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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Wird haben entgehen lassen, daß sich ihm ferner die Geschichte vom Turmbau zu
Babel des lebendigen Bildes wegen, das daraus mit leichter Mühe zu ge¬
stalten war, als ein lockender Gipfelpunkt der Genesiserzählungen empfahl, und
daß endlich auch die Hauptzüge der in den Kapiteln 12 bis 17 erzählten Ge¬
schichte Abrahams, namentlich soweit sie Metall zur Ausprägung lehrhafter
Weisungen und Vorschriften bot, dargestellt waren.

Bei Kapitel 18 der Genesis beginnt unser drittes Bruchstück, in dem man
deutlich zwei Abschnitte unterscheiden kann. Der erste behandelt die Verkün¬
digung des über Sodom und Gomorrha verhängten Strafgerichts an Abraham;
der zweite Loth Errettung und den Untergang der sündhaften Städte. Un¬
gemein rasch, lebendig und anschaulich wird die Begegnung des Herrn und
seiner Engel mit dem gerade bei einem Opfer beschäftigten Abraham dargestellt.
Die Fußwaschung, die der Germane an nichts ähnliches seiner heimischen
Bräuche anknüpfen konnte, die ihn also fremd anmuten und ihm unverständ¬
lich bleiben mußte, samt der Bewirtung des Herrn, die den hohen Himmels¬
könig doch gar zu menschlich bedürftig erscheinen ließ, wird verschwiegen, wie
ähnlich im Heiland die verschiednen Sabbathentweihungen und Waschungs¬
streitigkeiten getilgt sind. Aber damit nicht genug: auch die ganze Episode der
wiederholten Verheißung Jsaaks mit dem ungläubigen Lachen der Sarah, der
Gott noch im neunzigsten Lebensjahre einen Sohn verspricht, bleibt unerwähnt.
Dies mußte dem Dichter, der im Heliand den sonderbaren Aufzug des Johannes
in der Wüste, sowie den vom Täufer geäußerten Zweifel an Jesu Messias¬
schaft mit mißbilligenden Stillschweigen übergeht, im höchsten Grade anstößig
und widerwärtig erscheinen, zumal da die Vulgata in der Wahl ihrer Aus¬
drücke hier nicht gerade zart verfährt. Überdies mochte dem Sänger die Furcht
kommen, daß seine Hörer, denen Lachen und Ehrfurcht schwerlich verträgliche
Dinge waren, Sarahs EinWurf mißverstanden -- sei es auch nur als Zweifel
an der Zuverlässigkeit göttlicher Voraussagung -- und sich einen ganz falschen
Vers darauf machten. Einer ähnlichen Erwägung zuliebe hat der deutsche
Bearbeiter ferner die Fürbitte umgestaltet, die Abraham für die Sodomiter
einlegt. Im Alten Testament bittet Abraham den Herrn, sie zu verschonen,
wenn er fünfzig, dann, wenn er fünfundvierzig, dann, wenn er vierzig, dann,
wenn er dreißig, dann, wenn er zwanzig, und endlich, wenn er zehn Ge¬
rechte darin fände. Dieses Feilschen um die Errettung der Stadt -- so darf
man das berechnende, bohrende und lauernde "Herunterhandeln" des ver¬
schlagnen Semiten, der seinen Gott sozusagen wie einen gutmütigen Geschäfts¬
freund behandelt, wohl bezeichnen -- ist in unsrer Dichtung von der fünf¬
fachen Wiederholung des barmherzigen Kunstgriffs, die die Genesis hat, ans
eine zweifache herabgesetzt (von fünfzig über dreißig sofort auf zehn). Man
darf hier wohl getrost behaupten, ohne sich einer dentschtümelnden Schön¬
färberei schuldig zu machen, daß dem geraden, allen Winkelzügen abholden


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Wird haben entgehen lassen, daß sich ihm ferner die Geschichte vom Turmbau zu
Babel des lebendigen Bildes wegen, das daraus mit leichter Mühe zu ge¬
stalten war, als ein lockender Gipfelpunkt der Genesiserzählungen empfahl, und
daß endlich auch die Hauptzüge der in den Kapiteln 12 bis 17 erzählten Ge¬
schichte Abrahams, namentlich soweit sie Metall zur Ausprägung lehrhafter
Weisungen und Vorschriften bot, dargestellt waren.

