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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Erst nach der selbständigen Erforschung der sittlichen Zustände in Sodvms
Straßen begeben sich nun die Engel zu Lot. Seine Einführung geschieht mit
reichlichen eignen Zuthaten des Dichters, die für seine Charakteristik nicht un¬
wichtig sind. Lot, dem demütigen Gottesknecht des Alten Testaments, wie
seinem Weibe leiht der Germane eidliches Geschlecht: er ist der aüsIdurcliA rrum,
seine Ehehälfte die latis käsldorsn. Diese Beziehungen haben ihre Ursache in
der Thatsache, daß das germanische Epos durchgehend Thaten des Adels ver¬
herrlicht: nur die edle Abstammung erwirbt das Lied des Säugers. Daher
sind auch die aus den Evangelien in den Heiland übernommnen Personen,
wenn sie irgend eine Rolle spielen, von hoher Abkunft: die doch aus den
niedrigsten Volkskreisen stammenden Jünger heißen erlös .läMorang. (edel-
bürtige Männer), und selbst der ungenannte Süemcmn des Gleichnisses ist ein
Ällalss man. Auch die Lot sonst noch beigelegten Eigenschaften, mannhafte
Tüchtigkeit und weiser Rat, sind ganz nach dem Herzen des germanischen Helden¬
liedes damaliger Zeit.

Wie der Dichter die Natur zu beleben und allgemeine Angaben anschaulich
zu individualisiren versteht, mögen zwei hierher gehörige Beispiele zeigen.
Anstatt der trocknen Zeitangabe "des Abends," mit der sich die Bibel begnügt,
heißt es im Altsächsischen:

lluio to soäl^ NNSA surma t)Kill Iron",
g-IIaro dokrw Ksriltost. . .
Als sich zu Lager ließ leuchtend die Sonne,
Aller Gestirne strahlendstes .. .

und statt des kargen s-rein viäissot. 608 (da er sie sah) steht:

^'uno AiSÄN Kg !"n ÜÄdÄncl ongilos tuvnt!
A-MAVN illvA, AiU'dos. , .
Da sah er am Abend zwei Engel gehen
Hin zu den Gchdsten .. .

Die Bewirtung der Engel, von der auch hier die Bibel erzählt, bleibt wie
bei Abraham weg, weil es dem jungen Christentum anstößig erschien, daß
auch himmlische Wesen leibliche Bedürfnisse und Genüsse kannten; dafür findet
sich aber auch hier wieder, wie bei Abrahams Einführung, Loth demütige
Dienstfertigkeit desto nachdrücklicher und umständlicher betont. Man hat gegen
diese Darstellung eingewendet, Loth Gastfreundschaft erscheine hier viel weniger
verdienstvoll als in der Bibel, da er die Engel ja sofort als Engel erkenne
und lange nicht auf eine so harte Probe gestellt werde wie im Alten Testament,
das ihn selbst seine Töchter preisgeben läßt, um seine Gastfreundschaft im
hellsten Lichte zu zeigen. Ja, wenn nur das Verdienst dieser Gastfreundschaft
nicht gerade mit solchem Preise hätte erkauft werden müssen! Um aus seiner
volkstümlichen Dichtung ein solches Schandmal der Gesinnung des edeln Lot


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Erst nach der selbständigen Erforschung der sittlichen Zustände in Sodvms
Straßen begeben sich nun die Engel zu Lot. Seine Einführung geschieht mit
reichlichen eignen Zuthaten des Dichters, die für seine Charakteristik nicht un¬
wichtig sind. Lot, dem demütigen Gottesknecht des Alten Testaments, wie
seinem Weibe leiht der Germane eidliches Geschlecht: er ist der aüsIdurcliA rrum,
seine Ehehälfte die latis käsldorsn. Diese Beziehungen haben ihre Ursache in
der Thatsache, daß das germanische Epos durchgehend Thaten des Adels ver¬
herrlicht: nur die edle Abstammung erwirbt das Lied des Säugers. Daher
sind auch die aus den Evangelien in den Heiland übernommnen Personen,
wenn sie irgend eine Rolle spielen, von hoher Abkunft: die doch aus den
niedrigsten Volkskreisen stammenden Jünger heißen erlös .läMorang. (edel-
bürtige Männer), und selbst der ungenannte Süemcmn des Gleichnisses ist ein
Ällalss man. Auch die Lot sonst noch beigelegten Eigenschaften, mannhafte
Tüchtigkeit und weiser Rat, sind ganz nach dem Herzen des germanischen Helden¬
liedes damaliger Zeit.

