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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Germanen dies Ablisten und Abdrängen widerwärtig erschien, und daß er sich
deshalb gedrängt fühlte, den orientalischen Ballast, wenn auch nicht ganz
über Bord zu werfen, so doch zu verringern. Der Schluß des Abschnitts
betont, unabhängig von der Quelle, noch einmal die demütige Gottergebenheit
Abrahams durch Kniefall und Opferversprechen, um wegen seines freimütiger
Verkehrs mit Gott auch nicht den geringsten Verdacht einer unziemlichen Über-
yebung gegen ihn aufkommen zu lassen. Dann entfernt sich Abraham, wie
in der Genesis, und die Engel gehen nach Sodom, wie es Gott bestimmt hat.

Das letzte Bruchstück ist eine Bearbeitung der Verse Kapitel 19, 1--26 des
ersten Buchs Mosis. Es erzählt die Erlebnisse der Engel in Sodom, die
Errettung Loth und die Zerstörung der Stadt. Was die Folge der Ereignisse
betrifft, so ist diese hier gegenüber der alttestamentlichen Darstellung ganz
verändert. Während dort gleich die Begegnung der Engel mit dem am Abend
vor seiner Thür sitzenden Lot erzählt wird, läßt unser Dichter die Voden zu¬
nächst allein durch die Stadt gehen, wobei sie "in jedem Hause sündige Leute
Frevel verüben hören und das Seufzen der dem Tode Geweihten." Diese
Erfahrung reicht hin, die Engel von der allgemeinen Sündeuverderbnis der
Sodomiter zu überzeugen; der nächtliche Sturm auf Loth Haus bleibt weg.
Wenn sich der Dichter, den sonst alles Anschauliche und Handlungsvvlle
lockt, ein so lebendiges und bewegtes Bild entgehen ließ, wie es die Bibel in
der Erzählung jenes Überfalls entwirft, so müssen ihn zu dieser Entsagung
triftige Bedenken vermocht haben. Und in der That mußten die unnatürlichen,
orientalisch gefärbten Gelüste der Sodomiter, wie sie sich in der Genesis bei
ihrem Anschlag ganz unverhüllt äußern, sowie Loth abscheuliches Angebot,
ihnen anstatt der Gastfrennde lieber seine eignen Töchter preiszugeben, einem
auf die moralische Erziehung seiner Hörer bedachten Sänger als sehr zwei¬
schneidige und gefährliche Motive erscheinen, ganz abgesehen von dem wider¬
wärtigen Eindruck, den er offenbar selbst von diesen Dingen empfing. Des¬
halb setzte er an die Stelle von Päderastie und väterlicher Kuppelei das dem
Germanen verständlichere und geläufigere Verbrechen des Mords. Als Ver¬
führer zu diesen Freveln werden, unabhängig von der biblischen Vorlage, die
llunä, die visöu. pinel (böse Wichte) genannt, ein Entgegenkommen des Dichters
zu Gunsten der immer nach Konkretem und Persönlichen verlangenden naiven
Vorstellungskraft seiner Sachsen, sowie ihres altheimischen, tief eingewurzelten
Aberglaubens. Auch unser Dichter also verstand sich auf den alten Missionar-
knnstgriff, der gern diese oder jene der angestammten heidnischen Vorstellungen
unangetastet ließ oder sich begnügte, sie rein äußerlich mit einem christlichen
Müutelchen zu bedecken. Denn >pinel sind Gestalten urgermanischer Mytho¬
logie und bedeuteten dem Sachsen des neunten Jahrhunderts, ähnlich wie die
Eisen, jene kleinen seelischen Wesen, die in nächtlichem Treiben geschäftig sind,
Unheil zu säen und Böses zu stiften.


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Germanen dies Ablisten und Abdrängen widerwärtig erschien, und daß er sich
deshalb gedrängt fühlte, den orientalischen Ballast, wenn auch nicht ganz
über Bord zu werfen, so doch zu verringern. Der Schluß des Abschnitts
betont, unabhängig von der Quelle, noch einmal die demütige Gottergebenheit
Abrahams durch Kniefall und Opferversprechen, um wegen seines freimütiger
Verkehrs mit Gott auch nicht den geringsten Verdacht einer unziemlichen Über-
yebung gegen ihn aufkommen zu lassen. Dann entfernt sich Abraham, wie
in der Genesis, und die Engel gehen nach Sodom, wie es Gott bestimmt hat.