Bei Kapitel 18 der Genesis beginnt unser drittes Bruchstück, in dem man
deutlich zwei Abschnitte unterscheiden kann. Der erste behandelt die Verkün¬
digung des über Sodom und Gomorrha verhängten Strafgerichts an Abraham;
der zweite Loth Errettung und den Untergang der sündhaften Städte. Un¬
gemein rasch, lebendig und anschaulich wird die Begegnung des Herrn und
seiner Engel mit dem gerade bei einem Opfer beschäftigten Abraham dargestellt.
Die Fußwaschung, die der Germane an nichts ähnliches seiner heimischen
Bräuche anknüpfen konnte, die ihn also fremd anmuten und ihm unverständ¬
lich bleiben mußte, samt der Bewirtung des Herrn, die den hohen Himmels¬
könig doch gar zu menschlich bedürftig erscheinen ließ, wird verschwiegen, wie
ähnlich im Heiland die verschiednen Sabbathentweihungen und Waschungs¬
streitigkeiten getilgt sind. Aber damit nicht genug: auch die ganze Episode der
wiederholten Verheißung Jsaaks mit dem ungläubigen Lachen der Sarah, der
Gott noch im neunzigsten Lebensjahre einen Sohn verspricht, bleibt unerwähnt.
Dies mußte dem Dichter, der im Heliand den sonderbaren Aufzug des Johannes
in der Wüste, sowie den vom Täufer geäußerten Zweifel an Jesu Messias¬
schaft mit mißbilligenden Stillschweigen übergeht, im höchsten Grade anstößig
und widerwärtig erscheinen, zumal da die Vulgata in der Wahl ihrer Aus¬
drücke hier nicht gerade zart verfährt. Überdies mochte dem Sänger die Furcht
kommen, daß seine Hörer, denen Lachen und Ehrfurcht schwerlich verträgliche
Dinge waren, Sarahs EinWurf mißverstanden — sei es auch nur als Zweifel
an der Zuverlässigkeit göttlicher Voraussagung — und sich einen ganz falschen
Vers darauf machten. Einer ähnlichen Erwägung zuliebe hat der deutsche
Bearbeiter ferner die Fürbitte umgestaltet, die Abraham für die Sodomiter
einlegt. Im Alten Testament bittet Abraham den Herrn, sie zu verschonen,
wenn er fünfzig, dann, wenn er fünfundvierzig, dann, wenn er vierzig, dann,
wenn er dreißig, dann, wenn er zwanzig, und endlich, wenn er zehn Ge¬
rechte darin fände. Dieses Feilschen um die Errettung der Stadt — so darf
man das berechnende, bohrende und lauernde „Herunterhandeln" des ver¬
schlagnen Semiten, der seinen Gott sozusagen wie einen gutmütigen Geschäfts¬
freund behandelt, wohl bezeichnen — ist in unsrer Dichtung von der fünf¬
fachen Wiederholung des barmherzigen Kunstgriffs, die die Genesis hat, ans
eine zweifache herabgesetzt (von fünfzig über dreißig sofort auf zehn). Man
darf hier wohl getrost behaupten, ohne sich einer dentschtümelnden Schön¬
färberei schuldig zu machen, daß dem geraden, allen Winkelzügen abholden


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[0196] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand Wird haben entgehen lassen, daß sich ihm ferner die Geschichte vom Turmbau zu Babel des lebendigen Bildes wegen, das daraus mit leichter Mühe zu ge¬ stalten war, als ein lockender Gipfelpunkt der Genesiserzählungen empfahl, und daß endlich auch die Hauptzüge der in den Kapiteln 12 bis 17 erzählten Ge¬ schichte Abrahams, namentlich soweit sie Metall zur Ausprägung lehrhafter Weisungen und Vorschriften bot, dargestellt waren. Bei Kapitel 18 der Genesis beginnt unser drittes Bruchstück, in dem man deutlich zwei Abschnitte unterscheiden kann. Der erste behandelt die Verkün¬ digung des über Sodom und Gomorrha verhängten Strafgerichts an Abraham; der zweite Loth Errettung und den Untergang der sündhaften Städte. Un¬ gemein rasch, lebendig und anschaulich wird die Begegnung des Herrn und seiner Engel mit dem gerade bei einem Opfer beschäftigten Abraham dargestellt. Die Fußwaschung, die der Germane an nichts ähnliches seiner heimischen Bräuche anknüpfen konnte, die ihn also fremd anmuten und ihm unverständ¬ lich bleiben mußte, samt der Bewirtung des Herrn, die den hohen Himmels¬ könig doch gar zu menschlich bedürftig erscheinen ließ, wird verschwiegen, wie ähnlich im Heiland die verschiednen Sabbathentweihungen und Waschungs¬ streitigkeiten getilgt sind. Aber damit nicht genug: auch die ganze Episode der wiederholten Verheißung Jsaaks mit dem ungläubigen Lachen der Sarah, der Gott noch im neunzigsten Lebensjahre einen Sohn verspricht, bleibt unerwähnt. Dies mußte dem Dichter, der im Heliand den sonderbaren Aufzug des Johannes in der Wüste, sowie den vom Täufer geäußerten Zweifel an Jesu Messias¬ schaft mit mißbilligenden Stillschweigen übergeht, im höchsten Grade anstößig und widerwärtig erscheinen, zumal da die Vulgata in der Wahl ihrer Aus¬ drücke hier nicht gerade zart verfährt. Überdies mochte dem Sänger die Furcht kommen, daß seine Hörer, denen Lachen und Ehrfurcht schwerlich verträgliche Dinge waren, Sarahs EinWurf mißverstanden — sei es auch nur als Zweifel an der Zuverlässigkeit göttlicher Voraussagung — und sich einen ganz falschen Vers darauf machten. Einer ähnlichen Erwägung zuliebe hat der deutsche Bearbeiter ferner die Fürbitte umgestaltet, die Abraham für die Sodomiter einlegt. Im Alten Testament bittet Abraham den Herrn, sie zu verschonen, wenn er fünfzig, dann, wenn er fünfundvierzig, dann, wenn er vierzig, dann, wenn er dreißig, dann, wenn er zwanzig, und endlich, wenn er zehn Ge¬ rechte darin fände. Dieses Feilschen um die Errettung der Stadt — so darf man das berechnende, bohrende und lauernde „Herunterhandeln" des ver¬ schlagnen Semiten, der seinen Gott sozusagen wie einen gutmütigen Geschäfts¬ freund behandelt, wohl bezeichnen — ist in unsrer Dichtung von der fünf¬ fachen Wiederholung des barmherzigen Kunstgriffs, die die Genesis hat, ans eine zweifache herabgesetzt (von fünfzig über dreißig sofort auf zehn). Man darf hier wohl getrost behaupten, ohne sich einer dentschtümelnden Schön¬ färberei schuldig zu machen, daß dem geraden, allen Winkelzügen abholden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/196>, abgerufen am 25.07.2024.