusliche Sitte hieß, heilig und unverletzlich war, Wohl die Motivirung und
Charakteristik einigermaßen Einbuße erleiden lassen.

Wie schön und anschaulich ist aber nun wieder gegenüber der knappen
Zeitbestimmung der Vulgata (pun<ins v880t ahmt: dn es Tag wurde) die
Stimmung des anbrechenden Morgens getroffen:

Eine ähnliche Rolle spielt der Hahn auch bei der Schilderung des Weltunter¬
gangs in der Völuspa. einem Seherliede der Edda. Auf dem Hügel von
Jötunheim (Riesenheim) sitzt Eggther, der srohe Wächter, und schlägt die Harfe.
Dann heißt es: „Über ihm sang im Vogelholze ein schön roter Hahn, Fialarr
genannt. Sang ob den Asen Gnllinkambi (Gvldkmnm): der weckt die Männer
in Heervaters Hanse. Aber ein andrer singt unter der Erde unten, ein ru߬
roter Hahn in den Sälen der Hel." Dann bellt laut der Höllenhund Garmr,
der gefesselte Fenrir reißt sich los. Auch unter den Menschen sind alle Bande
gelöst, die ganze Natur bebt, die Esche Mgdrasil zittert, die Götter stürme»
zum Kampfe, die Ragnarök (Göttergeschick) brechen herein, dann erlischt auch
das Sonnenlicht, die Erde sinkt ins Meer, und die Lohe schlägt bis in den
Himmel: das ist der Muspell, die Weltvernichtnng. Litterarische Benutzung
dieser Stelle ist ausgeschlossen; denn jenes Eddalied wurde erst im dreizehnte»
Jahrhundert niedergeschrieben. Aber entstände» sein kau» es mit der alt-
sächsischen Heiland- und Gcuesisdichtuug »»gefahr gleichzeitig. Und wenn man
auch erst für Gedichte des zehnten Jahrhunderts Verwertung der Völuspa
nachgewiesen hat, so könnte die angeführte Stelle doch wohl die Geläufigkeit
des von unsrer Genesisstelle verwendeten Naturbildes in der germanischen Vor¬
stellungswelt verbürgen. Damit halte ich aber den mythischen und poetischen
Wert der altsächsischen Morgenschildernng noch nicht für erschöpft. Otto
Lüning (Die Natur, ihre Auffassung und poetische Verwendung in der alt¬
germanischen und mittelhochdeutschen Epik bis zum Abschlüsse der Blütezeit,
1889) hat mit Hilfe einer reichen Sammlung von Belegstoffen die ullts, die
„Vormorgendämmerung," in der altgermnnischen Poesie als eine Weckerin trüber
Gedanken und Verkündigerin schlimmer Ereignisse erwiesen. Namentlich die
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der sogenannte» Ossianischen Lieder - förmlich schwelgt, verwendet die ullo


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[0199] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand zu tilgen, dürfte der Sänger, dessen Volke alles, was weibliche Zucht und häusliche Sitte hieß, heilig und unverletzlich war, Wohl die Motivirung und Charakteristik einigermaßen Einbuße erleiden lassen. Wie schön und anschaulich ist aber nun wieder gegenüber der knappen Zeitbestimmung der Vulgata (pun<ins v880t ahmt: dn es Tag wurde) die Stimmung des anbrechenden Morgens getroffen: Eine ähnliche Rolle spielt der Hahn auch bei der Schilderung des Weltunter¬ gangs in der Völuspa. einem Seherliede der Edda. Auf dem Hügel von Jötunheim (Riesenheim) sitzt Eggther, der srohe Wächter, und schlägt die Harfe. Dann heißt es: „Über ihm sang im Vogelholze ein schön roter Hahn, Fialarr genannt. Sang ob den Asen Gnllinkambi (Gvldkmnm): der weckt die Männer in Heervaters Hanse. Aber ein andrer singt unter der Erde unten, ein ru߬ roter Hahn in den Sälen der Hel." Dann bellt laut der Höllenhund Garmr, der gefesselte Fenrir reißt sich los. Auch unter den Menschen sind alle Bande gelöst, die ganze Natur bebt, die Esche Mgdrasil zittert, die Götter stürme» zum Kampfe, die Ragnarök (Göttergeschick) brechen herein, dann erlischt auch das Sonnenlicht, die Erde sinkt ins Meer, und die Lohe schlägt bis in den Himmel: das ist der Muspell, die Weltvernichtnng. Litterarische Benutzung dieser Stelle ist ausgeschlossen; denn jenes Eddalied wurde erst im dreizehnte» Jahrhundert niedergeschrieben. Aber entstände» sein kau» es mit der alt- sächsischen Heiland- und Gcuesisdichtuug »»gefahr gleichzeitig. Und wenn man auch erst für Gedichte des zehnten Jahrhunderts Verwertung der Völuspa nachgewiesen hat, so könnte die angeführte Stelle doch wohl die Geläufigkeit des von unsrer Genesisstelle verwendeten Naturbildes in der germanischen Vor¬ stellungswelt verbürgen. Damit halte ich aber den mythischen und poetischen Wert der altsächsischen Morgenschildernng noch nicht für erschöpft. Otto Lüning (Die Natur, ihre Auffassung und poetische Verwendung in der alt¬ germanischen und mittelhochdeutschen Epik bis zum Abschlüsse der Blütezeit, 1889) hat mit Hilfe einer reichen Sammlung von Belegstoffen die ullts, die „Vormorgendämmerung," in der altgermnnischen Poesie als eine Weckerin trüber Gedanken und Verkündigerin schlimmer Ereignisse erwiesen. Namentlich die angelsächsische Dichtung, die ja in düster» Bildern — hierin eine Vvrläuferin der sogenannte» Ossianischen Lieder - förmlich schwelgt, verwendet die ullo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/199>, abgerufen am 26.07.2024.