Wie der Dichter die Natur zu beleben und allgemeine Angaben anschaulich
zu individualisiren versteht, mögen zwei hierher gehörige Beispiele zeigen.
Anstatt der trocknen Zeitangabe „des Abends," mit der sich die Bibel begnügt,
heißt es im Altsächsischen:

lluio to soäl^ NNSA surma t)Kill Iron»,
g-IIaro dokrw Ksriltost. . .
Als sich zu Lager ließ leuchtend die Sonne,
Aller Gestirne strahlendstes .. .

und statt des kargen s-rein viäissot. 608 (da er sie sah) steht:

^'uno AiSÄN Kg !»n ÜÄdÄncl ongilos tuvnt!
A-MAVN illvA, AiU'dos. , .
Da sah er am Abend zwei Engel gehen
Hin zu den Gchdsten .. .

Die Bewirtung der Engel, von der auch hier die Bibel erzählt, bleibt wie
bei Abraham weg, weil es dem jungen Christentum anstößig erschien, daß
auch himmlische Wesen leibliche Bedürfnisse und Genüsse kannten; dafür findet
sich aber auch hier wieder, wie bei Abrahams Einführung, Loth demütige
Dienstfertigkeit desto nachdrücklicher und umständlicher betont. Man hat gegen
diese Darstellung eingewendet, Loth Gastfreundschaft erscheine hier viel weniger
verdienstvoll als in der Bibel, da er die Engel ja sofort als Engel erkenne
und lange nicht auf eine so harte Probe gestellt werde wie im Alten Testament,
das ihn selbst seine Töchter preisgeben läßt, um seine Gastfreundschaft im
hellsten Lichte zu zeigen. Ja, wenn nur das Verdienst dieser Gastfreundschaft
nicht gerade mit solchem Preise hätte erkauft werden müssen! Um aus seiner
volkstümlichen Dichtung ein solches Schandmal der Gesinnung des edeln Lot


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[0198] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand Erst nach der selbständigen Erforschung der sittlichen Zustände in Sodvms Straßen begeben sich nun die Engel zu Lot. Seine Einführung geschieht mit reichlichen eignen Zuthaten des Dichters, die für seine Charakteristik nicht un¬ wichtig sind. Lot, dem demütigen Gottesknecht des Alten Testaments, wie seinem Weibe leiht der Germane eidliches Geschlecht: er ist der aüsIdurcliA rrum, seine Ehehälfte die latis käsldorsn. Diese Beziehungen haben ihre Ursache in der Thatsache, daß das germanische Epos durchgehend Thaten des Adels ver¬ herrlicht: nur die edle Abstammung erwirbt das Lied des Säugers. Daher sind auch die aus den Evangelien in den Heiland übernommnen Personen, wenn sie irgend eine Rolle spielen, von hoher Abkunft: die doch aus den niedrigsten Volkskreisen stammenden Jünger heißen erlös .läMorang. (edel- bürtige Männer), und selbst der ungenannte Süemcmn des Gleichnisses ist ein Ällalss man. Auch die Lot sonst noch beigelegten Eigenschaften, mannhafte Tüchtigkeit und weiser Rat, sind ganz nach dem Herzen des germanischen Helden¬ liedes damaliger Zeit. Wie der Dichter die Natur zu beleben und allgemeine Angaben anschaulich zu individualisiren versteht, mögen zwei hierher gehörige Beispiele zeigen. Anstatt der trocknen Zeitangabe „des Abends," mit der sich die Bibel begnügt, heißt es im Altsächsischen: lluio to soäl^ NNSA surma t)Kill Iron», g-IIaro dokrw Ksriltost. . . Als sich zu Lager ließ leuchtend die Sonne, Aller Gestirne strahlendstes .. . und statt des kargen s-rein viäissot. 608 (da er sie sah) steht: ^'uno AiSÄN Kg !»n ÜÄdÄncl ongilos tuvnt! A-MAVN illvA, AiU'dos. , . Da sah er am Abend zwei Engel gehen Hin zu den Gchdsten .. . Die Bewirtung der Engel, von der auch hier die Bibel erzählt, bleibt wie bei Abraham weg, weil es dem jungen Christentum anstößig erschien, daß auch himmlische Wesen leibliche Bedürfnisse und Genüsse kannten; dafür findet sich aber auch hier wieder, wie bei Abrahams Einführung, Loth demütige Dienstfertigkeit desto nachdrücklicher und umständlicher betont. Man hat gegen diese Darstellung eingewendet, Loth Gastfreundschaft erscheine hier viel weniger verdienstvoll als in der Bibel, da er die Engel ja sofort als Engel erkenne und lange nicht auf eine so harte Probe gestellt werde wie im Alten Testament, das ihn selbst seine Töchter preisgeben läßt, um seine Gastfreundschaft im hellsten Lichte zu zeigen. Ja, wenn nur das Verdienst dieser Gastfreundschaft nicht gerade mit solchem Preise hätte erkauft werden müssen! Um aus seiner volkstümlichen Dichtung ein solches Schandmal der Gesinnung des edeln Lot

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/198>, abgerufen am 25.07.2024.