Das letzte Bruchstück ist eine Bearbeitung der Verse Kapitel 19, 1—26 des
ersten Buchs Mosis. Es erzählt die Erlebnisse der Engel in Sodom, die
Errettung Loth und die Zerstörung der Stadt. Was die Folge der Ereignisse
betrifft, so ist diese hier gegenüber der alttestamentlichen Darstellung ganz
verändert. Während dort gleich die Begegnung der Engel mit dem am Abend
vor seiner Thür sitzenden Lot erzählt wird, läßt unser Dichter die Voden zu¬
nächst allein durch die Stadt gehen, wobei sie „in jedem Hause sündige Leute
Frevel verüben hören und das Seufzen der dem Tode Geweihten." Diese
Erfahrung reicht hin, die Engel von der allgemeinen Sündeuverderbnis der
Sodomiter zu überzeugen; der nächtliche Sturm auf Loth Haus bleibt weg.
Wenn sich der Dichter, den sonst alles Anschauliche und Handlungsvvlle
lockt, ein so lebendiges und bewegtes Bild entgehen ließ, wie es die Bibel in
der Erzählung jenes Überfalls entwirft, so müssen ihn zu dieser Entsagung
triftige Bedenken vermocht haben. Und in der That mußten die unnatürlichen,
orientalisch gefärbten Gelüste der Sodomiter, wie sie sich in der Genesis bei
ihrem Anschlag ganz unverhüllt äußern, sowie Loth abscheuliches Angebot,
ihnen anstatt der Gastfrennde lieber seine eignen Töchter preiszugeben, einem
auf die moralische Erziehung seiner Hörer bedachten Sänger als sehr zwei¬
schneidige und gefährliche Motive erscheinen, ganz abgesehen von dem wider¬
wärtigen Eindruck, den er offenbar selbst von diesen Dingen empfing. Des¬
halb setzte er an die Stelle von Päderastie und väterlicher Kuppelei das dem
Germanen verständlichere und geläufigere Verbrechen des Mords. Als Ver¬
führer zu diesen Freveln werden, unabhängig von der biblischen Vorlage, die
llunä, die visöu. pinel (böse Wichte) genannt, ein Entgegenkommen des Dichters
zu Gunsten der immer nach Konkretem und Persönlichen verlangenden naiven
Vorstellungskraft seiner Sachsen, sowie ihres altheimischen, tief eingewurzelten
Aberglaubens. Auch unser Dichter also verstand sich auf den alten Missionar-
knnstgriff, der gern diese oder jene der angestammten heidnischen Vorstellungen
unangetastet ließ oder sich begnügte, sie rein äußerlich mit einem christlichen
Müutelchen zu bedecken. Denn >pinel sind Gestalten urgermanischer Mytho¬
logie und bedeuteten dem Sachsen des neunten Jahrhunderts, ähnlich wie die
Eisen, jene kleinen seelischen Wesen, die in nächtlichem Treiben geschäftig sind,
Unheil zu säen und Böses zu stiften.


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[0197] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand Germanen dies Ablisten und Abdrängen widerwärtig erschien, und daß er sich deshalb gedrängt fühlte, den orientalischen Ballast, wenn auch nicht ganz über Bord zu werfen, so doch zu verringern. Der Schluß des Abschnitts betont, unabhängig von der Quelle, noch einmal die demütige Gottergebenheit Abrahams durch Kniefall und Opferversprechen, um wegen seines freimütiger Verkehrs mit Gott auch nicht den geringsten Verdacht einer unziemlichen Über- yebung gegen ihn aufkommen zu lassen. Dann entfernt sich Abraham, wie in der Genesis, und die Engel gehen nach Sodom, wie es Gott bestimmt hat. Das letzte Bruchstück ist eine Bearbeitung der Verse Kapitel 19, 1—26 des ersten Buchs Mosis. Es erzählt die Erlebnisse der Engel in Sodom, die Errettung Loth und die Zerstörung der Stadt. Was die Folge der Ereignisse betrifft, so ist diese hier gegenüber der alttestamentlichen Darstellung ganz verändert. Während dort gleich die Begegnung der Engel mit dem am Abend vor seiner Thür sitzenden Lot erzählt wird, läßt unser Dichter die Voden zu¬ nächst allein durch die Stadt gehen, wobei sie „in jedem Hause sündige Leute Frevel verüben hören und das Seufzen der dem Tode Geweihten." Diese Erfahrung reicht hin, die Engel von der allgemeinen Sündeuverderbnis der Sodomiter zu überzeugen; der nächtliche Sturm auf Loth Haus bleibt weg. Wenn sich der Dichter, den sonst alles Anschauliche und Handlungsvvlle lockt, ein so lebendiges und bewegtes Bild entgehen ließ, wie es die Bibel in der Erzählung jenes Überfalls entwirft, so müssen ihn zu dieser Entsagung triftige Bedenken vermocht haben. Und in der That mußten die unnatürlichen, orientalisch gefärbten Gelüste der Sodomiter, wie sie sich in der Genesis bei ihrem Anschlag ganz unverhüllt äußern, sowie Loth abscheuliches Angebot, ihnen anstatt der Gastfrennde lieber seine eignen Töchter preiszugeben, einem auf die moralische Erziehung seiner Hörer bedachten Sänger als sehr zwei¬ schneidige und gefährliche Motive erscheinen, ganz abgesehen von dem wider¬ wärtigen Eindruck, den er offenbar selbst von diesen Dingen empfing. Des¬ halb setzte er an die Stelle von Päderastie und väterlicher Kuppelei das dem Germanen verständlichere und geläufigere Verbrechen des Mords. Als Ver¬ führer zu diesen Freveln werden, unabhängig von der biblischen Vorlage, die llunä, die visöu. pinel (böse Wichte) genannt, ein Entgegenkommen des Dichters zu Gunsten der immer nach Konkretem und Persönlichen verlangenden naiven Vorstellungskraft seiner Sachsen, sowie ihres altheimischen, tief eingewurzelten Aberglaubens. Auch unser Dichter also verstand sich auf den alten Missionar- knnstgriff, der gern diese oder jene der angestammten heidnischen Vorstellungen unangetastet ließ oder sich begnügte, sie rein äußerlich mit einem christlichen Müutelchen zu bedecken. Denn >pinel sind Gestalten urgermanischer Mytho¬ logie und bedeuteten dem Sachsen des neunten Jahrhunderts, ähnlich wie die Eisen, jene kleinen seelischen Wesen, die in nächtlichem Treiben geschäftig sind, Unheil zu säen und Böses zu stiften.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/197>, abgerufen am 25.07.2024.